Bei der Behandlung von Patienten mit schweren Depressionen stünden Psychotherapie und Medikamente „ganz im Zentrum“, so der Psychiater Prof. Dr. Hans-Peter Volz, Ärztlicher Direktor am Krankenhaus für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatische Medizin Schloss Werneck. Das ist begannt.
In der Praxis stelle sich allerdings die Frage, wie die notwendigen Therapieentscheidungen getroffen werden sollten, welche Prinzipien also beim Entscheiden besonders zu beachten seien. In einer aktuellen Übersichtsarbeit [1] gibt Volz Hilfen zur Entscheidung – zunächst für Patienten, die noch nicht mit Antidepressiva behandelt worden sind. Grundlage ist die aktuelle Versorgungsleitlinie.
Übersicht der wichtigsten Psychopharmaka
Für die medikamentöse Behandlung von Patienten mit Depressionen stehen laut Leitlinie Substanzen folgender Wirkstoff-Klassen zur Verfügung:
Selektive Serotonin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSRI) sind die am meisten verordnete Wirkstoffklasse bei depressiven Störungen in Deutschland. Sie erhöhen die zentrale serotonerge Neurotransmission durch selektive Hemmung der Rückaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt.
Wirkstoffe: Citalopram, Escitalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin.Selektive Serotonin-/Noradrenalin-Rückaufnahme-Inhibitoren (SSNRI) erhöhen die zentrale serotonerge Neurotransmission durch selektive Hemmung der Rückaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt. Wirkstoffe: Venlafaxin, Duloxetin, Milnacipran.
Alpha2-Rezeptor-Antagonisten erhöhen ebenfalls die intrasynaptische Konzentration von Serotonin und Noradrenalin, indem sie die Alpha2-Rezeptoren blockieren. Die Stimulation dieser Rezeptoren bremst die Freisetzung von Serotonin und Noradrenalin in den synaptischen Spalt; ihre Blockade führt entsprechend zu einer verstärkten Freisetzung der beiden Neurotransmitter. Zusätzlich haben Medikamente dieser Gruppe eine deutliche antihistaminerge Wirkung, was ihre sedierenden und gewichtssteigernden Eigenschaften erklärt.
Wirkstoffe: Mirtazapin, Mianserin.Nichtselektive Monoamin-Rückaufnahme-Inhibitoren (NSMRI) bzw. Tri- und tetrazyklische Antidepressiva (TZA) hemmen wie SNRI in unterschiedlichem Ausmaß die Wiederaufnahme von Serotonin und Noradrenalin aus dem synaptischen Spalt. TZA blockieren zusätzlich mehrere Rezeptoren, z. B. zentrale und periphere cholinerge, histaminerge oder Alpha1-adrenerge Rezeptoren, wodurch zusätzliche (Neben-)Wirkungen hervorgerufen werden.
Wirkstoffe: Amitriptylin, Clomipramin, Doxepin, Imipramin, Nortriptylin, Trimipramin.Monoaminooxidase-Inhibitoren (MAO-Hemmer) blockieren die Wirkung der Monoaminooxidase, so dass die Konzentration von Neurotransmittern wie Serotonin, Noradrenalin und Dopamin erhöht wird und diese für die Signalübertragung im Gehirn stärker zur Verfügung stehen.
In Deutschland zugelassen sind Moclobemid, das reversibel nur die MAO-A hemmt, und Tranylcypromin, das beide MAO-Unterformen (A und B) irreversibel hemmt.Trazodon ist ein Antagonist an Serotonin-2-Rezeptoren (5-HT2-Rezeptoren) und in höherer Dosierung zusätzlich ein Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Außerdem wirkt es schwach ebenfalls als Alpha2-Rezeptor-Antagonist sowie blockierend auf Histamin1-Rezeptoren.
Tianeptin erhöht im Gegensatz zu anderen Antidepressiva nicht die intrasynaptische Serotoninkonzentration, sondern verringert sie, indem es die Wiederaufnahme von Serotonin aus dem synaptischen Spalt in das präsynaptische Neuron fördert.
Bupropion ist ein selektiver Wiederaufnahmehemmer von Dopamin und Noradrenalin (SNDRI).
Agomelatin ist wie Trazodon ein Serotonin-5-HT2-Rezeptor-Antagonist und hat außerdem agonistische Effekte auf Melatonin-Rezeptoren, wobei unklar ist, inwieweit dies zum antidepressiven Effekt beiträgt. Es kann auch schlafregulierende Eigenschaften haben.
Lithiumsalze zählen im engeren Sinne nicht zu den Antidepressiva. Die Wirkung erfolgt über eine komplexe Beeinflussung der intrazellulären Signaltransduktion mit Folgeeffekten auf die Neurotransmitterregulation und die Genexpression.
Esketamin ist seit 2020 verfügbar. Es blockiert den N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor (NMDAR) und hemmt hierdurch die Glutamatfreisetzung. Esketamin ist das S-Enantiomer von Ketamin.
Johanniskraut (Hypericum perforatum).
Für nicht vorbehandelte Patienten mit mittelgradigen und schweren Depressionen rate die Leitlinie mit gleichwertigem Empfehlungsgrad zu Psychotherapie oder Pharmakotherapie, wobei, wie Volz erläutert, vor allem die Patientenpräferenz zu beachten sei. Solle die Therapie mit einem Antidepressivum begonnen werden, sei das Medikament nach den klassischen Bewertungskriterien Wirksamkeit, Verträglichkeit und Arzneimittelsicherheit auszuwählen.
