Weniger als die Hälfte der Menschen in den USA, die gemäß den Leitlinien ein Statin erhalten sollten, bekommen es auch tatsächlich von ihrem Arzt verschrieben. Ob und inwieweit sich diese Situation durch gezielte Denkanstöße, die an die Ärzte oder die Patienten gerichtet sind, verbessern lässt, hat ein Team um den Mediziner und Verhaltenswissenschaftler Prof. Dr. Mitesh Patel, Vizepräsident des privaten US-Gesundheitssystems Ascension mit Hauptsitz in St. Louis, Missouri, untersucht.
In JAMA Cardiology stellen Patel und Kollegen ihre cluster-randomisierte Studie mit 4.131 Patienten und 158 Ärzten aus 28 Praxen der Primärversorgung jetzt vor [1]. Demnach führen Anregungen, die entweder nur an die Ärzte oder an die Ärzte und die Patienten gerichtet sind, zu einer vermehrten Verordnung von Statinen. Werden allein die Patienten auf das Thema aufmerksam gemacht, ändert sich an der Zahl der Verschreibungen hingegen nichts.
Maßnahmen in Deutschland so nicht möglich
„Das ist eine sehr, sehr schöne Studie, die zeigt, dass durch geeignete Maßnahmen mehr Patienten, die von einem Statin profitieren würden, dieses auch bekommen“, kommentiert Prof. Dr. Andreas Zeiher, außerordentlicher Professor für Kardiologie am Institute of Cardiovascular Regeneration der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Past-Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie (DGK), im Gespräch mit Medscape.
„Auch hierzulande nehmen nur rund ein Drittel der Patienten mit einer Indikation für Statine diese Cholesterinsenker, die das Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse deutlich reduzieren, auch tatsächlich ein“, sagt Zeiher. Das habe 2 Gründe: „Entweder lehnen die Patienten die Einnahme der Medikamente ab oder die Hausärzte haben das Thema schlicht nicht auf dem Schirm.“
Leider würden sich die in der Studie untersuchten Maßnahmen nicht ohne Weiteres auf deutsche Verhältnisse übertragen lassen, vor allem da die dafür erforderliche elektronische Gesundheitsakte in Deutschland nach wie vor nicht verbindlich und flächendeckend eingeführt worden sei, bedauert Zeiher.
Ärzte wurden über Indikation informiert
Patel und sein Team hatten die Patienten ihrer Studie, die ein Durchschnittsalter von 65,5 Jahren aufwiesen und zu etwas mehr als der Hälfte (51,3%) männlichen Geschlechts waren, randomisiert in 4 Gruppen eingeteilt. In der ersten Gruppe erhielten nur die Ärzte einen Denkanstoß, in der Studie „Nudge“ genannt.
Öffneten die Mediziner die Akte des jeweiligen Patienten, erhielten sie zum einen den Hinweis, dass nach den aktuellen Leitlinien der US Preventive Services Task Force (USPSTF) eine Indikation für die Einnahme eines Statins vorliegt. Auch die optimale Intensität der Therapie – hoch, moderat oder niedrig – wurde genannt.
Zum anderen wurden die Ärzte in der Akte aktiv dazu aufgefordert, eines der in Frage kommenden Statine auszuwählen und zu bestellen. Darüber hinaus bekamen die an der Studie teilnehmenden Mediziner regelmäßige Rückmeldungen über ihr Verschreibungsverhalten und Informationen darüber, wie gut oder schlecht sie damit im Vergleich zu anderen Kollegen dastanden.
Patienten wurden per SMS auf das Thema aufmerksam gemacht
In der zweiten Studiengruppe bekamen nur die Patienten einen „Anstupser“. Dieser bestand in einer Reihe von SMS-Nachrichten, die die Probanden 4 Tage vor ihrem Arztbesuch erhielten. Jeder Proband erhielt den Hinweis, dass er gemäß den USPSTF-Leitlinien ein Statin erhalten sollte, um insbesondere sein Infarktrisiko zu verringern. Ihm wurde empfohlen, das Thema bei seinem Arzt anzusprechen, und auf Wunsch erhielt er weitere Informationen. Eine Viertelstunde vor dem Termin wurde der Patient noch einmal per SMS daran erinnert, seinen Arzt nach einem Statin zu fragen.
