„Das Leid ist unermesslich“: Wie „Ärzte ohne Grenzen“ in der Ukraine helfen – deutscher Notfallmediziner berichtet

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

6. Dezember 2022

Hamburg – Zerstörte Notaufnahmen und Krankenhäuser ohne Wasser und Strom, Kriegsverletzte und chronisch Kranke, die nicht mehr ausreichend versorgt werden können: Auf dem Kongress der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) berichtete Dr. Tankred Stöbe, Notfallmediziner für „Ärzte ohne Grenzen“, über seinen Einsatz in der Ukraine [1].

Auch wenn die direkte Versorgung von Kriegsverletzten zu den Kernaufgaben von „Ärzte ohne Grenzen“ zählt – in der Ukraine sind sie darin nicht eingebunden. „Wir wissen wenig genaue Zahlen über Verletzte und Verwundete, das ist Teil des Kriegsgeheimnisses. Wir sehen aber mit den Amputationsverletzungen die enormen Ausmaße, und wir sehen Zehntausende Verwundete – das Leid ist unermesslich“, berichtete Stöbe. „In der Ukraine läuft das unter Militärdekret. Das akzeptieren wir und versuchen uns deshalb in den Bereichen einzubringen, in denen Lücken in der Versorgung bestehen.“

 
Wir sehen mit den Amputationsverletzungen die enormen Ausmaße, und wir sehen Zehntausende Verwundete – das Leid ist unermesslich. Dr. Tankred Stöbe
 

So sind Teams von „Ärzte ohne Grenzen“ in Cherson unterwegs, der lange umkämpften Stadt im Süden, die seit Kurzem wieder unter ukrainischer Kontrolle, aber unter Dauerbeschuss der russischen Artillerie steht. Auch wenn zahlreiche Bewohner die Stadt verlassen haben, wollen viele nicht weg, berichtete Stöbe: „In Cherson – aber das sehen wir überall in diesen Frontgebieten – sagen die Menschen, ich gehe hier nicht weg, das ist meine Heimat. Das ist mein Zuhause. Wenn ich das aufgebe, dann ist das für immer verloren.“

Chronisch kranke Menschen, wie Diabetiker, Hochdruckpatienten und Lungenkranke, hatten in Cherson monatelang keinen Zugang zu medizinischer Versorgung. Die Teams von „Ärzte ohne Grenzen“ versuchen, diese Menschen mitzuversorgen. In Mykolajiw wurde eine Dialyse-Station wieder aufgebaut, in der 100 Menschen pro Woche versorgt werden.

Vor Kurzem wurde die Wasserversorgung in Mykolajiw zerbombt. Im Innenhof wurde eine große Wasserblase installiert. Das Wasser durchläuft viele Reinigungsprozesse und kann dann als Trinkwasser und für die Dialyse genutzt werden. „Ohne diese Dialysestation würden dort Dutzende Menschen sterben“, so Stöbe.

Frührehabilitation für amputationsverletzte Patienten

Zu den Aufgaben der Teams gehört es auch, eine Frührehabilitation für amputationsverletzte Patienten aufzubauen. „Diese Menschen haben oft ein Bein oder beide Beine verloren, oder einen Arm. Wir versuchen, für sie schnelle Hilfe zu organisieren, so dass eine Woche nach dem Trauma Prothesen angepasst werden können und dann die Frührehabilitation beginnen kann.“

 
Diese Menschen müssen ihr Leben komplett umkrempeln, davon wird keiner in ein normales Leben zurückkehren können, diese Menschen sind für immer gezeichnet. Dr. Tankred Stöbe
 

Stöbe berichtete von Tausenden von Betroffenen, es fehle an allen Ecken und Enden. „Diese Menschen müssen ihr Leben komplett umkrempeln, davon wird keiner in ein normales Leben zurückkehren können, diese Menschen sind für immer gezeichnet.“

Einer dieser Menschen ist Timofeji: ein junger Mann, der kurz vor Mitternacht auf eine Landmine getreten war. Erst merkte er nur, dass seine Knie wegsackten, der Schmerz kam erst später. Erst als er seine Beine verbinden wollte, merkte er, dass auch seine Hände verletzt sind und bat seine Kameraden, ihm die Beine abzubinden. Das linke Bein musste amputiert werden, das rechte Bein ist schwer verletzt. Es dauerte mehrere Stunden, bis er in ein Krankenhaus gebracht werden konnte. 

