Dr. Thomas Jack ist Oberarzt auf der kardiologischen Kinderintensivstation der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH). Im Gespräch mit Medscape erläutert er das Projekt, in dem seine Kollegen und er die Routinedaten, die bei der Versorgung der kleinen Patienten anfallen, mit künstlicher Intelligenz fruchtbar machen können.

Dr. Thomas Jack
Quelle: Karin Kaiser/MHH
Der Name des Projekts: „ELISE“ – „Ein Lernendes und Interoperables, Smartes Expertensystem für die pädiatrische Intensivmedizin“. Außer der MHH sind auch die Westfälische Wilhelms-Universität Münster, das Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM) in Hannover und der Medizinprodukte-Hersteller Mediste beteiligt.
Medscape: Herr Dr. Jack, mit Ihrem durch das Bundesgesundheitsministerium geförderten Projekt wollen Sie die Evidenzlage bei der Behandlung von intensivpflichtig herzkranken Kindern verbessern. Ist die Behandlung derzeit nicht gut genug?
Jack: Die Kinderintensivmedizin und speziell die kinderkardiologische Intensivmedizin ist ein sehr kleines Fachgebiet. Relativ gesehen werden – glücklicherweise! – sind nur sehr wenige Kinder so krank, dass sie die Hilfe einer Intensivstation brauchen. Das bedeutet aber auch, dass wir insgesamt nur wenige Fälle haben, um randomisierte, kontrollierte Studien zu machen. Deren Ergebnisse wären aber notwendig, damit wir sicher entscheiden können, wie wir welches Kind behandeln sollen.
Medscape: Das heißt, die Ärztinnen und Ärzte auf den kardiologischen Kinderintensivstationen behandeln derzeit abseits der Evidenz – fast wie im Blindflug?
Jack: Nein, „Blindflug“ wäre das falsche Wort. Aber weil es keine Evidenz gibt, beruhen die Behandlungen ganz wesentlich auf den Erfahrungen der Kolleginnen und Kollegen, auf den erfolgreichen Strategien der Vergangenheit. Aber diese passen nicht immer genau auf den individuellen Patienten. Man kann einfach nicht sicher sagen, ob das individuelle Kind die richtige Therapie erhält, wenn sich seine Ärzte auf Basis eines vergleichbaren Falles entscheidet, der schon länger zurückliegt.
Zur Illustration: In einer Studie aus dem Jahr 2010 aus unserem Fachgebiet, bei der Ärzte einer kinderkardiologischen Intensivstation nach ihren Entscheidungsgrundlagen befragt wurden, zeigte sich, dass nur etwa jede 30. Entscheidung auf Basis von spezifischen Studien – und damit evidenzbasiert – gefällt wurde (Darts et al. 2010).
Hinzu kommt, dass es wegen des sehr kleinen Fachgebietes in jedem Krankenhaus nur wenige Experten gibt, die über das gesamte Wissen und die Erfahrungen verfügen, die für die Behandlung wirklich schwer kranker Kinder notwendig sind. Wenn sie etwa wegen Krankheit ausfallen, steht ihr Wissen auf den Stationen temporär nicht zur Verfügung. Bisher kann man nur versuchen, ihr Know-how in „Standard Operation Procedures“ – den „SOP“ – zu hinterlegen und damit verfügbar zu halten.
Medscape : Können Sie den Problemhorizont an einem Beispiel verdeutlichen?
Jack : Nehmen wir an, ein Patient ist mit einem hypoplastischen Linksherz auf die Welt gekommen, also mit einer verkleinerten linken Herzkammer. Früh in seinem Leben muss man eine therapeutische Weiche stellen, ob der Patient palliiert werden soll und in Zukunft mit nur einer Herzkammer leben muss, oder ob man es der zu kleinen linken Herzkammer doch zutraut, den Körperkreislauf ausreichend gut zu bedienen.
Die Entscheidung über die passende Therapie – vor allem auch wegen der jeweils großen Konsequenzen – kann ungemein schwer sein. Da wäre man als behandelnder Arzt natürlich dankbar für eine gute Evidenzlage, an der man seine Entscheidungsfindung gut festmachen kann. Aber diese Evidenz besonders bei diesem Patienten gibt es nicht. Denn bei diesem Grenzgänger ist nicht auf den ersten Blick klar, welche Behandlung richtig und welche falsch ist.
