Fall: Diese 92-jährige Frau hört Weihnachtslieder – leidet aber nicht an neurologischen Erkrankungen. Ihre Vermutung? 

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

19. Dezember 2022

Eine 92 Jahre alte Patientin stellt sich wegen seit 5 Monaten anhaltenden, vorwiegend musikalischen Halluzinationen vor. So habe sie seit einem Sturz rund um Ostern vor allem nachts zunehmend Lieder (Weihnachtslieder, zum Teil auch nationalsozialistische Lieder) und Musik gehört und die Polizei rufen müssen, da „die Nachbarn mit der Musik nicht aufhörten“. 

Außerdem habe die Patientin berichtet, Geräusche (etwa einer Waschmaschine) sowie Stimmen zu hören. Die insgesamt rüstig wirkende Frau habe zudem angegeben, seit mehreren Jahren beidseits Hörgeräte zu tragen [1]

Körperliche und apparative Untersuchungen

Ärzte beschreiben die Patientin als wach und voll orientiert. Ihre Aufmerksamkeit, Konzentration und Mnestik sind intakt. Sie finden keine Hinweise auf eine wahnhafte Störung, keine inhaltlichen Denkstörungen, keine Ich-Störungen.

Klinisch-neurologisch zeigt sich kein Hinweis auf eine demenzielle Entwicklung (Montreal Cognitive Assessment 27/30 Punkte), kein Hinweis auf eine bradykinetische Gangstörung, Muskeleigenreflexe seitengleich regelrecht auslösbar. 

Interessanter ist die HNO-ärztliche Spiegeluntersuchung: Beide Gehörgänge mit Zerumen sind verlegt; initial sei die Entfernung nur links gelungen (Trommelfell reizlos), berichten die Ärzte. Rechts habe sich putrides und fötides Sekret entleert. 

Therapie und Verlauf

Nach topischer Antibiotika-Therapie ist 2 Tage später die Entfernung eines mehr als 3 cm langen Pfropfens aus Zerumen und Wolle möglich. Ohrmikroskopisch habe sich eine entzündete Radikalhöhle gezeigt, heißt es weiter. Dabei handelt es sich laut Artikel „um einen bei größeren, chronischen Mittelohrentzündungen durchgeführten Eingriff, bei dem die hintere Gehörgangswand entfernt und zum Mastoid hin eine größere Höhle geschaffen wird“. 

Das Felsenbein-CT ist links unauffällig, rechts zeigt sich ein Zustand nach Radikalhöhlenanlage und Tympanoplastik. Bei der Audiometrie ist eine erhebliche Schwerhörigkeit nachweisbar; rechts mehr als links. 

Außerdem erhält die Patientin ein niederpotentes Neuroleptikum (Pipamperon 40mg zur Nacht). Bei ihrer Entlassung ca. 6 Wochen später habe sie eine deutliche Reduktion der Intensität der auditorischen Halluzinationen angegeben. 6 Monate später habe eine Nachfrage ergeben, dass beschwerdefrei sei. 

Diskussion

Die neu aufgetretenen auditorischen Halluzinationen bei einer zuvor psychisch gesunden 92-jährigen Patientin deuteten laut auf eine organische Genese hin. Nach Ausschluss weiterer Differenzialdiagnosen (wahnhafter Störung, demenzieller Entwicklung, struktureller Hirnläsionen u. a.) und Sichtung aller Befunde sei schließlich die Diagnose eines auditorischen, also nicht klassischen Charles-Bonnet-Syndroms gestellt worden.

Typisch für das klassische Charles-Bonnet-Syndrom sind visuelle Halluzinationen bei psychopathologisch unauffälligen Personen ohne zerebrale Läsion mit neu erworbener Visusminderung).

Musikalische Halluzinationen seien ein häufiges Phänomen bei Menschen höheren Alters, erklären die Autoren. Risikofaktoren für ein auditorisches Charles-Bonnet-Syndrom seien ein weibliches Geschlecht, Schwerhörigkeit, ein Alter über 60 Jahre und soziale Isolation. Vereinsamung, in diesem Fall verstärkt durch die Corona-Pandemie, habe im Falle der Patientin möglicherweise die Halluzinationen noch gefördert. 

Häufig sind auditorische Halluzinationen bei einer psychotischen Störung anzutreffen. Weitere differenzialdiagnostische Überlegungen sind unter anderem dissoziative Störungen, Borderline-Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung oder Störungen organischer Genese, etwa Parkinson- und Lewy-Body-Demenz sowie Hirnläsionen oder auch Presbyakusis. 

Relativ hoch sei die Inzidenz auditorischer Halluzinationen bei Schwerhörigkeit, schreiben die Autoren. In einer Studie mit 829 Probanden habe sie 16% betragen und mit dem Grad der Schwerhörigkeit korreliert. Für die Therapie gebe es mehrere Optionen. Falls möglich, sollte jedoch eine kausale Behandlung erfolgen. 

In der Gruppe der Hyp- bzw. Presbyakusis-Patienten könnten eine Aufklärung zur Ätiologie der Krankheit, eine Optimierung der Hörgeräteversorgung sowie der Einsatz externer auditorischer Stimuli die Symptome lindern.

Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.

 

Kommentar

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