 
Er ist ein Beispiel für eine schwerste und chronische Dauertraumatisierung, sein Schmerz ist Ausdruck seiner seelischen Qualen. Dr. Tankred Stöbe
 

„Er erzählte mir, dass er weiterkämpfen würde, wenn es denn gehe. Aber natürlich wird sich sein Leben vollständig ändern. Und das Schlimmste war für ihn nicht die drohende Amputation, sondern dass er nicht schreien konnte. Weil er wusste, wenn er in der Nacht schreit, wird der Feind auf sie aufmerksam, und er bringt seine Mitkämpfer in Gefahr“, berichtete Stöbe.

Überall Schmerzen – Ausdruck der seelischen Qualen

Oder Antolji, ein erfahrener Soldat: In seinem Bataillon, ursprünglich 120 Mann stark, haben nur 13 überlebt, im Krieg hat er 2 Brüder und 4 Onkel verloren. Körperlich ist Antolji verhältnismäßig leicht verletzt, seelisch ist er schwerst traumatisiert. „Unsere Physiotherapeuten konnten ihn gar nicht behandeln, weil er überall Schmerzen hat. Seine Rückenverletzungen konnten diese Schmerzen jedoch nicht erklären. Er ist ein Beispiel für eine schwerste und chronische Dauertraumatisierung, sein Schmerz ist Ausdruck seiner seelischen Qualen“, berichtete Stöbe.

Neben Physiotherapie erhält Antolji eine akute Traumatherapie – ein Verfahren, das in der Ukraine noch nicht etabliert ist: „Wir müssen dafür sensibilisieren. Gerade Männer sind dafür nicht so offen. Aber dann stellen sie fest, dass es ihnen guttut, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Und sie merken, sie sind nicht alleine damit. Wir sehen, dass es diesen Menschen nach wenigen Sitzungen deutlich besser geht.“

Medizinischer Zug bringt Verletzte in sichere Westgebiete

Seit März dieses Jahres betreibt „Ärzte ohne Grenzen“ auch einen medizinischen Zug in der Ukraine. „Damit können wir Schwerverletzte, auch Intensivpatienten, von der Front im Osten ins Zentrum des Landes oder in sichere Westgebiete der Ukraine transportieren“, berichtete Stöbe. Im umgebauten Zug befinden sich Intensivbetten mit Beatmungsmöglichkeiten, ein ganzes Abteil ist nur für die Strom- und Sauerstoffbereitstellung eingerichtet. Laut Stöbe sind bislang über 2.000 Patienten transportiert worden.

Neben Kriegsverletzten und Intensivpatienten evakuieren die Mediziner auch Heimpatienten aus den Frontgebieten in den Westen. Die Einrichtungen, in denen sie bislang gelebt haben, werden beschossen, sind von der Wärmeversorgung und Elektrizität abgeschnitten oder längst zerstört. Nicht nur der Transport selbst ist eine Herausforderung, sondern auch, neue Plätze zu finden, denn die Heime in Kiew oder Lwiw sind voll.

Manche Heimbewohner wehren sich auch gegen die Evakuierung. „Da muss viel Überzeugungsarbeit geleistet werden“, berichtete Stöbe. „Manche sagen, ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, ich will hier nicht weg. Das sind sehr berührende Geschichten von alten Menschen, die alles verloren haben und die wissen, dass das ihre letzte Reise sein wird. Sie werden wahrscheinlich nicht zurückkehren.“

Beeindruckende Leistungen der ukrainischen Ärzte und Pflegekräfte

Stöbe und seine Kollegen haben auch mit Ärzten und Pflegekräften über den extremen mentalen Stress gesprochen, monatelang unter Artillerie- und Bombenbeschuss und mit zunehmend beschädigter Infrastruktur zu arbeiten. „Manche berichten, dass sie freitags angeln gehen, um sich zu entspannen, andere lernen nachts eine neue Sprache. Unter den Kollegen zeigt sich eine enorme Resilienz. Was da geleistet wird, ist absolut beeindruckend“, schloss Stöbe.

 
Was da geleistet wird, ist absolut beeindruckend. Dr. Tankred Stöbe
 

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