Der Anteil an posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) bei den psychischen Erkrankungen scheint unter Transgender- und Gender-Diverse-Personen (TGD) höher zu sein als bei psychisch kranken Cisgender-Personen, wie neue Forschungsergebnisse zeigen. Die Studie wurde im Journal of Clinical Psychiatry publiziert [1].
Obwohl affektive Störungen, Depressionen und Angstzustände die häufigsten Diagnosen sowohl bei TGD- als auch bei Cisgender-Personen waren, „fanden wir beim Vergleich der diagnostischen Profile der beiden Gruppen eine erhöhte Prävalenz der PTBS und der BPS“, sagte der Leiter der Studie Dr. Mark Zimmerman, Professor für Psychiatrie an der Brown University in Rhode Island, gegenüber Medscape.
„Für uns bedeutet dies, dass man sich in der psychiatrischen Versorgung von TGD-Personen nicht nur auf affektive Störungen und Angststörungen konzentrieren, sondern auch für die nötige Expertise zu PTBS und BPS sorgen sollte“, sagte Zimmerman.
Lückenhafte Literatur
TGD-Personen „weisen sowohl im Allgemeinen als auch im Vergleich zu Cisgender-Personen häufig verschiedene Psychopathologien auf“, schreiben die Forschenden.
Sie erklären, dass die meisten empirischen Evidenzen auf dem Einsatz unstrukturierter psychodiagnostischer Assessments und der Bewertung einer „begrenzten Konstellation psychiatrischer Symptombereiche“ beruhen, was zu einer „lückenhaften Literatur führt, in der jede Forschungsarbeit nur Erhöhungen auf einem oder wenigen Diagnosefeldern belegt“.
Studien, die sich umfassenderen psychosozialen Gesundheitsvariablen widmen, stützen sich häufig auf Selbstauskünfte. Darüber hinaus verwendete keine Studie mit einem strukturierten Interviewansatz „ein formales Interview-Verfahren zur Bewertung psychiatrischer Diagnosen.“ Die meisten Studien konzentrierten sich nur auf eine „begrenzte Anzahl psychiatrischer Zustände auf der Basis von Selbstberichten über frühere Diagnosen“.
Das Ziel der aktuellen Studie bestand darin, mithilfe von semistrukturierten Interviews, die von Fachleuten durchgeführt wurden, die diagnostischen Profile einer Stichprobe von TGD- und Cisgender-Personen zu vergleichen, die sich in einer Tagesklinik als lebensnahes, klinisches Umfeld zur Therapie einfanden.
Es gab laut Zimmerman noch ein weiteres Motiv zur Durchführung dieser Studie: „In der Fachwelt wurde diskutiert, ob TGD-Personen alle eine Borderline-Persönlichkeitsstörung haben. Das war jedoch nicht unser klinischer Eindruck.“
Vielmehr glauben Zimmerman und sein Team, dass TGD-Personen „möglicherweise eine schwierigere Kindheit hatten und aufgrund gesellschaftlicher Ressentiments mit vermehrtem Stress durch Mikroaggressionen oder offenes Mobbing und unverstellte Aggression umzugehen lernen mussten“. Die Studie wollte in ihrer Konzeption auch dieser Frage nachgehen.
Darüber hinaus haben Studien, die im Rahmen der Primärversorgung bei Personen, die sich einer geschlechtsangleichenden Operation unterziehen wollten, durchgeführt wurden „über eine begrenzte Anzahl psychiatrischer Diagnosen berichtet. Wir haben uns aber gefragt, ob es speziell bei psychiatrischen Patienten Unterschiede in den Diagnoseprofilen zwischen TGD- und Cisgender-Personen gibt. Und wenn ja, was könnte das für die Versorgung dieser Personengruppe bedeuten?“
TGD nicht gleichbedeutend mit Borderline-Störung
Um dies zu untersuchen, führten die Forschenden semistrukturierte diagnostische Interviews zu DSM-IV-Störungen mit 2212 psychiatrischen Patienten durch (66% cisgender Frauen, 30,8% cisgender Männer, 3,1% TGD; Durchschnittsalter 36,7 Jahre, Standardabweichung 14,4), die zwischen April 2014 und Januar 2021 in der psychiatrischen Tagesklinik des Rhode Island Hospital erschienen waren.
