Hamburg – Die Lage in den Kinderkliniken spitzt sich zu. Immer mehr Kinder leiden an Atemwegserkrankungen infolge einer RSV-Infektion. Das Respiratorische Synzytial-Virus (RSV), ein RNA-Virus, ist der am häufigsten nachgewiesene Erreger von Erkrankungen der unteren Atemwege in den ersten beiden Lebensjahren.
Normalerweise verläuft diese Infektion nicht schwer, aber es gibt 10% Kinder – vor allem die ganz Kleinen und Frühgeborene –, die schwer darunter leiden. Gelegentlich müssen diese Kinder dann in die Klinik, brauchen Sauerstoff und manche eine Magensonde. So war das in den vergangenen Jahren.
Dass die Kinderkliniken jetzt ihren kleinen Patienten kaum noch Herr werden, hat mit dem rasanten Anstieg und dem Ausmaß der Infektionen zu tun – und mit dem zunehmenden Personalmangel durch Krankheitsausfälle und Kündigungen. Wie Dr. Michael Sasse, leitender Oberarzt der Kinderintensivmedizin der MHH, auf der Pressekonferenz der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) in Hamburg erklärte, hatten Kinder aufgrund der COVID-19-Schutzmaßnahmen keine Gelegenheit, sich zu infizieren [1].
Denn normalerweise macht jedes Kind innerhalb der ersten 2 Lebensjahre eine RSV-Infektion durch und hat danach einen gewissen Antikörperschutz. Jetzt allerdings „machen 3 Jahrgänge von Kindern diese Infekte durch, weil sie jetzt ohne Mundschutz durch die Gegend rennen“, erläuterte Sasse. Über mehrere Jahre hatten sich Kinder nicht mit RSV infiziert.
„Das überfordert die Kliniken“, betonte Sasse. Momentan würden Kinder mit Beatmungs-Unterstützungssystemen in kleinen Kinderkliniken auf den Normalstationen behandelt – Kinder, die aufgrund ihres Zustands eigentlich auf die Intensivstation gehörten. „Die Situation ist so prekär, dass man wirklich sagen muss: Kinder sterben, weil wir sie nicht mehr versorgen können“, mahnte Sasse.
Kinder mit RSV liegen teilweise seit Tagen in der Notaufnahme
„Die RSV-Welle baut sich immer weiter auf und macht bei vielen Kindern die Behandlung mit Atemunterstützung notwendig. Wir können Stand heute davon ausgehen, dass es für diese Behandlung nicht genügend Kinder-Intensivbetten gibt“, sagte Prof. Dr. Sebastian Brenner, Bereichsleiter der interdisziplinären Pädiatrischen Intensivmedizin der Neonatologie und Pädiatrischen Intensivmedizin der Unikinderklinik Dresden.
Wie angespannt die Situation ist, bestätigte auch Prof. Dr. Florian Hoffmann, Oberarzt in der Kinderintensivmedizin am Dr. von Haunerschen Kinderspital des Universitätsklinikums München. In der Notaufnahme der Klinik lagen über Nacht 3 Kinder, die nicht regulär aufgenommen werden konnten – weder im Kinderspital noch irgendwo in München oder in einer anderen Klinik in Bayern, so Hoffmann, Generalsekretär der DIVI.
„Eines der Kinder mit einer RSV-Infektion lag schon 48 Stunden in einem Behandlungszimmer der Notaufnahme mit Sauerstoff. Das heißt: Wir behandeln jetzt schon in der Notaufnahme – die eigentlich für Notfälle gedacht ist – bereits längerfristig“, so Hoffmann.
Stand der Impfstoffe gegen RSV
Bislang ist kein Impfstoff zur aktiven Immunisierung zugelassen. Die einzige derzeit verfügbare Möglichkeit zur Prävention ist Palivizumab zur passiven Immunisierung. Der monoklonale Antikörper ist jedoch auf Hochrisikokinder beschränkt, wird von den Kassen auch nur für diese bezahlt. Für eine RSV-Saison sind 5 Injektionen erforderlich – das kann das Risiko, schwer zu erkranken, reduzieren.
Im September hat der Ausschuss für Humanarzneimittel (CHMP) der EMA die Zulassung von Nirsevimab (Beyfortus®), einem Impfstoff gegen RSV für Neugeborene und Säuglinge empfohlen. Nirsevimab ist ein lang wirkender Antikörper, der als Einzelinjektion intramuskulär verabreicht wird.
