Täglich 25 Suizide in Deutschland: Wer besonders gefährdet ist und was Ärzte zur Prävention beitragen können

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

3. Januar 2023

Der US-Schauspieler Robin Williams, Gunter Sachs, Kleopatra, Paul Celan und Robert Enke haben eine Gemeinsamkeit: Sie alle haben sich das Leben genommen. Das ist nichts Ungewöhnliches. Weltweit haben 2019 laut WHO mehr als 700.000 Menschen ihrem Leben selbst ein Ende bereitet.

In Deutschland nahmen sich 2020 nach Angaben von PD Dr. Ute Lewitzka von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Dresden, insgesamt 9.206 Menschen das Leben; täglich seien demnach 25 Personen durch Suizid gestorben [1]. Zum Vergleich: Durch einen Verkehrsunfall starben pro Tag 7 Menschen, etwa 4 Menschen drogenbedingt. Am häufigsten Suizid begingen – mit einem Anteil von 75% – Männer.

Besonderes Augenmerk erfahre in der öffentlichen Wahrnehmung die Tatsache, dass der Suizid in der Altersgruppe der 15- bis 25-Jährigen zur zweithäufigsten Todesursache in Deutschland gehöre, berichtet die Vorstandsvorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention (DGS). Laut WHO war 2019 Suizid die vierthäufigste Todesursache bei den 15- bis 29-Jährigen; 58% der Menschen, die Suizid begangen hätten, seien jünger als 50 Jahre alt gewesen.

Besonders häufig sind Suizide bei älteren Menschen. Von den 9.206 Menschen, die sich 2020 in Deutschland das Leben genommen hätten, seien rund 3.500 Personen 65 Jahre alt und älter gewesen, berichten Reinhard Lindner vom Institut für Sozialwesen, Universität Kassel, und seine Kollegen in der Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie .

2000 habe der Anteil der Suizide von mindestens 60 Jahre alten Menschen rund 39% betragen; 2020 habe dieser Anteil dann bei fast 49% gelegen. Aufgrund der demografischen Entwicklung könne für die Zukunft sogar eine weitere Zunahme der absoluten Zahl von Suiziden älterer Menschen erwartet werden.

Prävention trotz Rückgang der Suizide notwendig

Die Zahl der Suizide ist in Deutschland in den vergangenen Jahren zwar zurückgegangen. Dennoch müsste und könnte mehr zur Prävention getan werden, betonen unter anderen Lewitzka und Prof. Dr. Barbara Schneider , Leitung Nationales Suizidpräventionsprogramm (NaSPro) in einer Pressemitteilung.

Dringend notwendig sei etwa die Einrichtung eines bundesweiten Informations-, Beratungs- und Koordinationsstelle, sagt Schneider. Die Psychiaterin von der LVR-Klinik Köln wie auch Lewitzka, die Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) sowie der Deutsche Hospiz- und PalliativVerband (DHPV) fordern daher, die Suizidprävention unabhängig von einer etwaigen Regelung zur Suizidassistenz umfassend gesetzlich zu verankern.

Lewitzka: „Deutschland gehört zu den Ländern, die bisher über keine staatlich geförderte Suizidpräventionsstrategie verfügt, wie sie in vielen anderen Ländern der Welt bereits seit Jahrzehnten eingeführt ist. Voraussetzung dafür wäre die Schaffung eines Suizidpräventionsgesetzes, welches die verschiedenen Maßnahmen – auch als Bestandteil der Gesundheitsfürsorge – gesetzlich verankert.“

Von der Methodenrestriktion …

Suizidprävention ist keineswegs, wie manchmal zu hören ist, „verlorene Liebesmüh“. Suizidprävention ist nicht nur notwendig, sondern auch möglich und sicher mehr als die Therapie mit Antidepressiva. Wie man vorbeugen kann, hat Lewitzka ausführlich in ihrem Beitrag in der Der Nervenarzt dargestellt [1].

Ein zentraler Bestandteil ist danach die Methodenrestriktion. Sie sei eine der wirksamsten Suizidpräventionsmaßnahmen.

Es müsse immer wieder darüber aufgeklärt werden, dass eine Sicherung eines speziellen Zugangs, etwa eine Autobahnbrücke, nicht bzw. nur wenig mit dem Ausweichen auf eine andere Methode einhergehe. „Die Annahme, dass die Betroffenen dann eine andere Methode (z. B. andere Brücke) nutzen würden, ist leider noch immer verbreitet“, kritisiert die Psychiaterin. Tatsache sei vielmehr, dass die Sicherung von so genannten Hotspots nachweislich zu einem echten Rückgang der Suizide führe.

