„Nur 1 Drittel der Deutschen schläft begnadet“, konstatiert Prof. Dr. Ingo Fietze, Leiter des Interdisziplinären Schlafmedizinischen Zentrums, Charité – Universitätsmedizin Berlin. Viel zu tun also für Schlafmediziner. Doch ohne Unterstützung der Hausärzte geht es nicht. Allerdings fremdeln die oft mit dem Thema Schlafstörung. Warum das so ist, welche Möglichkeiten es gibt, Patienten zu helfen, und welchen Beitrag eine neue Klasse von Schlafmitteln dazu leisten könnte, darüber sprach Medscape mit Fietze. Er ist Somnologe und Facharzt für Innere Medizin bzw. für Pulmologie.
Medscape: Coronakrise, Ukraine-Krieg, Energiekrise, Inflation und Klimawandel – in den letzten Jahren kam einiges zusammen, was Menschen den Schlaf rauben kann. Beobachten Sie, dass die Zahl von Patienten mit Schlafstörungen merklich zugenommen hat?
Prof. Fietze: Unser Telefon klingelt ohnehin den ganzen Tag und unsere Warteliste ist lang. Was aber zugenommen hat, sind die E-Mail-Anfragen aus der ganzen Republik.
Medscape: Warum ist der Andrang bei Ihnen so groß? Wie häufig sind Schlafstörungen? Prof. Fietze: Es gibt keine verbreitetere medizinische Erkrankung als eine Schlafstörung. Die häufigsten Schlafstörungen sind Insomnien auf der einen und Schnarchen bzw. Atemstörungen auf der anderen Seite. 10% aller Erwachsenen haben eine schwere, behandlungsbedürftige Insomnie. Rund 17% haben eine behandlungsbedürftige Schlafapnoe.

Prof. Dr. Ingo Fietze
©Anke Illing
Wir haben in Deutschland aber eine gravierende Unterversorgung in der Schlafmedizin. Und das Problem der Hausärzte ist: Sie wissen nicht viel über Schlaf. Das hat damit zu tun, dass Schlafmedizin an deutschen Universitäten vermittelt wurde. Erst seit etwa 5 Jahren wird die an einzelnen Universitäten gelehrt. Hinzu kommt: Auf dem Gebiet des Schlafes gab es rund 30 Jahre lang keine ärztliche Fort- und Weiterbildung. Da wir aber so wenige Schlafmediziner und Schlafpraxen haben, sollte müsste auch der Hausarzt eigentlich Menschen mit Schlafstörungen behandeln.
Medscape: Was sind die häufigsten Ursachen von chronischen Schlafstörungen?
Prof. Fietze: Die Ursachen liegen letztlich immer in den Genen, wobei wir diese noch nicht für jede Form von Schlafstörungen kennen. Die Ursache einer Insomnie ist in der Folge ein Defekt im Schlaf-Wach-System. Da macht ein Wachhormon zu wenig oder ein Schlafhormon zu viel. Die Ursache einer Schlafapnoe ist ebenfalls auf eine Veranlagung und auf einen konkreten Defekt zurückzuführen: Die Nerven, die die Muskeln im Rachen ansteuern, funktionieren im Schlaf nicht mehr richtig.
Medscape: Melatonin wird in letzter Zeit stark beworben. Patienten können es rezeptfrei in der Apotheke bekommen. Was halten sie von diesen Präparaten zur Selbstmedikation?
Prof. Fietze: Größtenteils Nonsens. Aber Chapeau vor dem Businessmodell: Wenn es zu wenig schlafmedizinische Versorgung in Deutschland gibt, aber viele Menschen unter Schlafproblemen leiden, bewirbt man ein Hilfe-versprechendes Produkt. Melatonin hilft aber nur bei einem Melatoninmangel. Den haben eher nur Ältere und Menschen mit einer Schlaf-Wach-Rhythmusstörung.
Medscape: Was ist mit den erstattungsfähigen Melatonin-Präparaten? Wann sollten sie zum Einsatz kommen?
Prof. Fietze: Diese Präparate sind zugelassen für Menschen über 55. Bei älteren Patienten macht es Sinn, Melatonin für 2 bis 4 Wochen auszuprobieren, weil es mit zunehmendem Alter weniger produziert wird. Einen Mangel könnte man auch labordiagnostisch nachweisen, aber das ist zu aufwendig.
