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Ultraschall für die Triage: Wie Ärzte ihre ukrainischen Kollegen in Kriegsmedizin schulen und was sie in Charkiw erleben

Stéphanie Lavaud

Interessenkonflikte

7. Dezember 2022

Ende Oktober startete die französische Nicht-Regierungsorganisation (NGO) Mehad eine Ausbildungsmission für Kriegsmedizin in der Ukraine. Dabei wurden in Lwiw und Charkiw ukrainische Ärzte und Ärztinnen in der Notfallsonographie für die Triage und der Akuttherapie von Psychotraumata ausgebildet.

Der Spezialist für Kriegsmedizin, Prof. Dr. Raphaël Pitti aus dem französischen Metz, ist der Ausbildungsleiter der NGO. Hier berichtet der Notfallmediziner, der vor kurzem aus der Ukraine zurückkehrte, in einem Interview mit Medscape Frankreich von diesem Training und die Probleme der Mediziner vor Ort.

Prof. Dr. Raphaël Pitti

Medscape: Bisher hat sich die Arbeit der NGO Mehad (Ex-UOSSM France) hauptsächlich auf Syrien konzentriert. Was hat Sie dazu bewogen, medizinisches Personal in der Ukraine auszubilden?

 
Die Nachwirkungen des Krieges sind nicht nur physischer, sondern auch psychologischer Natur. Prof. Dr. Raphaël Pitti
 

Pitti: In den letzten 10 Jahren haben wir 4 Ausbildungszentren in Syrien aufgebaut und dort über 30.000 Pflegekräfte ausgebildet. Als der Krieg in der Ukraine begann, schlugen wir vor, ein Ausbildungszentrum zu gründen, um unsere ukrainischen Ärztekollegen zu unterstützen. Durch unsere Arbeit in Syrien konnten wir auf langjährige Erfahrung bei der Ausbildung von Pflegekräften in Krisengebieten zurückblicken. Zudem haben wir dort bereits erlebt, auf welche Art und Weise Russland Krieg führt.

Wir wussten, dass es sich beim Ukraine-Krieg nicht um einen konventionellen Krieg handeln würde, bei dem Streitkräfte aufeinandertreffen. Darauf waren allerdings die ukrainischen Militärkrankenhäuser seit 1994 ausgelegt. Dass es sich zudem um einen Krieg handeln würde, in dem zivile Krankenhäuser Ziel russischer Bombardements sein würden, darauf war niemand vorbereitet.

Medscape: Inwiefern ähnelt der Krieg in der Ukraine der damaligen Situation in Syrien?

Pitti: Wir sehen in der Ukraine eine urbane Kriegsführung, bei der zivile Krankenhäuser direkt betroffen sind. Vergleichbares zeigte sich auch in Syrien. Es ist ein totaler Krieg, die Bombardements machen keinen Unterschied zwischen Zivil- und Militärbevölkerung. Kriegsstrategien wie Einkesselung und Belagerung, die wir in Syrien erlebt haben, führten dazu, dass die Krankenhäuser aufgrund von Personal- und Materialmangel unter erschwerten Bedingungen arbeiten mussten. Viele Pflegekräfte flohen zusammen mit anderen Zivilisten, um den heftigen Kämpfen zu entkommen. Andere wurden vertrieben.

Die Qualität der Krankenversorgung in solchen Krankenhäusern aufrechtzuerhalten ist herausfordernd. Dem Personal müssen kriegsspezifische Pathologien, zusätzliche Protokolle (Transfusionen etc.) und eine gute Triage beigebracht werden. Auch müssen Chirurgen und Pflegepersonal in die Wehrmedizin eingeführt werden.

Medscape: Wie und wo wurde das Mehad-Ausbildungszentrum in der Ukraine eingerichtet?

Pitti: Als die Russen im April letzten Jahres das Land bombardierten, richteten wir ein Ausbildungszentrum in Lwiw (dt. Lemberg), im Westen der Ukraine, ein. Damit waren wir nahe der polnischen Grenze, wo die Situation sicher war. In der folgenden Zeit konzentrierten sich die russischen Streitkräfte auf den Osten und Südosten des Landes und besetzten 20% des ukrainischen Territoriums. Im Juni, Juli und August befanden sich militärischen Opfer somit hauptsächlich im Osten des Landes. Als sich die Kämpfe zudem auf die Frontlinie beschränkten und die Zivilbevölkerung nicht mehr direkt betroffen war, fragten wir uns, ob die Aufrechterhaltung unseres Ausbildungszentrums in Lwiw noch sinnvoll war.

