MEINUNG

Eine Insel der Hoffnung – mit 3 Phasen: Wie Ärzte drogensüchtigen Kindern und Jugendlichen helfen können

Christian Beneker

Interessenkonflikte

4. Januar 2023

Sie kommen aus zerrütteten Familien, aus Jugendhilfeeinrichtungen oder von der Straße – suchtkranke Kinder und Jugendliche, die auf „Teen Spirit Island“ Hilfe suchen. Medscape sprach mit dem Kinder- und Jugendpsychiater Dr. Frank M. Fischer, Oberarzt der Sucht- und Trauma-Therapiestation am Kinder- und Jugendkrankenhaus auf der Bult in Hannover.

Dr. Frank M. Fischer

Medscape: Teen Spirit Island – TSI – ist für eine begrenzte Zeit das Zuhause von drogensüchtigen Kindern. Wie verbringen Sie Weihnachten mit den Kindern?

Fischer: Das hängt von den Diagnosen und den familiären Hintergründen ab. Zum Beispiel können Kinder aus familiären Tätersystemen nicht einfach nach Hause fahren. Auch Kinder, die keine Bleibe haben, weil sie von der Straße kommen, haben an Weihnachten keinen sicheren Ort und bleiben hier in der Klinik. Manche bekommen nur Besuch, manche gehen auch über Nacht in die Herkunftsfamilie, wenn dort keine Gefahr droht.

Für die Kinder, die während der Festtage bei uns auf Station bleiben, haben wir eine schöne Feier mit Geschenken vorbereitet. Es sind immer Mitarbeiter da, die sich sehr viel Mühe geben, um den Kindern und Jugendlichen eine schöne Zeit zu bereiten.

Medscape: Sie haben 18 Behandlungsplätze – wie kommen die Kinder zu Ihnen?

Fischer: Es gibt Jugendliche, die selbst merken, dass sie süchtig sind und ohne Hilfe nicht mehr klarkommen. Sie besuchen unsere Suchtsprechstunde in der Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie und erhalten dort eine erste Beratung. Manchmal melden sich auch die Eltern und berichten: Unser Kind ist süchtig, und wir erreichen es nicht mehr, wir kommen an unser eigenes Kind nicht mehr heran. Manche kommen direkt von der Straße oder werden von Jugendhilfeeinrichtungen geschickt.

Manchmal zeigt sich während der Gespräche, dass die Kinder Suizidimpulse haben oder psychotisch sind. Es kann dann eventuell die Notwendigkeit entstehen, diese Kinder und Jugendlichen aufgrund einer akuten Kindeswohlgefährdung zur Krisenintervention auf die geschützte Akutstation aufzunehmen. Eine solche Aufnahme geschieht oft gegen den Willen des Kindes. Wir versuchen dann auf der geschützten Station, die Betroffenen zu einer freiwilligen Therapie auf TSI zu bewegen.

 
Wir verstehen den Konsum als eine Art Selbstmediation, als Betäubung des Leidensdrucks, der die Kids tatsächlich umtreibt. Dr. Frank M. Fischer
 

Die Sucht geht oft einher mit Komorbiditäten. Wir verstehen den Konsum als eine Art Selbstmediation, als Betäubung des Leidensdrucks, der die Kids tatsächlich umtreibt. Typische komorbide Störungen sind Angststörungen, Depressionen, Traumafolge-Störungen und Bindungsstörungen. Die Biografie der Jugendlichen ist oft von Gewalt und sexuellem Missbrauch geprägt. Die Kinder konsumieren, um besser mit ihren Symptomen klar zu kommen.

Medscape: Welche Drogen nehmen die Kinder vor allem?

Fischer: Alles. Es gibt nichts, was sie nicht nehmen: Cannabis, Alkohol, Ecstasy, Amphetamine, Kokain, Methylphenidat (Ritalin®), Tilidin, Crack, Schmerzmittel, Aufputschendes zur Techno-Party an Wochenenden und Beruhigendes für die Bewältigung des Alltags. Oft im Mischkonsum. Heroin und Crystal Meth sind wieder im Kommen.

 
Immerhin sind die Kids noch jung, und die Sucht ist noch nicht jahrelang chronifiziert. Dr. Frank M. Fischer
 

Immerhin sind die Kids noch jung, und die Sucht ist noch nicht jahrelang chronifiziert. Die Chance liegt darin, an den Ursprung der Sucht zurückzukehren: Wann hat alles begonnen? Was war da los?

Medscape: Welchem Behandlungskonzept folgen Sie?

Fischer: Wir behandeln in 3 Phasen, die als 'Aufstiegsmodell' zu verstehen sind und durch die die Kids hindurchgehen.

In der 1. Phase geht es darum, eine Tagesstruktur zu etablieren. Da gibt es viele Auseinandersetzungen und Kämpfe. Die Kids schließen sich gegen die „bösen“ Erwachsenen zusammen und gehen in den Kampf. Wir beantworten diese Haltung mit unseren Regeln, Gesprächen, und manchmal müssen wir einzelne Kinder auch aus der Gruppe rausnehmen. Ohne klare Linien geht es nicht.

 
Wir behandeln in 3 Phasen, die als „Aufstiegsmodell“ zu verstehen sind. Dr. Frank M. Fischer
 

Zugleich verstehen wir das Verhalten der Kinder als Ergebnis von Angst und Unsicherheit in ihrer Bindungssuche. Sie haben verlernt, Erwachsene und Gleichaltrige als wohlwollend zu verstehen. Sie haben vielmehr erfahren, dass Zuwendung mit Missbrauch und Schlägen endet und man niemandem vertrauen sollte. Es geht in der Therapie darum, dass die Kids hier eine korrigierende Bindungserfahrung machen können.