Die EMA stützt ihre positive Stellungnahme auf die Ergebnisse mehrerer Studien, darunter die Phase-3-Studie MELODY mit 1.500 Säuglingen. Die Ergebnisse zeigten, dass die Inzidenz von RSV-assoziierten Infektionen der unteren Atemwege bei Patienten, die Nirsevimab erhielten, im Vergleich zu Placebo um 74,5% gesenkt werden konnte. Die Empfehlung wird derzeit von der Europäischen Kommission geprüft.
Im August dieses Jahres hat Pfizer die Ergebnisse einer Phase-3-Studie mit 37.000 Teilnehmern (über 60 Jahre) weltweit veröffentlicht, die gegen RSV geimpft wurden. Der Impfstoff, RSVpreF, ist so konzipiert, dass er auf 2 Stämme des Virus abzielt. Er wurde gut vertragen.
Mitte Oktober gab GlaxoSmithKline (GSK) die Ergebnisse einer Studie mit rund 25.000 gleichaltrigen Erwachsenen bekannt. Die Studie zeigte eine Wirksamkeit von 94,1% gegen schwere Erkrankungen der unteren Atemwege.
Moderna hat außerdem eine Studie im fortgeschrittenen Stadium mit einem mRNA-Impfstoff gegen RSV begonnen.
Neue Studien zeigen: RSV Hauptursache für Klinikaufenthalte in den USA
Die Auswirkungen von RSV sind erheblich, wie neuere Studien zeigen: So sind RSV-Infektionen die Hauptursache für Krankenhausaufenthalte von Säuglingen in den USA. Die durch RSV verursachte akute Bronchiolitis machte zwischen Januar 2009 und September 2015 bzw. zwischen Oktober 2015 und Dezember 2019 9,6% der gesamten Krankenhauseinweisungen von Säuglingen aus. In einer in die Analyse einbezogenen Studie wurde festgestellt, dass RSV von 2009 bis 2019 in den USA 58.000 jährliche Krankenhauseinweisungen und 100 bis 500 jährliche Todesfälle verursacht hatte.
Weltweit wurden bei Säuglingen unter 6 Monaten im Jahr 2015 schätzungsweise 1,4 Millionen Krankenhauseinweisungen und 27.300 Todesfälle im Krankenhaus auf eine RSV-Infektion der unteren Atemwege zurückgeführt. Eine separate Studie vom Mai dieses Jahres ergab, dass RSV bei Kindern unter 5 Jahren für einen von 50 Todesfällen und bei Kindern unter 6 Monaten für einen von 28 Todesfällen verantwortlich war.
Jedes Jahr, auch das zeigen die Ergebnisse, ist RSV weltweit für etwa 3,6 Millionen Krankenhauseinweisungen verantwortlich. Weltweit ist RSV für kleine Kinder der größte Killer nach Malaria. Global sterben pro Jahr schätzungsweise 100.000 Kinder an einer RSV-Infektion, vor allem weil sie nicht rechtzeitig Sauerstoff bekommen.
In Deutschland wird die Sterblichkeit nicht zentral erhoben; Infektionen mit RSV sind nicht meldepflichtig.
Influenza, RSV oder COVID-19? Experten fürchten „Triple-Epidemie“
Eine laufende Nase, verringerter Appetit, Husten, Niesen, Fieber und Keuchen zählen zu den Symptomen einer Infektion mit RSV. Bei jungen Säuglingen kann es aber auch nur zu verringerter Aktivität, Launenhaftigkeit und Atemproblemen kommen, so die Centers for Disease Control and Prevention (CDC).
Das Krankheitsbild der Bronchiolitis – die Entzündung der kleinsten Atemwege – wird zu etwa 90% durch RSV verursacht. Charakteristisch ist für kleine Kinder ein gepresster Husten. Je jünger ein Kind ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass es Probleme bekommt, weil die Atemwege noch sehr eng sind. Besonders gefährdet sind vorerkrankte Säuglinge, zum Beispiel Frühgeborene oder Babys mit angeborenem Herzfehler.
Nach der Definition des Robert Koch-Instituts (RKI), die auf den Ergebnissen der virologischen Sentinel-Surveillance basiert, hält die RSV-Welle schon seit Anfang Oktober (41. KW 2022) und die Grippewelle seit Ende Oktober (43. KW) an.