Wirksamkeit der Pharmakotherapien
Um die Wirksamkeit einer antidepressiven Substanz zu evaluieren, könnten laut Volz Metaanalysen hilfreich sein. Eine solche Metaanalyse hat ein internationales Expertenteam 2018 in The Lancet publiziert. Ausgewertet wurden Daten von rund 87.000 depressiven Patienten aus 522 Studien.
Dabei stellten die Forscher die höchsten Wirkstärken (im Vergleich zu Placebo) für die antidepressiven Substanzen Amitriptylin, Mirtazapin, Duloxetin, Venlafaxin, Paroxetin, Milnacipran, Fluvoxamin, Escitalopram und Sertralin fest. Hier die konkreten Angaben (Odds ratio):
Amitriptylin: 2,13
Mirtazapin: 1,89
Duloxetin: 1,85
Venlafaxin: 1,78
Escitalopram: 1,68
Nefazodon und Sertralin: 1,67
Agomelatin: 1,65
Vilazodon: 1,60
Trazodon: 1,51
Reboxetin: 1,37
Unerwünschte Effekte
Relevant für die Auswahl des Antidepressivums sind selbstverständlich auch Verträglichkeit- und Sicherheit. Im Fokus bei der Therapie mit Antidpressiva stehen folgende unerwünschte Wirkungen:
Sexuelle Dysfunktionen
Störungen der sexuellen Funktionen würden laut Volz vor allem durch eine starke Serotonin-Wiederaufnahmehemmung mit dadurch verbundener Stimulation von postsynaptischen 5-HT2-Rezeptoren ausgelöst. Insofern seien SSRI und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) prädestiniert, solche sexuellen Dysfunktionen besonders auszulösen. Allerdings könnten auch trizyklische Antidepressiva die Sexualfunktion beeinträchtigen.
Zu den Substanzen, die selten zu sexuellen Dysfunktionen führten, gehörten Moclobemid, Reboxetin, Agomelatin, Mirtazapin, Bupropion, Johanniskraut-Extrakte und Tianeptin.
Gewichtszunahme
Verschiedene Metaanalysen kommen dem Psychiater zufolge zu unterschiedlichen Ergebnissen, wobei die Gewichtszunahme unter Mirtazapin, Amitriptylin und Doxepin am ausgeprägtesten scheint. Erstaunlicherweise könne auch Citalopram zu einer Gewichtszunahme führen, während die anderen genannten Substanzen im Durchschnitt als gewichtsneutral zu betrachten seien, so Volz.
Kardiovaskuläre Nebenwirkungen
SNRI wie Duloxetin, Milnacipran und der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NARI) Reboxetin bewirkten meist einen Blutdruck- und einen Herzfrequenzanstieg, erklärt Volz weiter. Die Senkung des Blutdrucks sowie reflektorische Tachykardien liegen nach seinen Angaben meist einem α2-Rezeptor-Antagonismus zugrunde.
Zu nennen seien in diesem Zusammenhang besonders die trizyklischen Antidepressiva. Diese zeigten auch die ausgeprägtesten Effekte bezogen auf EKG-Veränderungen (QTc-Verlängerungen). Allerdings könnten auch Citalopram und geringer Escitalopram, Fluoxetin und Venlafaxin die QTc-Zeit verlängern.
Toxizität
Klinisch relevant seien vor allem Hepatotoxizität und Überdosierung. Antidepressiva können zu Schädigungen der Leber führen. Eine Übersichtsarbeit zeige, dass sich das Risiko für Leberschäden zwischen den einzelnen Antidepressiva unterscheide, so der Experte.
Substanzen mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für Hepatotoxizität waren nach Angaben des Autors Iproniazid, Phenelzin, Nefazodon, Imipramin, Amitriptylin, Duloxetin, Bupropion, Trazodon, Tianeptin und Agomelatin. Das geringste Potenzial für Leberschäden hätten Citalopram, Escitalopram, Paroxetin und Fluvoxamin gezeigt.
Interaktionspotenzial
Die in der antidepressiven Therapie verwendeten Wirkstoffklassen könnten bestimmte Abbauenzyme hemmen oder induzieren, wobei Letzteres nur für Johanniskrautextrakt der Fall sei, erklärt Volz. Bei „Hemmern oder Induktoren“ sollte immer geprüft werden, ob eine vorhandene Komedikationen hierdurch in ihrer Wirkung verstärkt oder abgeschwächt werden könnte. Um dies beurteilen zu können, müssten alledings die Hauptabbauwege aller verabreichten Pharmaka bekannt sein.
Das Problem könne sich allerdings auch umgekehrt ergeben, so Volz: Nehme ein Patient eine Substanz ein, die einen wichtigen Abbauweg des ebenfalls aktuell eingenommenen Antidepressivums relevant hemme oder induziere, steige oder falle die Plasmakonzentration des Antidepressivums. Es empfehle sich daher, auch die relevanten Abbauwege der einzelnen Antidepressiva zu kennen.
Hilfestellungen gäben Datenbanksysteme wie www.psiac.de oder www.mediq.ch, die jedoch beide kostenpflichtig seien, weiß der Experte. Wer sich über die Eigenschaften einzelner Antidepressiva und vor allem ihrer Abbauwege informieren möchte, für denjenigen lohne sich die Webseite www.pharmGKB.org.
Der Beitrag ist im Original erschienen auf Univadis.de.
Credits:
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Diesen Artikel so zitieren: Antidepressiva: Wie finden Sie den bestmöglichen Wirkstoff für Ihre Patienten – und worauf ist zu achten? - Medscape - 12. Dez 2022.
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