Dann versuchen wir, auch der Gruppe eine Sprache dafür zu geben, wie jeder einzelne aus dem Gruppendruck beziehungsweise aus dem „Peer pressure“ aussteigen kann, ohne das Gefühl von „Verrat“ aushalten zu müssen. Die Lehre ist: Jeder ist um seiner selbst willen hier.

In der 2. Phase sind die Kids schon gut in eine Struktur eingebunden und wissen, was eine Therapie ist. Dann findet Familientherapie statt oder konfrontative Traumatherapie. Die Kinder gucken hin und sehen, was passiert ist. Dann können wir korrigierende Bindungserfahrungen initiieren. Diese werden in der Gruppe viel greifbarer. Die Kinder kommen ins Arbeiten und müssen nicht mehr gegen die Erwachsenen kämpfen.

 
Die Lehre ist: Jeder ist um seiner selbst willen hier. Dr. Frank M. Fischer
 

In der 3. Phase erhalten die Kinder mehr Freiheiten, können Teen Spirit Island auch zwischendurch verlassen und zur Schule gehen. Sie machen Praktika und einen Schulversuch, um auszuprobieren, ob die in der Therapie gelernten Skills auf die Draußenwelt übertragbar sind. Wir haben Kontakte etwa zu einer Gärtnerei oder zu einem Sterne-Restaurant in Hannover, zu weiteren Schulen und Ausbildungsbetrieben, die dabei helfen, dass die Kinder wieder in die bürgerliche Welt zurückfinden. Jugendliche, die in der Schule nicht so weit gekommen sind, können hier trotzdem ein Ausbildungsangebot erhalten, wenn sie sich bei einem Praktikum bewähren.

Medscape: Klingt, als wäre Ihre Arbeit vor allem etwas für die Kinder und Jugendlichen, die reflektiert und geistig beweglich sind? Was ist mit den anderen?

Fischer: Uns geht es nicht um IQ-Test-Intelligenz. Sondern um die Fähigkeit zur Introspektion, um emotionale Intelligenz. Die betroffenen Kinder haben da erstaunliche Fähigkeiten, weil sie schon so viel Lebenserfahrung mitbringen! Sie muss notreifen und haben viel mehr erlebt als Gleichaltrige.

Es können auch Kinder mit einer Intelligenzminderung zu uns kommen, wenn sie Introspektionsfähigkeit und emotionale Intuition mitbringen. Dann kommen sie bei uns sehr gut zurecht. Wir wollen jedem eine Chance geben, wenn es geht. Die Frage ist immer: Wie hoch ist der Leidensdruck, und wollen die Kinder wirklich raus aus dem Leiden?

Medscape: Wie lange dauert so ein Einstieg in den Ausstieg?

Fischer: Die stationäre Therapie dauert bei uns im Durchschnitt 6 Monate. Es kommt aber manchmal zu Therapieabbrüchen und zu Wiederaufnahmen. Das gehört zum Prozess dazu: Rückfälle und späte Einsichten. Außerdem bieten wir eine Nachsorge nach der Entlassung an.

Medscape: Wie viele Kinder steigen im Laufe des Prozesses aus und warum?

Fischer: Es brechen 10 bis 15% im Laufe der Therapie ab. Allerdings kommen viele von ihnen über unsere Suchtsprechstunde wieder zurück. Manche Kids brauchen eben 3 Anläufe, um zu wissen, was sie wollen.

Die Gründe für den Therapieabbruch sind meistens Autonomiekonflikte, die eine hohe Ambivalenz erzeugen. Viele haben das Gefühl, sie seien zur Therapie „gezwungen“ worden und hätten nicht selbst entschieden. Sie brechen ab und kommen dann wieder mit dem Gefühl, dass es jetzt wirklich ihre eigene Entscheidung ist, die Therapie zu machen und auszusteigen.

Medscape: Was sagt Ihre Evaluation zum weiteren Ergehen der Kinder? Wie viele schaffen wirklich den Ausstieg?

Fischer: Wir haben das durch Studien überprüft. Ein Ergebnis ist, dass 80% der Jugendlichen ein Jahr nach Ende der Therapie einen kontrollierten Umgang mit Genussmitteln haben. Ich bin glücklich, wenn ich sehe, was aus den Kinder wird. Wir sehen das in der Nachsorge-Gruppentherapie, in der die Jugendlichen nach Ende der Therapie für 1 oder 2 Jahre weiterhin Hilfe bei Rückfällen bekommen und sich daran erinnern können, was sie auf TSI gelernt haben.

Medscape: Was halten Sie von der Legalisierung von Cannabis ab 18?

Fischer: Das ist eine schwierige Frage. Ich verstehe das politische Anliegen, den Tetrahydrocannabinol (THC)-Konsum entkriminalisieren zu wollen. Als Arzt muss ich aber darauf hinweisen, dass das Gehirn mit 18 Jahren noch nicht ausgereift ist und Cannabis hier einen klar schädlichen Einfluss auf die Synapsen-Entwicklung hat.

 
80% der Jugendlichen haben ein Jahr nach Ende der Therapie einen kontrollierten Umgang mit Genussmitteln. Dr. Frank M. Fischer
 

Deshalb würde ich sagen: Wenn man die Nebenwirkungen von Cannabis ernst nehmen will, sollte man THC konsequenter Weise ab 25 Jahren legalisieren. Juristisch ist das natürlich schwierig, entspricht aber dem „wahren“ Erwachsenenalter des Gehirns.

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