Hamburg – Kein Bett mehr: Von 110 Kinderkliniken hatten zuletzt 43 Häuser kein einziges Bett mehr auf der Normalstation frei. Nur 83 freie Betten gibt es noch auf Kinderintensivstationen in ganz Deutschland – das sind 0,75 freie Betten pro Klinik und damit weniger als 1 pro Standort. Das ergab eine aktuelle Ad-hoc-Umfrage der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI).
„Das ist eine katastrophale Situation, anders ist es nicht zu bezeichnen. Deshalb fordern wir die sofortige Optimierung von Arbeitsbedingungen in den Kinderkliniken, den Aufbau telemedizinischer Netzwerke zwischen den pädiatrischen Einrichtungen und den Aufbau von spezialisierten Kinderintensivtransport-Systemen. Wir müssen jetzt endlich handeln“, sagte DIVI-Generalsekretär und Kinder-Intensivmediziner Prof. Dr. Florian Hoffmann bei einer Pressekonferenz zur Lage der Kinder-Intensivmedizin auf dem DIVI-Kongress in Hamburg [1].
„Wir stehen jeden Morgen vor der Frage: Können wir diesen Patienten aufnehmen oder nicht? Die Patienten sind auf ein Zentrum angewiesen, ihr Überleben hängt davon ab. Wir können diese Versorgung nicht mehr gewährleisten, das muss man auf den Punkt bringen“, betonte Dr. Michael Sasse, leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH).
Abgelehnte kleine Patienten: Situation verschärft sich von Jahr zu Jahr
Für die Umfrage wurden 130 Kinderkliniken angeschrieben, 110 Häuser haben ihre Daten vom Stichprobentag 24. November 2022 zur Verfügung gestellt. Die 110 Häuser weisen insgesamt 607 aufstellbare Betten aus, von denen aber lediglich 367 Betten betrieben werden können.
Grund für die Sperrung von 39,5% der Intensivbetten ist hauptsächlich der Personalmangel. An 79 Häusern (71,8% der Befragten) ist der Mangel an Pflegepersonal konkreter Grund für die Sperrung der Betten. 47 Kliniken melden null verfügbare Betten, 44 Kliniken ein freies Bett.
Jede 2. Klinik berichtet, dass sie in den vergangenen 24 Stunden mindestens ein Kind nach Anfrage durch Rettungsdienst oder Notaufnahme nicht für die Kinderintensivmedizin annehmen konnten – 116 abgelehnte Patienten an nur einem Tag. „Diese Situation verschärft sich von Jahr zu Jahr und wird auf dem Rücken kritisch kranker Kinder ausgetragen“, konkretisierte Hoffmann.
Wie sich die Situation immer weiter verschärft, verdeutlichte Hoffmann am Beispiel einer „Heatmap“, auf der die Aufnahmekapazitäten der 5 Kinderintensivstationen in München verzeichnet sind. Jede Stunde muss den Rettungsleitstellen gemeldet werden, ob es freie Kapazitäten gibt:
Orange bedeutet, dass noch eine der 5 Stationen aufnahmefähig ist,
Rot bedeutet, dass keine Station mehr über Kapazitäten verfügt.
„Über die Jahre kann man sehen, wie der Mangel zugenommen hat. Wir haben mittlerweile – auch in den letzten 4 Wochen war das so – zu 100% rot. Alle Kinderintensivstationen waren rund um die Uhr abgemeldet, wer trotzdem versorgt werden muss, kommt per Zwangsbelegung. Das ist kein momentanes Problem, sondern eines, das die letzten Jahre zugenommen hat“, berichtete Hoffmann.
Fast 40% der Intensivbetten wegen Personalmangel gesperrt
Die Auswertung der Umfrage zeigt, dass 39,5% der Kinder-Intensivbetten gesperrt sind, im Schnitt 4,4 Betten pro Intensivstation. „Wir sehen: Gefragt nach den Intensivkapazitäten zeichnet sich ein Bild, dass deutschlandweit – egal ob Norden, Süden, Osten oder Westen – durchschnittlich 40% der Kinder-Intensivbetten wegen Personalmangel gesperrt sind. Bei rund 80% der Befragten fehlt Pflegepersonal, es fehlen teilweise aber auch Ärzte“, resümiert Prof. Dr. Sebastian Brenner, Bereichsleiter der interdisziplinären Pädiatrischen Intensivmedizin der Neonatologie und Pädiatrischen Intensivmedizin der Unikinderklinik Dresden und DIVI-Kongresspräsident.
„Wir haben einen kritischen Pflegemangel, der zu einer dramatischen Situation der betreibbaren Betten führt. Pflegepersonal und Ärzte sind am Limit, wir betreiben diese Betten, ohne noch weitere Ressourcen zu haben für z.B. einen weiteren Notfall, bei dem wir gegebenenfalls 6 oder 7 Leute für eine Reanimation brauchen. Diese Leute fehlen dann wiederum an den anderen Bettplätzen“, betonte Brenner.