So arbeitet die NGO

Mehad (ehemals UOSSM France) ist eine französische NGO, die sich seit 2011 für Gesundheit und internationale Solidarität einsetzt. Während dem Syrien-Krieg von Ärzten und Ärztinnen gegründet, konzentrierte sie sich zunächst darauf die Gesundheitsversorgung der Menschen in Syrien und in angrenzenden Ländern zu verbessern. Nachdem Anfang des Jahres der Krieg in der Ukraine ausbrach, richtete Mehad auch ein Ausbildungszentrum in Lwiw ein und bildet dort aktuell ukrainische Ärzte in kriegsmedizinischen Techniken aus. Das Ausbildungsprojekt von Mehad, das in Partnerschaft mit einer anderen französischen NGO („La Chaîne de l'espoir“) durchgeführt wird, richtet sich speziell an Rettungskräfte, Ärzte, Chirurgen und Krankenpfleger in ukrainischen Krankenhäusern, die direkt von den Kämpfen betroffen sind.

Da sich die Folgen des Krieges nicht nur auf physische Verletzungen begrenzen, sondern auch psychologische Erkrankungen auslösen können, bietet die NGO Mehad auch Schulungen für ukrainische Psychiater und Psychologen in der Notfallbehandlung von Psychotraumata an.

Medscape: Haben Sie den Projektstandort in Richtung der Front verlegt? 

Pitti: Ab Ende September konnte durch die ukrainische Gegenoffensive ein Teil des Territoriums zurückerobert werden. Zu diesem Zeitpunkt waren wir der Meinung, dass wir unseren Standort wechseln und eher in Richtung Charkiw (32 km von der russischen Grenze entfernt) vorrücken sollten, um den Ausbildungsbedarf unserer zivilen Kollegen dort besser decken zu können. Ende August hatten wir mit den Schulungen in Lwiw begonnen, Ende Oktober konnten wir dann eine Schulung in Notfallsonographie in Charkiw anbieten. Diese wurde von Dr. Pierre Catoire, Notfallmediziner und Mehad-Ausbilder (Ex-UOSSM Frankreich) und Dr. Vitalii Mahlovayi, Mehad-Ausbildungs-Chirurg, der in Lwiw ausgebildet wurde, durchgeführt.

Caption: Ausbildungszentrum Mehad in Lwiw
Quelle: Mehad

17 ukrainische Ärzte hatten sich für die Ausbildung beworben. Wir wählten 12 von ihnen aus, darunter Kardiologen, Chirurgen, Notärzte, Anästhesisten und Intensivmediziner. Dabei handelte es sich um ärztliches Personal, das in den umliegenden Krankenhäusern direkt mit Kriegsverletzten arbeitete. Alle waren motiviert und dankbar für unsere Präsenz in der Ukraine.

Medscape: Warum haben Sie sich für die Notfallsonographie entschieden?

Pitti: Mit Hilfe der Notfallsonographie kann man beim Erheben des klinischen Befunds im Rahmen der Triage innere Verletzungen sichtbar machen. Damit ist sie als diagnostisches Mittel von sehr großem Interesse.

Dank des Ultraschalls kann man sehen, ob ein Erguss oder freie Luft im Bauchraum oder im Thorax vorliegen. In Verbindung mit der Klinik lässt sich so feststellen, ob eine Notoperation erforderlich ist oder nicht. In dieser Hinsicht ist der Ultraschall zu einem unverzichtbaren Instrument der Triage geworden, zumal sich die Technologie weiterentwickelt hat und Ultraschallgeräte heute 90 Gramm wiegen, etwa 12 cm groß sind und man den Bildschirm seines Smartphones nutzen kann, um die Bilder zu betrachten.

 
Der Ultraschall ist zu einem unverzichtbaren Instrument der Triage geworden, auch weil sich die Technologie weiterentwickelt hat. Prof. Dr. Raphaël Pitti
 

Medscape: 12 ausgebildete Ärzte klingt nicht viel. Reicht das in Notfallsituationen vor Ort aus?

Pitti: Nein, deshalb sind wir mit einigen Ärzten, die in Notfallsonographie geschult worden waren nach Lwiw zurückgekehrt. Dort werden sie ihrerseits zu Ausbildern weitergebildet. Anschließend können sie nach Charkiw zurückkehren, um ihre Kollegen und Kolleginnen zu schulen.

Medscape: Wie sieht es mit der Behandlung von posttraumatischem Stress aus?