Medscape: In diesem Jahr hat die EMA eine Zulassungsempfehlung für den Orexin-Rezeptorantagonisten Daridorexant ausgesprochen (siehe Kasten). Seit November ist das Medikament auf dem deutschen Markt erhältlich. Sie haben selbst an der Zulassungsstudie mitgewirkt. Ist es ein Durchbruch bei der Therapie von Insomnie? Für welche Patienten ist es geeignet?
Prof. Fietze: Ein Durchbruch wäre, wenn wir genug Schlafmediziner bzw. schlafmedizinisch tätige Ärzte hätten. Das Medikament bietet aber in der Tat eine Chance, da die herkömmlichen Schlafmittel bis heute einen schlechten Ruf haben. Orexin-Rezeptorantagonisten beruhen auf einem ganz anderen Wirkmechanismus als die bekannten Benzodiazepine und Z-Substanzen. Deswegen hat Daridorexant eine Chance, auch von Neurologen und Psychiatern, wo ja viele Insomniker hingehen, als Schlafmittel anerkannt zu werden. Und das ist auch eine Chance für die vielen Betroffenen, die bisher vornehmlich nur mit Psychopharmaka behandelt werden.
Bei Benzodiazepinen ist übrigens auch die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Wirkung mit der Zeit nachlässt. Bei den Benzodiazepin-Agonisten (Z-Präparaten) ist sie geringer. Wenn die Wirkung nachlässt, muss man sie absetzten. Im häuslichen Bereich, auch wegen des Mangels an ärztlicher Begleitung der Therapie, sind die Patienten auf Grund des Leidensdruckes oft geneigt einfach die Dosis selbst zu erhöhen. Das führt zu gefährlichen Abhängigkeiten. Orexin-Rezeptorantagonisten bleiben länger wirksam als Benzodiazepine. Und sie haben wie die Z-Präparate kaum Nebenwirkungen.
So wirken die Orexin-Rezeptorantagonisten
Eine neue Medikamentenklasse bei Schlafstörungen, die Orexin-Rezeptorantagonisten, regulieren die Überaktivität des Wachheitssystems. Sie haben eine schlaffördernde und dämpfende Wirkung. Ihr Wirkmechanismus unterscheidet sich von dem der Benzodiazepine und Z-Präparate, die als Agonisten des GABA-A-Rezeptors wirken. Orexin-Rezeptorantagonisten verhindern dagegen, dass die Neuropeptide Orexin A und Orexin B an ihre Rezeptoren binden. Diese Neurotransmitter werden ausschließlich von Nervenzellen im Hypothalamus gebildet und sind an der Förderung und Aufrechterhaltung der Wachheit beteiligt.
Häufigste Nebenwirkungen in den Zulassungsstudien waren Kopfschmerzen und Somnolenz. Es sind jedoch auch schwere unerwünschte Wirkungen möglich. Dazu gehören eine Beeinträchtigung der Koordination, die Verschlechterung einer Depression und Suizid-Gedanken, kurze Paralysen oder Halluzinationen während der Einschlaf- und Aufwachphase sowie Schlafwandeln. Gleichzeitig lieferten Studien keine Hinweise für einen Missbrauch oder Entzugserscheinungen als Indiz für eine körperliche Abhängigkeit nach Absetzen des Medikaments.
In Deutschland ist von den Orexin-Rezeptorantagonisten bisher nur Daridorexant (Quviviq™, Idorsia Pharmaceuticals) zugelassen. Es kann bei Erwachsenen mit Insomnie eingesetzt werden, deren Symptome seit mindestens 3 Monaten anhalten und sich erheblich auf die Tagesaktivität auswirken. Die empfohlene Dosis ist einmal täglich 50 mg 30 Minuten vor dem Schlafengehen.
Zu den bisherigen Schlafmitteln gibt es mit Ausnahme des Eszopiclons zudem keine Langzeitstudien. Für die Orexin-Rezeptorantagonisten gibt es Studien über 12 Monate. Auch nach dem Absetzen zeigen sich keine negativen Effekte bei den Patienten. Und diejenigen Patienten, die sich seit Jahren rumquälen mit Medikamenten, die ihnen nicht mehr helfen, haben jetzt eine Mega-Chance, dass sie vielleicht auf dieses neue Medikament reagieren.
Ob wir in Zukunft zunächst die herkömmlichen Schlafmittel zuerst einsetzten und erst, wenn die nicht mehr helfen, die neuen verschreiben, oder wir eher Daridorexant als die Therapie der ersten Wahl einsetzten werden, muss die Praxis zeigen.
