Transkript des Videos von PD Dr. Georgia Schilling:
Sehr geehrte Damen und Herren,
mein Name ist Georgia Schilling. Ich bin Chefärztin der onkologischen Rehabilitation in Westerland auf Sylt und leitende Oberärztin des Asklepios-Tumorzentrums in Hamburg.
Ich durchstreife regelmäßig die aktuelle Literatur auf der Suche nach Themen, die für uns alle interessant sein könnten. Dabei bin ich auf eine Studie gestoßen, wo ich beim Lesen des Titels dachte, dass das so nicht sein kann: „Langzeiteffekte von Maschinen-Learning-getriggerten Verhaltensanstößen auf die Serious Illness Conversation (SIC) und die End-of-Life-Outcomes bei Tumorpatienten“.
Es handelt sich um eine randomisierte Studie, die von Manz und Kollegen aus Philadelphia im Januar 2023 in JAMA Oncology publiziert wurde [1]. Serious Illness Conversation ist ein neues Schlagwort, übersetzt mit Zukunftsdialog. Da mag man sich darüber streiten, ob das ein passendes Wort ist.
Es geht auf jeden Fall um das Gespräch mit Patienten mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung, um den letzten Lebensabschnitt zu planen. Wir wissen schon aus der Literatur, dass derartige Gespräche zwischen Onkologen und ihren Patienten mit einer Verbesserung der Lebensqualität assoziiert sind, und sie könnten ein aggressives Vorgehen am Lebensende reduzieren.
Aus anderen Studien wissen wir, dass nach wie vor Systemtherapien noch 30 Tage oder kürzer vor dem Tod initiiert und häufig auch bis zum Versterben der Patienten weitergeführt werden, obwohl wir viele Daten haben, die zeigen, dass dies nicht sinnvoll ist.
Auch wenn wir wissen, dass solche Gespräche wichtig sind, kommt es häufig nicht dazu. Ein Grund mag sein, dass wir Onkologen die Prognose der Patienten als besser einschätzen und den Tod der Patienten nicht so vor Augen haben. Vielleicht ist auch die eigene Barriere der Grund, denn dies sind ja keine angenehmen Gespräche.
Ziel dieser Studie aus Philadelphia war es, den Einfluss von Verhaltensanstößen auf onkologisch tätige Ärzte zu testen, und zwar ob diese Ärzte dann derartige Gespräche tatsächlich geführt haben, ob die Rate an solchen Gesprächen erhöht werden konnte, und was dies dann für einen Einfluss auf das Outcome der Patienten hatte. Die Methodik der Studie ist schwer zu erklären und sehr kompliziert. Deswegen möchte ich hier nicht näher darauf eingehen. Es geht im Wesentlichen um das Ergebnis.
Insgesamt wurden über 20.500 Patienten eingeschlossen und es kam zu über 41.000 Begegnungen mit diesen Patienten, als eine große Zahl. Mit Hilfe eines validierten Machine Learning Algorithmus in der elektronischen Patientenakte wurden Patienten identifiziert, die ein hohes Sterberisiko hatten, die also vermutlich innerhalb der nächsten 180 Tage verstarben. Der Algorithmus sagte also die 6-Monate-Mortalität der Patienten vorher.
Das Ganze wurde über 40 Wochen analysiert. Es gab 16 Wochen Interventionsphase und 24 Wochen Follow-up. Die Interventionen waren wöchentliche E-Mails an die Ärzte mit der Aufforderung, an die SICs zu denken.
Die Ärzte bekamen wöchentlich Listen von neuen Patienten, die ein hohes Sterberisiko hatten. Bevor es zum nächsten Patientengespräch kam, hat der Arzt unmittelbar davor nochmal eine Erinnerung bekommen, dass er unverzüglich eine solche SIC zu führen hatte.
Primärer Outcome war die Rate an SICs, sekundäre Outcomes war das End-of-Life-Outcome der Verstorbenen, also Tod im Krankhaus, Einschluss in die Palliativversorgung, Länge des Krankenhausaufenthalts, Verlegung auf eine Intensivstation und Systemtherapie bis kurz vor das Lebensende.
Zu den Ergebnissen :
Das mediane Alter der über 20.500 Patienten lag bei 60 Jahren, 54% waren Frauen und 70,5% waren Weiße. Davon waren 13,5% solche Hochrisiko-Patienten, 6,9% verstarben dann bis zum Ende der Nachbeobachtungszeit. Die Autoren konnten zeigen, dass die SICs in der Interventionsgruppe deutlich zugenommen haben auf 13,5%, in der Kontrollgruppe waren es nur 3,4%. Es gab also fast eine Vervierfachung, das finde ich ein enormes Ergebnis, ich warsehr positiv überrascht.
Außerdem konnte gezeigt werden, dass die Systemtherapien am Lebensendevon 10,4 auf 7,5% abnahmen, also auch hier hat sich was getan. Keinen Einfluss hatten diese elektronischen Stupser auf die Hinzunahme einer Palliativversorgung, die Länge des Krankenhausaufenthalts, die Intensivaufnahmen oder den Tod im Krankenhaus.
Vielleicht ein Weg für die Zukunft
Alles in allem half dieses Machine Learning mit der Vorhersage, dass es jetzt in die letzten Lebensmonate des Patienten geht, und durch die Trigger, aufgrund derer die Ärzte fast viermal häufiger SICs geführt haben. Letztendlich hat dies zu einer Reduktion der End-of-Life-Therapien geführt.
Der fehlende Einfluss auf den Einschluss in der Palliativversorgung hat mich sehr gewundert. Die Autoren haben hierzu diskutiert, dass es vielleicht sinnvoll wäre, hierzu eine extra Nachricht an die Ärzte zu schicken. Schlussfolgerung ist, dass es tatsächlich Verbesserungen in der Versorgung von Krebspatienten gibt, wenn ein solches System angestoßen wird.
Jetzt dürfen Sie sich Ihre eigenen Gedanken machen, was Sie davon halten. Wir müssen Kritik an uns üben, wir führen diese Gespräche zu selten, wir machen zu viele Systemtherapien am Lebensende, ruinieren dadurch die Lebensqualität der Patienten und der Angehörigen. Wir verbessern also im Prinzip nichts durch unser Verhalten.
Vielleicht braucht es solche elektronischen Anstöße, die uns immer wieder vor Augen führen, rechtzeitig an ein solches Gespräch zu denken und zu überdenken, was die Systemtherapie kurz vor dem Lebensende noch bringt. Vielleicht ist das ein Weg in der Zukunft für uns. Überlegen Sie!
Damit danke ich Ihnen herzlich fürs Zuhören.
Tschüss.
Medscape © 2023
Diesen Artikel so zitieren: Ärzte sprechen zu selten mit todkranken Krebspatienten über die letzten Lebensmonate: So kann eine KI ihnen dabei helfen - Medscape - 8. Mai 2023.
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