Im Nationalen Referenzzentrum (NRZ) für Influenzaviren wurden in der 47. KW 2022 in insgesamt 226 (75%) der 301 eingesandten Sentinelproben respiratorische Viren identifiziert, darunter:
108 (36%) Proben mit Influenzaviren,
58 (19%) mit Respiratorischen Synzytial-Viren (RSV),
32 (11%) mit Rhinoviren,
22 (7%) mit humanen saisonalen Coronaviren (hCoV),
18 (6%) mit SARS-CoV-2.
In den USA ist die Situation bei RSV und Influenza ähnlich, auch COVID-19 ist noch nicht vorbei: „Ja, RSV verursacht viel mehr und frühere Krankenhauseinweisungen als in jeder zuvor aufgezeichneten Saison in den USA“, erklärte Prof. Dr. Kevin Messacar, Spezialist für pädiatrische Infektionskrankheiten am Children's Hospital Colorado in Aurora, gegenüber Medscape.
Experten weisen darauf hin, dass die Viren – alle 3 sind Atemwegsviren – einfach aufholen. „Sie verbreiten sich auf die gleiche Weise und zusammen mit vielen anderen Viren, und man neigt dazu, in den kalten Monaten eine Zunahme von ihnen zu beobachten“, konstatierte Prof. Dr. Timothy Brewer, Epidemiologie an der University of California, Los Angele (UCLA).
Die Zunahme aller 3 Viren „ist an diesem Punkt der Pandemie fast vorhersehbar“, sagt auch Prof. Dr. Dean Blumberg, Leiter der Abteilung für pädiatrische Infektionskrankheiten an der University of California Davis Health. „Alle Atemwegsviren sind aus dem Ruder gelaufen.“
Sowohl Kinder als auch Erwachsene hatten in den letzten beiden Saisons weniger Kontakt zu anderen Menschen, sagte Blumberg, „und sie haben nicht die Immunität, die sie gegenüber diesen Infektionen [früher] hatten. Deshalb treten die Viren außerhalb der Saison und zu Beginn der Saison auf.“
Immunitätslücke statt Immunitätsschuld
In einer Veröffentlichung im Lancet vom Juli 2022 stellten Messacar und seine Kollegen fest, dass „die geringere Exposition gegenüber endemischen Viren eine Immunitätslücke geschaffen hat“. Manche bezeichnen die Situation als „Immunitätsschuld“, andere sprechen von einer „Immunitätspause“ oder einem „Immunitätsdefizit“.
Viele Ärzte wehren sich in den sozialen Medien gegen den Begriff „Immunitätsschuld“, denn der Begriff werde dazu benutzt, die COVID-19-Schutzmaßnahmen während der Pandemie zu verunglimpfen. „Ich bevorzuge den Begriff ‚Immunitätslücke‘, der in der epidemiologischen Literatur besser etabliert ist, insbesondere angesichts der jüngsten Politisierung des Begriffs ‚Immunitätsschuld‘“, so Messacar. „Für mich ist die Immunitätslücke eine wissenschaftliche Beobachtung, kein politisches Argument“, fügte er hinzu.
Irgendwann, so Blumberg, werden die Grippe- und RSV-Fälle auf das frühere Niveau zurückgehen. „Das könnte schon im nächsten Jahr der Fall sein“, sagt Blumberg. Und COVID-19 wird hoffentlich wie die Grippe werden, sagte er.
„RSV ist immer im Herbst und Winter aufgetreten“, sagte Dr. Elizabeth Murray, Ärztin für pädiatrische Notfallmedizin am University of Rochester Medical Center und Sprecherin der American Academy of Pediatrics. In diesem Jahr sind die Kinder wieder in der Schule und tragen größtenteils keine Masken mehr: „Das ist ein perfekter Sturm, in dem sich alle Keime ausbreiten können. Sie haben nur auf ihre Gelegenheit gewartet, um zurückzukommen.“
Die Charité hat angekündigt, angesichts der derzeitigen jahreszeitbedingten Häufung von akuten respiratorischen Virusinfekten bei Säuglingen –einschließlich RSV – in den kommenden Tagen mit anderen Kinderkliniken Berlins ein organisatorisches Netzwerk Kindermedizin einzurichten. Vergleichbar ist das mit dem Save-Netzwerk in der Hochphase der Corona-Pandemie.
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Diesen Artikel so zitieren: Außergewöhnliche RSV-Welle überfordert die Kinderkliniken – Gründe für den Anstieg der RSV-Infektionen - Medscape - 2. Dez 2022.
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