Zu den ebenfalls häufig verwendeten Hotspots außer Brücken gehörten Bahngleise. Eine Studie aus Hongkong habe einen 60%igen Rückgang der Schienen-Suizide gezeigt, nachdem Bahnsteige durch Bahnsteigtüren gesichert worden seien, berichtet Lewitzka. Es sei demnach „unverständlich, dass wir bei dieser beeindruckenden Evidenz in Deutschland immer noch Hotspots haben, deren Sicherung von den Verantwortlichen als nicht umsetzbar angesehen wird. Meist werden Argumente des Denkmalschutzes aufgeführt; aber auch der immer noch verbreitete Mythos, dass man damit den Suizid eines Betroffenen nicht verhindern kann, scheint ein Grund zu sein.“

 
Deutschland gehört zu den Ländern, die bisher über keine staatlich geförderte Suizidpräventionsstrategie verfügt ... PD Dr. Ute Lewitzka
 

Zu den wirksamen Methoden der Suizidprävention zählt auch, den Zugang zu Schusswaffen weiter zu erschweren. Suizide mittels Schusswaffen gehören nach Angaben von Lewitzka zu den führenden Suizid-Methoden in Ländern mit einer liberalen Waffenpolitik. Auch hier zeigten verschiedene Studien, dass die Einführung strengerer Bestimmungen zu einer Reduktion der Suizidrate führe.

Von großer Bedeutung für die Suizidprävention sind darüber hinaus Hausärztinnen und Hausärzte. Im Erwachsenenalter seien sie für die Mehrheit der Menschen die ersten Ansprechpartner, sagt die Dresdener Psychiaterin. Eine vertrauensvolle und tragfähige Beziehung sei ein entscheidender Ansatz, um Suiziden vorzubeugen.

Verschiedene Untersuchungen weisen nach ihren Angaben allerdings darauf hin, „dass die Versorger der Primärversorgung möglicherweise nicht über ausreichende klinische Erfahrung, unzureichende Kenntnisse über psychische Erkrankungen oder begrenzte Kommunikationsfähigkeiten verfügen bzw. die Betroffenen selbst aufgrund negativer Vorerfahrungen nicht über ihre Suizidalität sprechen wollen“. Fördere man das Wissen über das Erkennen und Behandeln von Depressionen bei Hausärzten, könne man damit signifikanten die Suizidrate senken.

… bis zum Beachten des Werther-Effekts

Einen wertvollen Beitrag zur Prävention bei Kindern und Jugendlichen können spezifische Programme leisten. In dieser Altersgruppe seien Suizidgedanken und suizidales Verhalten häufiger als Suizide. Komme es zu einem Suizidversuch im Jugendalter, sei dies ein Prädiktor für einen späteren Suizid. Eine aktuelle Metaanalyse habe gezeigt, dass spezifische Programme zur Suizidprävention Selbstverletzungen und Suizidgedanken verringern könnten. Belegt sei auch der Nutzen psychoedukativer Ansätze in der Schule.

Eine wichtige Rolle in der Suizidprävention haben auch die Medien. „Die Berücksichtigung des Werther-Effektes ist ein fest verankerter Bestandteil der Empfehlungen zur Berichterstattung über Suizide, insbesondere dann, wenn es um Menschen des öffentlichen Interesses geht.“ Viele Studien, die Literatur oder Filme bzw. Berichterstattungen über Suizide Prominenter analysiert hätten, konnte den Effekt laut Lewitzka bestätigen.

Belegt sei auch ein erwünschter, also suizidverhindernder Effekt. Dieser so genannte Papageno-Effekt beschreibe, „dass durch eine Berichterstattung von Menschen, die suizidale Krisen erleben, diese aber bewältigt haben, sowie die Darstellung, welche Hilfen hier wirksam waren, einen Rückgang an Suizidalität erreicht werden kann“.

 
Die Berücksichtigung des Werther-Effektes ist ein fest verankerter Bestandteil der Empfehlungen zur Berichterstattung über Suizide. PD Dr. Ute Lewitzka
 

Zu Prävention beitragen können möglicherweise auch niedrigschwellige Angebote wie Krisentelefone. In Deutschland gebe es verschiedene Akteure der niedrigschwelligen Prävention. Beispiele sind anonyme Angebote wie Telefonseelsorge, Nummer gegen Kummer, das Online-Beratungsangebot U25, Krisendienste, aber auch sozialpsychiatrische Dienste. Allerdings erreichten diese Angebote nicht alle Betroffenen.

