Wenn ein Finger zittert und ein anderer sich verkrampft, dann sind viele Musikerinnen und Musiker oft auch psychisch schwer getroffen. Denn die in Jahrzehnten eingeübten feinmotorischen Bewegungen funktionieren nicht mehr einwandfrei. Was kann ein Gitarrist tun, wenn seine Finger ihm nicht mehr gehorchen?

Prof. Dr. André Lee
Medscape sprach mit dem Neurologen und engagierten Hobby-Musiker Prof. Dr. André Lee vom Institut für Musikphysiologie und Musikermedizin (IMMM) an der Hochschule für Musik, Theater und Medien in Hannover.
Medscape: Herr Professor Lee, was genau ist Musikermedizin?
Lee: Musikermedizin befasst sich mit Beschwerden, die durch das Musizieren entstehen. Die passendste Analogie zur Musikermedizin ist die Sportmedizin, die sich mit Krankheiten befasst, die durch den Sport entstanden sind. Was das Musizieren aber so besonders macht, ist der Umstand, dass Musiker oft bereits vor dem 10. Lebensjahr mit dem Instrumentalspiel begonnen haben und häufig nicht viel anderes getan haben, als Kraft, Zeit und Nerven in das Musizieren zu investieren. Da ist eine besondere emotionale Bindung zum Instrument entstanden.
Medscape: Aber was ist so ungesund an der Musik?
Lee: Die immer wiederkehrenden, teilweise gleichförmigen Bewegungen eines Streichers zum Beispiel. Die häufigsten Beschwerden sind chronische Schmerzen. Hier arbeiten wir mit Anästhesisten, Neurologen und Psychosomatikern zusammen, weil chronifizierte Schmerzen einem Schmerzgedächtnis entspringen. Zwar muss der schmerzende Arm eines Violinisten nicht psychosomatischen Ursprungs sein. Aber wenn Schmerzen auftreten und nicht mehr vergehen, so ist dies für die Musiker auch mit Ängsten und Unsicherheiten verbunden – und die sollte man mitbehandeln.
Ein häufig auftretendes Phänomen ist auch der Verlust der Feinmotorik des Musikers am Instrument. Es handelt sich hier um das neurologische Beschwerdebild der fokalen Dystonie, zu dem auch das Aufgaben-spezifische Zittern gehört.
Medscape: Woher kommt das Zittern?
Lee: Das Zittern allgemein ist eines der häufigsten Beschwerdebilder in der Neurologie. dessen Ursprung bzw. Entstehung aber immer noch nicht vollständig verstanden ist. Wir gehen bei dem Aufgaben-spezifischen Zittern davon aus, dass es sich um eine Unterform der Dystonie handelt, also um den Verlust der feinmotorischen Kontrolle am Instrument, weil der betreffende Muskel zu stark angesteuert wird. Bei den betroffenen Pianisten ist oft der 4. oder der 5. Finger der rechten Hand von der Dystonie betroffen.
Im Gegensatz zum Aufgaben-spezifischen Zittern beugen sich bei der Dystonie die betroffenen Finger unwillkürlich, rollen sich ein und verkrampfen. Die Dystonie kann sich also in Verspannungen und Zittern äußern. Wichtig zu wissen ist, dass diese Beschwerden nur am Instrument auftreten – und zwar situationsunabhängig. Das Zittern hat also nichts mit der Aufregung vor einem Konzert oder allgemeinem Lampenfieber zu tun. Aufregung ist kein Risikofaktor.
Medscape: Es ist ja von besonderer Gemeinheit, dass ausschließlich diejenigen Bewegungen am Instrument so störanfällig sind, deren Ausführung die Musiker so viel Zeit und Mühe gekostet haben. Welche Risikofaktoren gibt es?
Lee: Durch Befragungen wissen wir, dass verschiedene Risikofaktoren auf der psychischen und somatischen Seite zusammenspielen. Zur somatischen Seite gehört das Üben selbst. 80% der Betroffenen kommen aus der klassischen Musik. Jenes Zittern und Verkrampfen gibt es ist anderen Musikrichtungen viel seltener. Allerdings kann man nicht sagen: Wenn der Pianist oder Streicher weniger geübt hätte, wäre das nicht passiert. Denn auch Laien, die nur 1 oder 2 Stunden am Tag üben, können betroffen sein.
In der Klassik herrschen außerdem besondere Anforderungen und eine besondere Fehlerkultur. So weiß jeder im Publikum, wie der 3. Takt im Brahms-Violinkonzert oder eine Mendelssohn-Sonate klingen muss. Das bedeutet für den Musiker natürlich einen besonderen Druck.
