In den letzten 50 Jahren haben sich Arzt-Patienten-Beziehungen grundlegend von einem autoritären zu einem partnerschaftlichen Modell der Zusammenarbeit entwickelt. Kommunikation bei Konsultationen spielt die Schlüsselrolle – mit dem Ziel, eine patientenzentrierte Versorgung zu etablieren. Das gelingt nicht immer: Häufig fallen sich Ärzte und Patienten gegenseitig ins Wort. Welche Gründe für diese Unterbrechungen gibt es?
Störung des Informationsaustauschs
Unterbrechungen können sich negativ auf Schlüsselelemente des Austauschs auswirken, insbesondere auf die Übermittlung von Informationen oder den Aufbau einer Bindung.
Studien haben gezeigt, dass es bei ambulanten Arztbesuchen von Erwachsenen zahlreiche Störungen im Dialog gibt. Bis zu 75% aller Patienten werden von ihrem Arzt unterbrochen, bevor sie ausgeredet haben. Durch Störungen verkürzt sich die durchschnittliche Redezeit des Patienten bei der anfänglichen Schilderung seines Problems im Schnitt von 73-150 Sekunden auf knappe 12-23 Sekunden.
Aufdringliche oder kooperative Unterbrechungen
Die Auswirkungen solcher Störungen sind unklar. Einige Studien zeigen, dass Patienten Unterbrechungen als aufdringlich empfinden – vor allem, falls Ärzte so das Gespräch an sich reißen, sprich Macht gewinnen. Dann sind Patienten womöglich nicht mehr in der Lage, ihre Anliegen komplett zu schildern.
Doch nicht alle Unterbrechungen sind per se negativ. Es gibt Szenarien, in denen kooperative Unterbrechungen dazu beitragen können, den Informationsfluss aufrechtzuerhalten und dem Patienten Unterstützung zu signalisieren.
Aufdringliche Unterbrechungen wie Themenwechsel oder Meinungsverschiedenheiten bewerten Patienten jedoch negativ, im Unterschied zu kooperativen Unterbrechungen wie Rückfragen.
Gender-Unterschiede
Unterbrechungen wurden lange Zeit mit Männlichkeit und mit männlicher Dominanz in Verbindung gebracht, obwohl manche Forscher diesen Zusammenhang infrage gestellt haben. Eine systematische Analyse in verschiedenen Konsultationsphasen fehlte aber bislang.
Was zeigen Daten aus dem Versorgungsalltag?
Bei einer Studie aus der Primärversorgung haben Forscher untersucht, ob die Rolle des Sprechers (des Arztes oder des Patienten) und das Geschlecht des Sprechers die Art der Unterbrechung in speziellen Beratungsphasen (Erstbesuch oder Nachuntersuchung) vorhersagen.
Die Konsultationen dauerten im Schnitt 870 Sekunden (14,5 Minuten), mit einer Spanne von 275 Sekunden (4,5 Minuten) bis 2.091 Sekunden (35 Minuten). Bei ihrer Analyse konzentrierten sich die Forscher auf die Phase der Problemdarstellung und die Phase der Diagnose oder des Behandlungsplans.
Bei allen Konsultationen gab es mindestens 1 Unterbrechung, im Durchschnitt waren es etwa 29 Unterbrechungen pro Konsultation. Von insgesamt 2.405 identifizierten Unterbrechungen waren 1.994 (82,9%) kooperativ und 304 (12,6%) aufdringlich. Bei den verbleibenden 107 Unterbrechungen (4,4%) war die Art der Unterbrechung unklar.
Die Patienten machten 55,5% aller Unterbrechungen aus, 55% der kooperativen Unterbrechungen und 58,9% der aufdringlichen Unterbrechungen. Die 1. Unterbrechung durch den Arzt erfolgte in 56% der 84 Konsultationen, im Durchschnitt 36,3 Sekunden nach Beginn der Problemdarstellung, und 89% dieser Unterbrechungen waren kooperativ.
Wann – und von wem – die Gespräche oft unterbrochen werden
Bei aufdringlichen Unterbrechungen fanden die Studienautoren signifikante Unterschiede, wann Störungen auftraten. Sie wurden…
eher von Patienten als von Ärzten (Odds Ratio [OR]=3,17) ausgelöst,
eher von Männern als von Frauen (OR=1,67) initiiert,
eher in der Phase der Diagnose oder des Behandlungsplans als in der Phase des Erstgesprächs (OR=2,24) beobachtet.
In der Arztgruppe unterbrachen Männer häufiger das Gespräch aufdringlich als Frauen (OR=1,54): in der Patientengruppe taten Männer dies seltener als Frauen (OR=0,70).
Missverständnisse ausräumen
Obwohl Unterbrechungen von Patienten durch Ärzte lange Zeit immer als aufdringliche Handlungen angesehen wurden, zeigen diese Ergebnisse, dass die meisten Unterbrechungen durch Ärzte in Wirklichkeit andere Gründe haben.
Ärzte unterbrachen Patienten hauptsächlich, um ihre Unterstützung zum Ausdruck zu bringen oder um Missverständnisse auszuräumen. Aktuelle Daten stützen die Hypothese, dass kooperative Unterbrechungen durch den Arzt in der Anfangsphase des Gesprächs die Qualität der Kommunikation eher verbessern als beeinträchtigen können.
Patienten unterbrachen Ärzte häufiger auf eine aufdringliche Weise. Solche Ergebnisse korrigieren die intuitive Annahme, dass es hauptsächlich der Arzt ist, der Gespräche an sich reißt. Außerdem unterbrachen männliche Ärzte und weibliche Patienten am häufigsten aufdringlich, während weibliche Ärzte und männliche Patienten am häufigsten kooperativ unterbrachen.
Nicht jede Störung ist negativ
Beim Erstgespräch unterbrachen Ärzte Patienten seltener als umgekehrt, was darauf hindeutet, dass Ärzte die Kontrolle der Patienten in dieser anfänglichen und kritischen Phase des Dialogs anerkannten.
Auf der anderen Seite machten Ärzte in der Phase der Diagnose oder der Besprechung des Behandlungsplans fast so viele aufdringliche Unterbrechungen wie Patienten, was auf mehr Anspannung oder Zeitdruck und eine wiederholte Ausübung von Autorität beim Gespräch hindeutet.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Unterbrechungen von Ärzten und Patienten im Dialog häufig kooperative Handlungen sind, die Interaktionen und damit die Arzt-Patienten-Beziehung verbessern können. Vor allem in der initialen Phase von Gesprächen bestätigen Unterbrechungen des Arztes sein Interesse am Patienten und an dessen Vorgeschichte – ohne ihm seine Rolle als Sprecher streitig zu machen.
Der Artikel ist im Original erschienen auf Univadis Italy und wurde für Medscape.com übersetzt. Er wurde von Michael van den Heuvel ins Deutsche übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold – nicht unbedingt beim Arzt-Patienten-Gespräch, sagen Forscher - Medscape - 7. Dez 2022.
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