Neuer Score prognostiziert das Demenz-Risiko über bis zu 13 Jahre hinweg – doch welchen Nutzen zeigt er wirklich? 

Megan Brooks

Interessenkonflikte

30. Dezember 2022

Forschende haben einen punktebasierten Score entwickelt, mit dem sich das individuelle Demenzrisiko über 13 Jahre hinweg vorhersagen lässt. Damit wird es möglich, frühzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um das Eintreten kognitiver Beeinträchtigungen zu verzögern oder zu verhindern, sobald es geeignete Interventionen gibt [1]

Der Risikoscore erfordere keine bildgebenden Verfahren und „erreicht eine Vorhersagegenauigkeit von annähernd 100%“, so der Studienleiter Dr. Xi-jian Dai vom Second Affiliated Hospital der Nanchang University in China gegenüber Medscape. Manche Experten sind jedoch skeptisch. 

Daten von 445.000 Personen ausgewertet

Die Forscher entwickelten ihr neues Risikomodell zur Demenz anhand von Daten aus der britischen UK Biobank mit knapp 445.000 Männern und Frauen (Durchschnittsalter 56 Jahre), die zu Beginn der Studie keine kognitiven Beeinträchtigungen hatten. Während der 13-jährigen Nachbeobachtungszeit entwickelten 0,7% der Männer und 0,5% der Frauen eine Demenz.

Es überrascht nicht, dass ein höheres Alter eng mit einem höheren Demenzrisiko verbunden war. Weitere Risikofaktoren für eine Demenzentwicklung waren ein niedriger sozioökonomischer Status, Schlafstörungen, Erkrankungen der Atemwege oder der Hirngefäße, Diabetes, Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Männer und Frauen hatten manche modifizierbaren Demenzrisiken und auch protektive Faktoren gemeinsam. Aber es gab auch einige unabhängige Risikofaktoren, die bei rund 32% der Männer und 53% der Frauen, die eine Demenz entwickelten, zum Tragen kamen, so die Forschenden.

Hohe Genauigkeit des Risiko-Modells

Die Punktwerte im Risikomodell reichten von -18 bis 30 für Männer und -17 bis 30 für Frauen.

Zum Beispiel käme ein 70-jähriger Mann (10 Punkte) mit Untergewicht (3 Punkte), mit niedrigem Bildungsniveau (1 Punkt), mit Diabetes in der Anamnese (1 Punkt) und mit zerebrovaskulären Erkrankungen (5 Punkte) auf einen Risikowert von insgesamt 20 Punkten. Das entsprechende Demenzrisiko beträgt damit nach 5 Jahren 9%, nach 9 Jahren 31% und nach 13 Jahren 54%.

Die Cox-Regression (proportionales Hazard-Modell) zur Vorhersage des 5-, 9- und 13-Jahres-Demenzrisikos hatte in der C-Statistik einen Wert von 0,86 für Männer und 0,85 für Frauen in der Trainingsgruppe und 0,85 für Männer und 0,87 für Frauen in der Testgruppe.

Der Risikoscore hatte eine Vorhersagegenauigkeit für das 9-Jahres-Demenzrisiko von 97,59% bei Männern und 99,59% bei Frauen sowie von nahezu 100% für das 13-Jahres-Demenzrisiko sowohl bei Männern als auch bei Frauen.

Schwächen des Demenz-Scores

Die Autoren wiesen jedoch darauf hin, dass ihre Ergebnisse nicht extern mit anderen unabhängigen Kohorten validiert worden seien. Zudem sei die Altersspanne der Personen in der UK Biobank begrenzt, und einige Messungen basierten auf einer subjektiven Einzeleinschätzung, was zu Fehlklassifizierungen führen könnte.

Zu den weiteren Einschränkungen gehört, dass alle Teilnehmenden im Krankenhaus waren, was einen Selektionsbias bedeuten könnte, und dass einige potenziell wichtige Prädiktoren, wie etwa die Ernährung, keine Berücksichtigung fanden.

Trotz dieser Einschränkungen könne dieses Risiko-Tool „dabei helfen, das potenzielle individuelle Risikoprofil zu erkennen und den Weg für frühzeitige und zielgerichtete Maßnahmen zu ebnen, um eine Demenz zu verhindern oder zu verzögen“, heißt es im Artikel. 

Demenz-Experten sind skeptisch

„Die Behauptung, dass das Risikoscore-Modell eine nahezu 100-prozentige Vorhersagegenauigkeit für das 13-Jahres-Demenzrisiko bietet, ist äußerst irreführend“, sagte Dr. David Curtis vom Genetics Institute des University College London. „Der Score sagt nicht genau voraus, ob eine Person in 13 Jahren an Demenz erkrankt oder nicht, sondern er gibt die Wahrscheinlichkeit an, dass jemand an Demenz erkrankt.“

Curtis: „Das ist in etwa so, als würde ich beim Münzwurf behaupten, dass ich die Wahrscheinlichkeit für „Kopf“ mit 100%iger Genauigkeit vorhersagen kann; sie liegt bekanntlich bei 0,5. Der Wert ist ein schlechter Prädiktor dafür, ob jemand an Demenz erkrankt oder nicht, er sagt lediglich die Wahrscheinlichkeit voraus, an Demenz zu erkranken.“

Der Experte wies weiter darauf hin, dass die Forschungsergebnisse weitgehend „bereits bekannte Risikofaktoren wie Alter, niedriges Bildungsniveau und Gefäßerkrankungen mit einer Reihe von Merkmalen zusammenfassen, die darauf hindeuten können, dass die betreffende Person bereits eine Demenz im Frühstadium hat, diese aber noch nicht offiziell diagnostiziert wurde“.

Dr. Tom Russ, Direktor des Alzheimer Scotland Dementia Research Centre in Edinburgh, schloss sich den Worten von Curtis an und wies darauf hin, dass diese Risikofaktoren bereits in dem Artikel der Lancet-Kommission aus dem Jahr 2020 „sehr detailliert“ hervorgehoben wurden, wie auch Medscape berichtet hatte. Wichtig sei, so Russ, dass der Bericht der Kommission „die verschiedenen Punkte im Laufe des Lebens hervorhebt, an denen bestimmte Risikofaktoren am wichtigsten sein könnten.“

Dr. Ivan Koychev, leitender klinischer Forscher an der britischen Universität in Oxford, blickt etwas optimistischer auf diese Arbeit. Das Risikomodell zur Demenz verfüge mit einem Zeithorizont von 5 bis 13 Jahren über eine „solide Methodik und bietet zudem den Vorteil, auf einem der größten aktuell verfügbaren Datensätze zu basieren“, sagt er. 

„Derartige Modelle sind also gut geeignet, um in der klinischen Praxis Screening-Verfahren zur Demenz, wie etwa Bluttests, zu ergänzen. Das Kosten-Nutzen-Verhältnis solcher Demenz-Screening-Programme müsste jedoch erst noch ermittelt werden“, so Koychev.

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

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