In der dritten Gruppe erhielten sowohl die Ärzte als auch die Patienten die beschriebenen Denkanstöße. In der vierten Gruppe erfolgte keine der genannten Interventionen. 933 (22,6%) aller Probanden litten bereits an einer atherosklerotischen Herz-Kreislauf-Erkrankung, erhielten aber dennoch – so wie alle anderen Teilnehmer – zu Studienbeginn noch kein Statin. Das Design der Studie umfasste einen 12-monatigen Zeitraum vor der Intervention und einen 6-monatigen Interventionszeitraum zwischen dem 19. Oktober 2019 und dem 18. April 2021. Primäres Ergebnis war die erstmalige Verschreibung eines Statins.
Besten Ergebnisse durch Anregungen der Ärzte und Patienten
Wie das Team um Patel berichtet, erhielten vor der Intervention 6,0% (104 von 1.723) der Patienten in der Gruppe mit Anregung der Ärzte erstmalig ein Statin. In der Gruppe mit Anregung der Patienten wurde es 4,8% (97 von 2022) und in der kombinierten Gruppe 4,7% (82 von 1752) erstmals verordnet. In der Gruppe mit der üblichen Versorgung waren es 5,6% (105 von 1876).
Während der Intervention erhielten das Medikament neu 13,0% (128 von 981) der Patienten in der Ärzte-Nudge-Gruppe, 8,5% (100 von 1181) in der Patienten-Nudge-Gruppe und 15,5% (145 von 937) in der kombinierten Gruppe. In der Vergleichsgruppe waren es 7,3% (75 von 1032).
Unter Berücksichtigung der wichtigsten Störfaktoren berechneten Patel und seine Kollegen, dass die Anregung durch den Arzt allein im Vergleich zur üblichen Versorgung zu einer signifikanten Erhöhung der Statinverschreibung um 5,5% führte. In Kombination mit der Anregung der Patienten waren es 7,2%.
Der Patientenanreiz allein änderte die Verschreibung von Statinen im Vergleich zur üblichen Versorgung nur um 0,95%. Diese Steigerung galt als nicht signifikant. „Auf elektronischen Gesundheitsdaten basierende Anreize können ein wirksamer und skalierbarer Ansatz sein, um das Verschreibungsverhalten zu ändern“, schreibt das Team um Patel in seinem Fazit.
Die größten Zugewinne gab es bei den Patienten mit Gefäßleiden
„Die absoluten Zahlen der Patienten, die von Statinen profitieren und sie in der Studie dann auch tatsächlich verschrieben bekommen haben, sind natürlich immer noch traurig“, kommentiert der deutsche Kardiologe Zeiher. „Zumal die Verordnung allein ja noch nicht bedeutet, dass die Patienten das Medikament auch wirklich abholen und regelmäßig einnehmen.“
Allerdings handele es sich bei der untersuchten Kohorte womöglich auch um eine besonders beratungsresistente Patientengruppe, gibt Zeiher zu bedenken. 98% der angeschriebenen Patienten seien zuvor regelmäßig in der Praxis gewesen. „Es ist somit relativ wahrscheinlich, dass sie von ihrem Arzt schon einmal auf Statine angesprochen wurden, diese aber – aus welchen Gründen auch immer – nicht einnehmen wollen“, sagt Zeiher.
Somit seien auch schon bescheidene Zugewinne wie die in der Studie erzielten etwas wert. Zudem habe die Arbeit erfreulicherweise gezeigt, dass die Zugewinne bei den Patienten mit bereits vorhandenen atherosklerotischen Erkrankungen, also bei jenen mit dem höchsten Risiko für schwere kardiovaskuläre Ereignisse, am größten gewesen seien.
App der DKG soll Ärzten helfen, leitlinienkonform zu entscheiden
„Ich glaube tatsächlich, dass solche Nudges, wie sie in der Studie angewendet wurden, vor allem die Ärzte auf ihr Fehlverhalten hinweisen und bessere Erfolge als jede Fortbildungsveranstaltung erzielen können“, sagt Zeiher. Zwar seien vergleichbare Maßnahmen hierzulande wie schon erwähnt nicht machbar. Allerdings habe die DGK für Ärzte eine App entwickelt, die dabei helfen solle, bei der klinischen Arbeit Entscheidungen zu treffen, die auf den Leitlinien basieren, berichtet Zeiher. „Und an diese evidenzbasierten Empfehlungen sollte sich eigentlich jeder Mediziner in seiner Arbeit mit den Patienten halten.“
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Credits:
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Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Gezielte Denkanstöße führen dazu, dass Ärzte ihren Risiko-Patienten häufiger Statine verschreiben - Medscape - 29. Dez 2022.
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