Medscape: Wie soll Ihr Projekt „ELISE“ diese Probleme lösen helfen?
Jack: Grundsätzlich wollen wir mit dem Projekt ermöglichen, Patientendaten anders beurteilbar und wissenschaftlich auswertbar zu machen. Das machen wir, indem wir die großen Mengen an Routinedaten unserer Patientinnen und Patienten, die wir in der Intensivmedizin sammeln – Blutdruck, Herzschlag, Laborwerte, Atemfrequenz und vieles mehr – kontinuierlich verfügbar und maschinenlesbar zu machen.
So kann ein KI-Algorithmus helfen, den klinischen Verlauf und den Zustand unserer Patienten zu beurteilen. Damit können wir dann getroffene therapeutische Entscheidungen und deren Auswirkungen auf den Patienten besser beurteilen, ohne nur auf Ergebnisse randomisierter klinischer Studien angewiesen zu sein.
Darüber hinaus kann der Algorithmus aus dem ständigen Datenabgleich Schlüsse über den Zustand der Patienten in bestimmten kritischen Situationen ziehen. Damit stellt er den Ärztinnen und Ärzten in Zukunft auch in der Real-Time-Anwendung Therapieempfehlungen zur Verfügung. Dies nennen wir ein klinisches Entscheidungsunterstützungssystem, kurz: CDSS. Ist das System erst einmal installiert, könnte zum Beispiel ein Assistenzarzt vom System die Vorhersage eines baldigen Nierenproblems bei einem kritischen Patienten erhalten und rechtzeitig intervenieren.
Medscape: Wie weit ist das Projekt fortgeschritten?
Jack: Das 3-jährige Projekt geht gerade ins 3. Jahr. Wir haben inzwischen die Datensätze von rund 5.000 unserer Patientinnen und Patienten „gelabelt“. Das heißt, in den Datensätzen sind verschiedene kritische Zustände zeitkritisch hinzugefügt worden. Jetzt können wir erkennen, welches Problem einer unserer Patienten zu einem bestimmten Zeitpunkt hatte. So haben wir die Grundlage geschaffen, Vorhersagemodelle zu entwickeln. Dieses testen wir nun am Beispiel der Sepsis und für die Störung von Organsystemen, wie der Niere oder der Leber.
Medscape: Wie verhindern Sie, dass sich die Ärztinnen und Ärzte im Stress nur noch auf den Algorithmus verlassen? Dann hätten die Maschinen die Macht übernommen.
Jack: Ein CDSS stellt immer nur eine Entscheidungshilfe dar, die letztendliche Entscheidung bleibt immer bei den behandelnden Ärzten.
Medscape: Inwieweit können auch andere Kinderkardio-Intensivstationen von Ihren Ergebnissen profitieren?
Jack: Wir wollten mit unserem Projekt keine Insellösung schaffen, die nur unseren Patienten auf unserer Station geholfen hätte. Von Anfang an haben wir die klinischen Routinedaten in einen international anerkannten Interoperabilitätsstandard überführt, den „operEHR“. Er zeigt, an welcher Stelle welche Daten, die für die Entscheidungsunterstützung genutzt werden, in welcher Form hinterlegt sind. So wird es möglich, dass andere Institutionen ebenfalls Daten in das System einspeisen, da man durch den Interoperabilitätsstandard und die hinterlegte Semantik genau erkennen kann, was das System braucht.
Medscape: Wo wollen Sie mit ihrem Projekt in 10 Jahren stehen?
Jack: In 10 Jahren werden wir hoffentlich bei unseren Patienten kritische Zustände schneller erkennen und früher behandeln können. Wir werden auch anhand unserer Daten die Qualitätssicherung verbessern und neue Standards setzen können. Ich bin guter Hoffnung, dass unsere tägliche Arbeit mit den schwerkranken Kindern durch solche Entwicklungen sehr, sehr erleichtert wird.
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Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: KI verbessert Evidenz in der Kardiologie: Algorithmus kann helfen, den klinischen Verlauf bei herzkranken Kindern zu beurteilen - Medscape - 14. Dez 2022.
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