Pitti: Wir haben Anfang November eine Schulung zur Notfallbehandlung von Psychotraumata angeboten, die innerhalb von maximal 48 Stunden nach dem traumatischen Ereignis stattfinden muss. In kurzem zeitlichen Abstand zum Trauma hat sich EDMR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing) als wirksam erwiesen. Ziel ist dabei, eine Chronifizierung zu verhindern. Jeder Arzt oder Psychologe sollte in der Lage sein, eine solche Behandlung durchzuführen. Aus diesem Grund haben wir in Partnerschaft mit der auf Psychotraumata spezialisierten Abteilung für Psychologie der Universität Lothringen, die von Prof. Cyril Tarquinio geleitet wird, einen Online-Kurs eingerichtet. Der Kurs fand an drei Tagen per Videokonferenz statt. 17 Psychiater und Psychologen, die mit dem Notdienst in Lwiw zusammenarbeiten, nahmen teil. In der 2. Phase des Projekts sollen einige von ihnen wiederum selbst als Ausbilder tätig werden und das Wissen an medizinisches Personal weitergeben.

 
Wir haben Anfang November eine Schulung zur Notfallbehandlung von Psychotraumata angeboten. Prof. Dr. Raphaël Pitti
 

Medscape: Welche weiteren Kurse in Kriegsmedizin sind geplant?

Prof. Raphaël Pitti: Die kommenden Kurse werden sich zum einen mit der Behandlung von Opfern biochemischer Waffen und zum anderen weiter mit der Wehrmedizin befassen. Darüber hinaus werden wir Kooperationen mit ukrainischen Ausbildungszentren für Ärzte und Rettungssanitäter aufbauen, um sie bei den Weiterbildungen zu unterstützen.

Medscape: Sie waren in Charkiw. Wie sind dort die Arbeitsbedingungen im Krankenhaus?

Prof. Raphaël Pitti: Ich habe das Krankenhaus besucht, das bombardiert wurde. Ein Teil des Krankenhauses wird nicht mehr genutzt und viele Ärzte und Pflegekräfte sind mit dem Rest der Bevölkerung geflohen. Das Krankenhaus ist weiterhin in Betrieb, hat sich aber umstrukturiert, um die Situation zu bewältigen. Beispielsweise werden im Kinderkrankenhaus nun auch Erwachsene behandelt. Auf der Intensivstation wurde die Behandlung der medizinischen und chirurgischen Patienten in einem Bereich zusammengefasst. Die Operationssäle wurden von 7 auf 3 reduziert mit 2 Notfallsälen. Die Abteilung für Augenheilkunde dient nun auch als Ambulanz.

Medscape: Was passiert im Falle eines Alarms - insbesondere für die Kinder, die gerade in der Klinik behandelt werden?

Prof. Raphaël Pitti: Im Krankenhaus von Charkiw wird der Alarm leider sehr häufig ausgelöst und es ist zu kompliziert, die Kinder, die auf der Intensivstation liegen, jedes Mal in den Keller zu bringen. Wenn ein Alarm ertönt, werden die Kinder in die Gänge des Krankenhauses gebracht, möglichst weit weg von den Fassaden. Ein Krankenpfleger bleibt bei ihnen, während die Familien, die die Kinder aufgrund des Personalmangels begleiten, in die Kellerräume gehen.

 
Wenn ein Alarm ertönt, werden die Kinder in die Flure gebracht, weg von den Fassaden, und ein Pfleger bleibt bei ihnen. Prof. Dr. Raphaël Pitti
 

Medscape: Wie werden Verletzte in der Ukraine generell derzeit versorgt?

Prof. Raphaël Pitti: Die Ukrainer sind gut organisiert. Die reorganisierten Krankenhäuser funktionieren. Die Verletzten von der Front, hauptsächlich Soldaten, werden in den militärischen Institutionen des Landes versorgt. Verletzte, die von der Front kommen, werden zuerst in einer Erstversorgung nahe der Frontlinie stabilisiert und dann in nahegelegene Krankenhäuser verlegt. Die Schwerstverletzten, die eine weitere Operation benötigen, um beispielsweise Amputationen zu vermeiden, werden im Rahmen von Abkommen mit der EU in europäische Länder wie Schweden, Norwegen, Polen, Frankreich und Belgien evakuiert.

 
Schwerstverletzte, die weitere Eingriffe benötigen, um z. B. Amputationen zu vermeiden, werden in europäische Länder evakuiert. Prof. Dr. Raphaël Pitti
 

Dieser Artikel erschien im Original auf Medscape.fr und wurde übersetzt von Loic Lemonnier und Johanna Gottschling
 

Kommentar

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