„Eine Seefahrt, die ist lustig“: Wie Lieblingsmusik die Lebensqualität von Demenzkranken verbessert – ein Projekt zeigt den Weg

Christian Beneker

Interessenkonflikte

12. Dezember 2022

Manches gerät nie ganz in Vergessenheit. Die erste Liebe nicht, auch nicht das überwältigende Gefühl, hält man das erste Kind im Arm – und schon gar nicht: die Lieblingsmelodien aus der Jugend und dem frühen Erwachsenenalter. Sie begleiteten den ersten Tanz mit der Angebeteten oder orchestrierten die ersten Sommerferien, in denen man ohne Eltern unterwegs war. Erklingen diese Melodien, so ziehen die vergangene Zeit und ihre Welt wieder herauf.

Wie sich herausgestellt hat, gilt dies auch für Menschen mit Demenz. Ein Projekt der Friedrich-Schiller-Universität Jena unter Leitung von Prof. Dr. Gabriele Wilz und des GKV-Spitzenverbandes setzt auf jene Erinnerungskraft der Musik. Sie kann Menschen mit Demenz offenbar ebenso auf eine Zeitreise schicken – wie Menschen, deren Erinnerungen nicht dabei sind, zu versinken. Sei es Wanderlied oder Kirchenchor, Blaskapelle oder große Oper – oft sind jene Lieblingstitel verbunden mit bewegenden Lebensstationen.

Der Zusammenhang sei schon länger bekannt, erklärt die Arbeitsgruppe. Aber eine kontrollierte, randomisierte Studie fehlte bisher. Das Projekt „Individualisierte Musik für Menschen mit Demenz – Verbesserung von Lebensqualität und sozialer Partizipation von Menschen mit Demenz in der institutionellen Pflege“ hat dies nun nachgeholt – mit erstaunlichen Ergebnissen. 

Das Jenaer Projekt fand in 5 Thüringer Pflegeheimen und mit 130 demenziell Erkrankten statt. Die Bewohnerinnen und Bewohner wurden beim Hören ihrer Lieblingsmusik ruhiger, heiterer und kommunikativer. Das Projekt fand in den Jahren 2018 bis 2021 statt.

Seit 2021 wird das Projekt auch auf demenziell erkrankte Menschen erweitert, die von ihren Angehörigen zuhause gepflegt werden.

„Wie soll ich dich empfangen?“

Besonders aufwändig war es, die passende Musik für die Senioren zu finden. Mit Hilfe der Angehörigen und ihrer Erinnerungen an die Jugend ihrer Mutter oder des Großvaters entwarfen die Uni-Mitarbeiterinnen in Detektivarbeit für jeden demenziell Erkrankten je 3 Listen mit der vermutlich passenden Musik: das „Rennsteiglied“, „Eine Seefahrt, die ist lustig“, aber auch der Louis Armstrong-Hit „What a wonderful world“ oder der Bach-Choral „Wie soll ich dich empfangen?“. 

„Insgesamt über 1.000 Musikeinheiten wurden gehört“, wie Doreen Rother sagt, Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin in dem Projekt. Für jeden Probanden wurden 3 Musiklisten angefertigt. 

6 Wochen lang erhielten dann die Senioren 3- bis 4-mal in der Woche per MP-3-Player und Kopfhörer ihre Lieblingsmusik auf die Ohren, je 20 Minuten lang. 

Die Jenaer Forscherinnen erklären, dass sogar schwer amnetisch Betroffenen noch über ein Musikgedächtnis verfügen. Lang bekannte Musik aktiviere ein breites zerbrales Netzwerk. Allerdings sei nicht die Musik per se hilfreich, sondern erst in Verbindung etwa mit der Situation, in der sie gehört wurde, oder wenn sie genau den Musikgeschmack des Hörers trifft.

Das erklärt die Effekte, die die Lieblingsmelodien auf die Senioren hatten: „Die Patientin, die sonst wochenlang schweigt, beginnt zu lachen“, berichten Pflegekräfte. „Bei Beethovens 9. schien sie gerührt und faltete die Hände, hatte feuchte Augen“, beobachtete eine andere Pflegekraft. Die sozialen Kontakte der alten Leute wurden „wesentlich enger und verwurzelter“, so eine andere Stimme. Die Musik linderte die Unruhe der Pflegebedürftigen, und manche haben „dem Musikhören den ganzen Tag schon immer entgegengefiebert“, berichtet eine andere Altenpflegerin. 

Zugleich mussten die Jenaer Wissenschaftlerinnen nur sehr wenige negative Effekte der Musik verzeichnen. „Ausgesprochen selten reagierten die Probanden mit Unwillen und Ungeduld auf die Musik, und wir mussten abbrechen“, berichtet Rother.

Lange bekannte Musik aktiviert ein breites zerebrales Netzwerk

Indessen wirkte sich die Musik sehr positiv auf die Pflege aus. Die Teilnehmenden waren zugänglicher. „Aber wir wollen die Musik nicht instrumentalisieren“, betont Rother. „Doch ist Musik eine kostengünstige, nebenwirkungsarme und relativ leicht einsetzbare Methode, um das Wohlbefinden von Menschen zu verbessern. Sie kann Menschen mit Demenz Augenblicke der Freude, der Erinnerung oder des Wohlgefühls schenken.“ 

 
Musik ist eine kostengünstige, nebenwirkungsarme und relativ leicht einsetzbare Methode, um das Wohlbefinden von Menschen zu verbessern. Doreen Rother
 

In Zahlen: Bei fast 28% der Senioren stellten die Pflegekräfte eine Entspannung und Beruhigung fest, bei rund 26% eine aufgehellte Stimmung, bei jeweils gut 13% häufigere Reaktionen und eine stärkere soziale Kommunikation. 

 
Musik kann Menschen mit Demenz Augenblicke der Freude, der Erinnerung oder des Wohlgefühls schenken. Doreen Rother
 

Projekt auch für Menschen mit Demenz, die zuhause gepflegt werden

Aufgrund der guten Erfahrungen erklingt jetzt die Lieblingsmusik auch für Menschen mit Demenz, die zuhause gepflegt werden: „Individualisierte Musik für Menschen mit Demenz in der häuslichen Pflege – Akzeptanz und Wirksamkeit seiner App-basierten Musikintervention (IMuDApp)“, so der Titel des Projekts. Der Einsatz einer App und eines Tablet-Computers für die Angehörigen und Pflegebedürftigen soll die Praxis erleichtern.

„Ich kann nichts Negatives sagen über die Sache hier“, erklärte eine Teilnehmerin. „Ich kann nur sagen, das, was sie eben mit mir gemacht haben, hat mich zutiefst berührt. Ich hätte auch sehr viel Lust gehabt, richtig zu tanzen.“ 

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Kommentar

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