Plädoyer für ein würdevolles Leben und nicht nur würdevolles Sterben

In Deutschland steht seit einigen Jahren der assistierte Suizid besonders im Fokus. Es dürfe dabei aber nicht nur „um ein würdevolles Sterben gehen. Sondern auch darum, was endlich für Alte und Kranke getan werden muss, um würdevolles Leben zu ermöglichen“, so die Spiegel-Autorin Susanne Beyer in einem Leitartikel des Nachrichtenmagazins. Notwendig sei unter anderem ein schonungsloser Blick darauf, „wie schlecht es oftmals um die Palliativmedizin bestellt ist, welch katastrophale Zustände in einigen Pflegeeinrichtungen herrschen. Und wie steht es überhaupt um die Fähigkeit von Ärztinnen und Ärzte, mit Schwerstkranken ein Gespräch über Leid und Tod zu führen?“

Alternativen zum religiösen Gespräch über Leid und Tod seien, so Beyer, kaum entwickelt worden. Es gebe zwar jede Menge esoterischen Unsinn, nur sei der nicht zu gebrauchen, wenn es ernst werde. Im Medizinstudium würden Fragen von Ethik und Philosophie zu wenig berücksichtigt.

 
Wie steht es überhaupt um die Fähigkeit von Ärztinnen und Ärzte, mit Schwerstkranken ein Gespräch über Leid und Tod zu führen? Susanne Beyer
 

Vor allem versage das deutsche Pflegesystem. Der Wunsch zu sterben gehe bei sorgsamer Pflege und guter Palliativmedizin zurück. Doch in Deutschland seien Pflegeplätze rar und teuer. Wer einen Platz bekommen habe, müsse sich oft mit einer minimalen Zuwendung zufriedengeben, so Beyer.

Falscher Umgang mit alten Menschen und dem Altern

Deutliche Kritik an den „Zuständen“ in Deutschland übt auch Lewitzka: Die Suizidwünsche alter, oft kranker und/oder einsamer Menschen würden „häufig als bilanzierend und eben medizinisch und menschlich nachvollziehbar betrachtet und damit mit einem therapeutischen Nihilismus versehen, nun nichts mehr tun zu können“. Genau diese Fallkonstellation befeuere die Diskussion um die Möglichkeit der Suizidassistenz mit zahlreichen weiteren Argumenten von Sterbehilfevereinen.

Notwendig sei zum einen, die bestehende Altersdiskriminierung zu mindern und ihr vorzubeugen.

Zum anderen müssten „zukünftig politische Entscheidungsträger dafür sorgen, dass die Versorgung älterer Menschen zu Hause, aber auch in Pflege- und Senioreneinrichtungen mit ausreichend finanziellen, sozialen und personellen Mitteln verankert wird, damit auch in der Realität das Altwerden nicht als Last, sondern als würdevoller Abschluss des letzten Lebensabschnitts wahrgenommen werden kann. Hierzu gehören auch altersspezifische Konzepte gegen Einsamkeit und Isolation“. Leider werde bei alten Menschen noch immer der Einsatz nachgewiesen wirksamer psychotherapeutischer Verfahren kaum empfohlen bzw. auch angenommen, kritisiert die Psychiaterin.

Ein wichtiger Baustein in der Therapie ist darüber hinaus die Pharmakotherapie: Das gelte „trotz aller Grenzen, die wir heute beim Einsatz von Medikamenten in der Behandlung psychischer Störungen erfahren“. Zu den pharmakologischen Optionen zählt etwa Lithium.

Vielversprechend sind laut Lewitzka die Daten für Esketamin. Die meisten Arbeiten beziehen sich ihren Angaben nach allerdings auf die Messung von Suizidgedanken. Der Nachweis, Suizide selbst zu reduzieren, sei bisher nicht überzeugend dargelegt worden.

Fazit der Dresdener Psychiaterin Lewitzka

  • Suizidprävention ist möglich. Besonders effektiv sind die Methodenrestriktion sowie die Früherkennung und leitliniengerechte Therapie psychischer Erkrankung, insbesondere der Depression.

  • Suizidprävention sollte bereits im Kindes- und Jugendalter beginnen und einen ähnlichen Stellenwert wie etwa die Suchtprävention haben.

  • Ein wichtiger Schritt hin zu einer effektiven Prävention „wäre die Schaffung eines Suizidpräventionsgesetzes, welches die verschiedenen Maßnahmen – auch als Bestandteil der Gesundheitsfürsorge – gesetzlich verankert“.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.

 

Kommentar

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