Medscape: Medizinische Apps gibt es immer mehr, inzwischen gibt es auch welche gegen Schlafprobleme. Einige können verschrieben werden; teilweise übernehmen die Kassen die Kosten. Was halten sie von solchen Apps und wem würden Sie diese gegebenenfalls empfehlen?
Prof. Fietze: Sie sind einen Versuch wert bei Menschen, die noch keine chronische Insomnie haben, aber das Gefühl, dass ihr Schlaf schlechter wird. Je eher sie eingesetzt werden, desto effektiver wirken sie wahrscheinlich. Ob man damit tatsächlich verhindern kann, dass eine Schlafstörung sich manifestiert, chronisch wird, dazu gibt es keine Studien. Mit Apps kann man aber keine Insomnie heilen. Man kann damit höchstens die insomnischen Symptome bessern. Genau den gleichen Effekt können auch 4 Wochen Urlaub haben. Am wichtigsten ist es aus meiner Sicht, dass sich Patienten zunächst über den gesunden und gestörten Schlaf informieren. Ob über eine App oder Bücher oder ein Seminar etc. spielt dabei keine Rolle.
Medscape: Wo sehen sie die Aufgabe der Hausärzte in der Therapie von Schlafstörungen?
Wir Schlafmediziner warten auf die Mitarbeit der Hausärzte. Sie möchten bitte jede Möglichkeit der Weiterbildung zum Thema Insomnie nutzen. Mit der neuen Medikamentengruppe gibt es hoffentlich bald mehr Fortbildungsangebote.
Ein Hausarzt wird aber vermutlich nicht selbst eine „schwere behandlungsbedürftige Insomnie“ diagnostizieren. Die korrekte Diagnosestellung ist aber notwendig, damit die Kollegen die schlaffördernden Medikamente ohne Angst vor Regressen länger als 4 Wochen verschreiben können.
Bisher stellen Hausärzte Folgerezepte noch oft als Privatrezept aus. Aus meiner Sicht ist es ein Unding, dass Insomniker die einzigen chronisch kranken Patienten sind, die ihre Medikamente selber zahlen müssen. Deshalb sollten Hausärzte Patienten mit dem Verdacht auf eine schwere Insomnie zum Schlafmediziner überweisen, der dann die Diagnose bestätigen kann.
Medscape: Gibt es Patienten, bei denen auch Sie als Schlafmediziner nicht viel ausrichten können?
Dem überwiegenden Teil der Patienten können wir helfen. Aber das Problem ist: Der Psychiater hat „100“ Antidepressiva, der Kardiologe hat „100“ Antihypertensiva. Wir haben nur 4 Schlafmittel. Wenn wir gar nicht weiterkommen kombinieren wir deshalb 2 oder 3 schlaffördernde Medikamente. Wenn jedoch selbst das nicht ausreichend wirksam ist, dann bleibt nur noch die Rente, um den Betroffenen irgendwie zu helfen, denn ein extrem schlechter Schlaf mit Lebensqualität und Leistungsfähigkeit nicht zu vereinbaren.
Vielen Dank für das Gespräch.
Diese Tipps können bei einer beginnenden Schlafstörung helfen
Kein Koffein nach 17 Uhr. Der Körper brauch bis zu 7 Stunden, um es abzubauen.
Bewegung kann den Schlaf verbessern. 2,5 Stunden bei moderater Anstrengung wie beim Nordic Walking reichen bereits.
Durch Lüften für ausreichend Sauerstoff im Schlafzimmer sorgen.
Die optimale Temperatur im Schlaf-Temperatur liegt zwischen 17 und 22 Grad Celsius.
Vor dem Schlafengehen Tätigkeiten vermeiden, die Stress verursachen können wie etwa E-Mails beantworten.
Abendliche Rituale wie Entspannungsübungen, Lesen, Hörbücher oder entspannende Musik können das Einschlafen fördern.
Bei Störungen durch Schnarchen oder unterschiedliche Zubettgeh- oder Aufstehzeiten des Partners oder der Partnerin kann es sinnvoll sein, in verschiedenen Zimmern zu schlafen.
Einschlafstörungen möglichst gelassen begegnen: Wer lange Wachliegt, sollte aufstehen und sich entspannt beschäftigen, etwa Lesen. Die nächste Müdigkeitsphase kommt meist 90 Minuten später.
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Diesen Artikel so zitieren: „Volkskrankheit“ Schlafstörung: Ein Charité-Experte erläutert, wie Sie Patienten helfen können - Medscape - 19. Dez 2022.
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