Unsichtbare Gefahr bei Vollnarkose: Zu viel Sauerstoff während einer Operation erhöht womöglich das Risiko für Organschäden

Anke Brodmerkel

Interessenkonflikte

15. Dezember 2022

Die supraphysiologische Sauerstoffgabe während einer Operation ist mit einer höheren Inzidenz von Nieren-, Myokard- und Lungenschäden verbunden. Das ist das Ergebnis einer großen Beobachtungsstudie, die ein Team um Prof. Dr. David McIlroy vom Department of Anesthesiology des Vanderbilt University Medical Center in Nashville, Tennessee, im British Medical Journal (BMJ) veröffentlicht hat [1]. Allerdings müssten die kausalen Zusammenhänge noch besser erforscht werden, räumen die US-Mediziner ein.

Die WHO rät zu großzügigen Sauerstoff-Gaben

Obwohl das absolute Risiko nach wie vor gering sei, lege die Studie nahe, dass es an der Zeit sei, die großzügige Verwendung von Sauerstoff während einer Vollnarkose zu überdenken, schreiben Prof. Dr. Michele Samaja und Prof. Dr. Davide Chiumello von der italienischen Università degli Studi di Milano in einem im BMJ publizierten Kommentar [2]. Darin bezeichnen sie Sauerstoff als ein zweischneidiges Schwert.

Fast alle Patienten, die sich einer Operation mit Vollnarkose unterziehen, erhalten routinemäßig Sauerstoff, um eine Hypoxie zu vermeiden. Auch die WHO empfiehlt, Sauerstoff großzügig zu verabreichen, um das Infektionsrisiko zu verringern und die Wundheilung zu fördern.

Bekannt ist jedoch auch, dass supraphysiologischer Sauerstoff – also eine größere Menge des Gases, als für die Sättigung des Hämoglobins im arteriellen Blut erforderlich ist – die Zellen und Gewebe des Körpers schädigen kann. Die klinische Relevanz dieses Effekts ist bislang allerdings unklar.

Mehr als 350.000 Patienten nahmen an der Studie teil

Um die klinische Relevanz näher zu erforschen, rekrutierten McIlroy und sein Team 350.647 Probanden (52% von ihnen Frauen) mit einem Durchschnittsalter von 59 Jahren, die sich zwischen Januar 2016 und November 2018 in 42 medizinischen Zentren in den USA einer mindestens zweistündigen Operation mit Vollnarkose und endotrachealer Intubation unterzogen.

Für alle Teilnehmer ermittelten die Forscher die Menge des verabreichten Sauerstoffs, die über dem normalen Gehalt der Luft von 21% lag, im Vergleich zu der Zeit, in der die Sauerstoffsättigung des Hämoglobins während der Operation mindestens 92% betrug.

Als primäre Endpunkte ihrer Studie formulierte das Team um McIlroy:

  • akute Nierenschäden nach den Kriterien der internationalen Organisation KDIGO (Kidney Disease: Improving Global Outcomes),

  • Herzmuskelschäden, die als erhöhte Troponin-Werte von mindestens 0,04 ng/ml Blutserum innerhalb von 72 Stunden nach der Operation definiert wurden, und

  • Lungenschäden gemäß der ICD-Codes.

Zudem erfassten die Mediziner die 30-Tage-Mortalität, die Dauer des Krankenhausaufenthalts und auftretende Schlaganfälle. Faktoren wie Alter, Geschlecht, Rasse, Body-Mass-Index (BMI) und die Krankengeschichte der Probanden wurden ebenfalls erhoben.

Das Risiko für Nierenschäden war am deutlichsten erhöht

Wie McIlroy und seine Kollegen berichten, betrug die durchschnittliche Dauer der betrachteten Operationen 205 Minuten. Bei 6,5% der Patienten (19.207 von 297.554 untersuchten Probanden) wurde nach der Operation eine akute Nierenschädigung diagnostiziert, bei 2,8% (8.972 von 320.527) eine Myokardschädigung und bei 4,4% (13.789 von 312.161) eine Lungenschädigung.

Dabei war eine erhöhte Sauerstoffexposition während des Eingriffs, auch unter Berücksichtigung potenziell einflussreicher Variablen, mit einem höheren Risiko für Organschäden verbunden.

So hatten Patienten am oberen Ende der Sauerstoffwerte (75. Perzentile oder darüber) ein um 26% erhöhtes Risiko für eine akute Nierenschädigung, ein um 12% höheres Risiko für eine Herzmuskelschädigung und ein um 14% erhöhtes Risiko für eine Lungenschädigung im Vergleich zu Patienten am unteren Ende der Werte (25. Perzentile oder darunter).

Zudem war die Wahrscheinlichkeit eines Schlaganfalls um 9% und die 30-Tage-Mortalität um 6% höher. Allerdings mussten die Probanden oberhalb der 75. Perzentile etwas kürzer im Krankenhaus bleiben als die unterhalb der 25. Perzentile.

Als eine Schwäche ihrer Studie betrachten die Forscher um McIlroy die Tatsache, dass nicht alle Patienten nach ihrer Operation auf Nieren-, Herz- und Lungenschäden untersucht wurden. Zudem räumen sie ein, dass sie nicht in der Lage waren, Faktoren wie Ernährung, Lebensstil und Medikamenteneinnahme zu berücksichtigen, die alle die Anfälligkeit für Organschäden beeinflussen können.

Weitere, auch randomisierte Studien sind erforderlich

Dennoch gewährleiste die große Zahl der Probanden aus geografisch unterschiedlichen Regionen die Genauigkeit und allgemeine Gültigkeit ihrer Ergebnisse, schreiben die Mediziner. „Eine groß angelegte klinische Studie zur Feststellung kleiner, aber klinisch signifikanter Auswirkungen auf Organverletzungen und patientenzentrierte Ergebnisse ist erforderlich, um die Sauerstoffverabreichung während der Operation zu steuern“, lautet ihr Fazit. Nur eine ausreichend aussagekräftige randomisierte Studie könne die beste Praxis für die intraoperative Sauerstoffverabreichung ermitteln.

 
Eine groß angelegte klinische Studie … ist erforderlich, um die Sauerstoffverabreichung während der Operation zu steuern. Prof. Dr. David McIlroy und Kollegen
 

Die italienischen Mediziner Samaja und Chiumello schlagen zudem vor, dass künftige Studien auch kognitive Beeinträchtigungen messen könnten, da bekannt sei, dass das Hirngewebe besonders anfällig für veränderte Sauerstoffwerte sei. Die Zusammenarbeit zwischen Biochemikern und Anästhesisten müsse gefördert werden, fordern sie, „insbesondere um Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen supraphysiologischer Sauerstoffverabreichung und Organschäden zu ermitteln.“

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Kommentar

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