Ein weiterer Risikofaktor ist die Verletzung einer Extremität. Und wie bei fast allen Erkrankungen spielt auch die Genetik eine Rolle: Bis zu 30% der Betroffenen berichtet von nahen Angehörigen, die unter einer Bewegungsstörung leiden.
Auf der psychischen Seite spielen wahrscheinlich auch Angst und Perfektionismus eine Rolle. Was übrigens immer noch seltsam und unerklärt ist: 80% der Betroffenen sind Männer.
Medscape: Welche Instrumentalisten sind am häufigsten betroffen?
Lee: Am häufigsten die Gitarristen, gefolgt von den Pianisten und den Streichern.
Medscape: Warum ausgerechnet die Gitarristen?
Lee: Wahrscheinlich, weil die rechte und die linke Hand auf ganz unterschiedliche Weise an der Klangerzeugung beteiligt sind. Jeder einzelne Ton muss in zeitlich-räumlicher Präzision zwischen rechter und linker Hand koordiniert werden. Hinzu tritt als wesentliches Phänomen die Gestaltung, die musikalisch Sinn ergeben muss – eine sehr komplexe Angelegenheit.
Medscape: Wie ist es mit Sängerinnen und Sängern?
Lee: Sie sind erstaunlich selten betroffen von einer sogenannten spasmodischen Dysphonie, also einer Dystonie der Stimmbänder und -muskeln. Ich selbst habe noch keinen Sänger mit dieser Störung kennengelernt. Häufiger sind Stimmbandknötchen oder andere Überlastungsverletzungen. Die Stimme ist offenbar relativ robust gegen neurologische Erkrankungen.
Medscape: Welche Rolle spielt Lampenfieber?
Medscape: Der enorme Druck und die schönen Künste scheinen etwa beim Vorspiel für einen Orchesterplatz nicht zusammenzupassen …
Lee: Das stimmt. Dieser Druck ist übrigens bei den Flötisten am größten. Da bewerben sich mehr als 100 Leute auf eine Stelle. Und bei jedem Vorspiel treffen sie sich wieder. Das erhöht natürlich den Druck. Trotzdem musizieren die allermeisten Musiker gerne, und sie sind hoch zufrieden mit ihrem Beruf. Musizieren ist also per se nicht gesundheitsgefährdend.
Medscape: Wie sieht in der Musikermedizin die Therapie der Dystonie aus?
Lee: Es gibt 3 Standardtherapien. Weil die fokale Dystonie eine Netzwerkerkrankung des Gehirns ist, bei der viele einzelne kleine Hirnregionen und deren Kommunikation untereinander betroffen sind, ist sie aber schwer zu therapieren.
Vielen Musikern raten wir zu Re-Training am Instrument, also noch einmal technisch bei null anzufangen. Da professionelle Musiker genau wissen, wo sie musikalisch hinwollen, ist dieser Prozess zwar langwierig, aber nicht so, wie zu der Zeit, in der sie das Instrument erlernt haben.
Außerdem lehren wir den Umgang mit der Krankheit, indem wir zum Beispiel dazu raten, das Repertoire anzupassen oder die Fingersätze zu ändern.
Schließlich bieten wir noch medikamentöse Therapien an: zum Beispiel Trihexyphenidyl, was zu einer verbesserten Ansteuerung führen kann. Außerdem gibt es die Möglichkeit der Injektion von Botulinumtoxin in die betroffenen Muskeln, was den zu stark angesteuerten Muskel für 3 Monate entspannen kann und so zu einem normaleren Spielgefühl beitragen kann.
Medscape: Wie hoch ist die Erfolgsquote?
Lee: Bei der Dystonie haben wir 800 Musiker befragt, etwas mehr als 50% haben geantwortet. Von ihnen schafften es 70% aktiv am Instrument zu bleiben.
Medscape: Üben, vorspielen, auftreten und wieder üben und üben – warum tun sich Musiker das an?
Lee: Ich glaube, es ist die emotionale Belohnung, das Erlebnis der Selbstwirksamkeit. Die Freude darüber, dass ich auf einem Instrument das ausdrücken kann, was ich ausdrücken will.
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Credits:
Photographer: © Trak
LEad image: Dreamstime.com
Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Biegen, Zittern, Verkrampfen: So werden typische Krankheiten von Pianisten, Gitarristen oder Streichern behandeln - Medscape - 28. Dez 2022.
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