Die Patienten füllten einen demografischen Fragebogen aus, in dem sie ihr bei der Geburt zugewiesenes Geschlecht und ihre aktuelle Geschlechtsidentität angaben. Die meisten waren ledig (44,9%), gefolgt von 23,5%, die verheiratet waren, 14,1%, die in einer eheähnlichen Beziehung lebten, 12,0% waren geschieden, 3,6% getrennt lebend und 1,9% verwitwet.
Fast 3 Viertel der Teilnehmenden (73,2%) bezeichneten sich als Weiße, gefolgt von Hispanoamerikanern (10,7%), Schwarzen (6,7%), „anderen“ oder einer Kombination verschiedener Ethnien (6,6%) und Asiaten (2,7%).
Dabei zeigten sich keine Unterschiede zwischen den Cisgender- und den TGD-Gruppen hinsichtlich der Ethnie oder des Bildungsniveaus, allerdings waren die TGD-Patienten signifikant jünger als ihre Pendants aus der Cisgender-Gruppe und auch mit signifikant größerer Wahrscheinlichkeit noch nie verheiratet.
Die durchschnittliche Anzahl psychiatrischer Diagnosen in der Stichprobe betrug 3,05 (1,73), wobei die Zahl unter den TGD-Personen größer war als in der entsprechenden Cisgender-Altersgruppe (durchschnittlich 3,54 ± 1,88 gegenüber 3,04 ± 1,72; t = 2,37; p = 0,02).
Depressive Episoden und generalisierte Angststörungen waren sowohl bei Cisgender- als auch bei TGD-Patienten die häufigsten Störungen. Nach Adjustierung des Alters stellten die Forschenden jedoch fest, dass die PTBS und die BPS in der TGD-Gruppe signifikant häufiger diagnostiziert wurde als in der Cisgender-Gruppe (beide p < 0,05).
Störung | Cisgender | TGD -Gruppe | Odds Ratio (95% Konfidenzintervall) |
---|---|---|---|
depressive Episode | 59,0% | 46,4% | 0,62 (0,38–1,01) |
generalisierte Angststörung | 52,4% | 56,5% | 1,06 (0,65–1,72) |
PTBS | 28,1% | 42,0% | 1,82 (1,11–2,98) |
BPS | 18,8% | 36,2% | 1,87 (1,12–3,11) |
„Bemerkenswert dabei ist, dass nur bei etwa einem Drittel der TGD-Personen eine BPS diagnostiziert wurde. Es ist somit wichtig anzuerkennen, dass TGD nicht gleichbedeutend mit einer BPS ist, wie von manchen behauptet wird“, bemerkte Zimmerman, der auch Leiter der Tagesklinik am Rhode Island Hospital ist.
Eine repräsentative Stichprobe?
Medscape bat Dr. Jack Drescher, Ehrenmitglied der American Psychiatric Association (APA) und Professor für Psychiatrie an der Columbia University in New York, um einen Kommentar. Für ihn sind die Ergebnisse „interessant“, doch er wies auch auf die Einschränkung der Studie hin, dass „eine Patientenpopulation mit wahrscheinlich schwereren psychiatrischen Erkrankungen eingeschlossen wurde, da es sich ausschließlich um Tagesklinikpatienten handelte“.
Es stelle sich die Frage, ob ähnliche Ergebnisse auch bei einer weniger schwer erkrankten Population erzielt würden, sagte Drescher, der für die Columbia University auch in beratender Funktion bei Themen rund um die Sexualität und Gender tätig ist und nicht an der Studie beteiligt war. „Die Patienten in der Studie sind möglicherweise weder für die Cis- noch für die Transgenderpopulation repräsentativ.“
Er zeigte sich von dem Ergebnis bezüglich der PTBS „nicht überrascht“, da es „mit unserem Verständnis von den Traumaformen übereinstimmt, die Transgender-Personen im täglichen Leben erleiden.“
Zudem würden manche Menschen das diagnostische Kriterium der Identitätsverwirrung in der BPS missverstehen und denken, dass alle Transgender-Personen eine Borderline-Persönlichkeitsstörung hätten, weil Menschen mit Geschlechtsdysphorie über ihre Identität verwirrt sein können, „aber das trifft nicht zu“.
Zimmerman war der gleichen Auffassung: „Die große Mehrheit der Menschen mit BPS hat keine TGD-Identität, und TGD sollte auch nicht mit einer BPS gleichgesetzt werden“, sagte er.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Psychiatrische Expertise gefragt: PTBS und Borderline-Störungen häufiger bei Transgender- und Gender-Diverse-Personen? - Medscape - 6. Dez 2022.
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