Auch diejenigen, die auf Kinderintensivstationen arbeiten, brauchen Pflege
„Wir müssen das System akute Notfallversorgung neu denken. Mitarbeiter-Bindung ist für die Zukunft sehr wichtig, wir brauchen moderne Arbeitsmodelle, eine verlässliche Dienstplanung. Das Einspringen nach dem Dienst, der Ersatz von Krankheitsausfällen – das kostet so viel Kraft für die Mitarbeiter und führt dann letztlich zu Überlegungen, den Beruf zu verlassen“, berichtete Dr. Karin Becke, Chefärztin der Anästhesie an der Cnopfschen Kinderklinik in Nürnberg.
Dr. Nora Bruns, Fachärztin für Kinderintensivmedizin am Universitätsklinikum Essen und Mutter von 3 Kindern, und Julia Daub, Intensivpflegekraft am Universitätsklinikum Tübingen, erinnerten daran, wie wichtig flexible Arbeitszeitmodelle sind. Um auch Mütter nach der Elternzeit wieder ans Bett zurückzuholen, brauche es verlässliche Dienstpläne, verlässliche Kinderbetreuung und Teilzeitmodelle, betonte Daub.
Sasse berichtete von Anti-Burnout-Programmen mit Supervision und Ausbildung für Krisengespräche, um die Resilienz der Mitarbeiter zu stärken. „Ohne solche Angebote kann man die Menschen auf den Intensivstationen gar nicht halten, weil es einfach zu belastend ist – gerade jetzt in der Situation der Bettenknappheit, die dazu führt, dass wir Patienten absagen müssen.“
Solche Programme, so Sasse, seien wichtige Bausteine, um Menschen für die Arbeit auf Intensivstationen zu gewinnen und zu halten. Diese Systeme seien aber sehr teuer, entsprechende Programme bietet die MHH spendenfinanziert an: „Das ist auf Dauer kein tragbarer Zustand“, betonte Sasse. Die Stärkung der Resilienz der Mitarbeiter braucht eine solide Finanzierung im Gesundheitssystem.
DIVI fordert optimierte Arbeitsbedingungen und Telemedizin
Die Experten der DIVI stufen die Umfrage-Ergebnisse als alarmierend ein und fordern eine Optimierung der Arbeitsbedingungen:
Optimierung der Ausbildungsbedingungen, d.h. Kinderkliniken müssen verpflichtet werden, Kinderkrankenpflege auszubilden.
Optimierung der Arbeitsbedingungen durch Ausfallskonzepte, d.h. geplante Freizeit bleibt Freizeit, und Urlaub bleibt Urlaub.
Optimierung der Arbeitsbedingungen durch bezahlte Fortbildung in der Arbeitszeit.
Optimierung der Arbeitsbedingungen durch Entlastung von pflegefernen Aufgaben (Medizinische Fachangestellte, Pflegeassistenz, Hostessen, Reinigungskräfte).
Pflegekräfte müssen es sich leisten können, dort zu wohnen, wo sie arbeiten. Die DIVI fordert deshalb eine deutlich bessere Bezahlung der Pflegekräfte.
Kritische kranke Kinder brauchen zudem überregionale Strukturen und Netzwerke. Die DIVI fordert deshalb:
den Aufbau telemedizinischer Netzwerke für den Austausch der behandelnden Teams untereinander, um allen Kindern die gleiche Versorgungsqualität zukommen lassen zu können;
den Aufbau von spezialisierten Kinderintensivtransport-Systemen, um Kinder sicher und von Kinderexperten begleitet zu transportieren.
Die Kinder-Intensivmediziner setzen sich zudem dafür ein, die Rechte der Kinder ins Grundgesetz aufzunehmen. Nur so würden Kinder mehr in den politischen und gesellschaftlichen Fokus rücken – und nur so könne die medizinische Versorgung für die Kleinsten nachhaltig verbessert werden.
„Wenn alle zuvor genannten Forderungen erfüllt wären, wenn sich der Beruf von Medizinern sowie Pflegenden mit Familie vereinbaren lässt und wenn die stetige Dauerbelastung in den Kliniken aufhört, dann schaffen wir es, uns wieder um alle schwer kranken Kinder mit der notwendigen höchsten Versorgungsqualität kümmern zu können“, sagte Hoffmann.
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Credits:
Photographer: © Spotmatik
Lead image: Dreamstime.com
Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: „40% gesperrt!“ Lage auf Kinder-Intensivstationen katastrophal – so müssen laut DIVI die Arbeitsbedingungen optimiert werden - Medscape - 7. Dez 2022.
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