Warten auf Godot: Bis Menschen mit Depression therapiert werden, dauert es laut Barometer Depression immer noch zu lange

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

30. November 2022

Es ist oft ein langer Weg, bis Menschen mit Depression Hilfe bekommen. So vergehen im Schnitt schon 20 Monate, bis sie sich Hilfe suchen. Diese und weitere Ergebnisse brachte das jetzt veröffentlichte 6. Deutschland-Barometer Depression der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention.

„8% der erwachsenen Bevölkerung erkranken jedes Jahr an einer behandlungsbedürftigen Depression. Eine Depression ist keine Befindlichkeitsstörung, sondern eine schwere Erkrankung“, sagte Prof. Dr. Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Stiftung Deutsche Depressionshilfe und Suizidprävention und Inhaber der Senckenberg-Professur an der Klinik für Psychiatrie der Universität Frankfurt am Main.

 
Eine Depression ist keine Befindlichkeitsstörung, sondern eine schwere Erkrankung. Prof. Dr. Ulrich Hegerl
 

„Wenn sie nicht konsequent behandelt wird, ist die Lebenserwartung um 10 Jahre reduziert. Depressionen sind die häufigste Ursache für Suizide und Suizidversuche“, betonte Hegerl bei der Vorstellung der Ergebnisse des 6. Barometers Depression [1].

Dass ein großer Teil der Betroffenen Monate oder sogar Jahre brauche, um sich Hilfe zu suchen, sei besorgniserregend. Als Gründe nannte Hegerl die für eine Depression typische Hoffnungslosigkeit und Antriebslosigkeit, aber auch Versorgungsengpässe und die immer noch bestehende Stigmatisierung psychischer Erkrankungen.

Mehr als 5.000 Personen befragt

Im Deutschland-Barometer Depression werden jährlich Einstellungen und Erfahrungen zur Depression in der Bevölkerung untersucht – in diesem Jahr stand die Behandlungssituation im Fokus. Befragt wurde im September 2022 ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt aus 5.050 Personen zwischen 18 und 69 Jahren.

Unter den Befragten wiesen 23% durch eine medizinisch gesicherte Diagnose Depressionen auf. Von einer Zunahme kann man nicht sprechen, denn auch 2021 lag der Anteil bei 23%. Und auch in der Pandemie stieg dieser Anteil nur leicht an: von 21% (2019 und 2020) auf 23% (2021). Anders sieht es bei den Frühberentungen aus: Schieden vor 40 Jahren 9% aufgrund von psychischen Erkrankungen früher aus dem Arbeitsleben aus, sind es aktuell 41%.

Dahinter stecke aber eine überwiegend positive Entwicklung, erklärte Hegerl: „weil sich mehr Menschen mit Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen Hilfe holen, weil eine Depression besser erkannt wird und weil sie weniger häufig versteckt wird hinter Ausweichdiagnosen“.

 
Trotzdem nimmt sich heute eine ganze Kleinstadt weniger das Leben als vor 40 Jahren – und das finde ich einen schönen Erfolg. Prof. Dr. Ulrich Hegerl
 

Das zeigt auch der Rückgang der Suizide aufgrund von Depressionen im gleichen Zeitraum: von 18.000 (1982) auf jetzt 9.100. „Das ist immer noch eine erschreckende Zahl. Trotzdem nimmt sich heute eine ganze Kleinstadt weniger das Leben als vor 40 Jahren – und das finde ich einen schönen Erfolg. Dieser Erfolgsweg muss weiter beschritten werden“, betonte Hegerl.

Lange Wartezeiten

Zwar dauert es im Schnitt 20 Monate, bis sich die Erkrankte Hilfe suchen. Doch die Ergebnisse des 6. Barometers zeigen, dass es große Unterschiede gibt:

  • Ein Drittel aller Patienten sucht sich sofort Hilfe.

  • Bei 65% hat es hingegen länger gedauert, bis sie professionelle Unterstützung in Anspruch genommen haben – im Schnitt 30 Monate.

Wenn sich Patienten Hilfe suchen, wenden sie sich mehrheitlich zunächst an den Hausarzt (51%). Jeder 4. Patient (25%) geht direkt zum Facharzt und 19% als erstes zum Psychotherapeuten. Heilpraktiker geben nur 0,7% der Befragten mit Depression als erste Anlaufstelle an.

In der Befragung berichten die Patienten rückblickend jedoch von wochenlangen Wartezeiten, ehe eine Behandlung beginnen konnte. So gaben sie an, im Schnitt 10 Wochen auf ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten gewartet zu haben, bei Fachärzten im Schnitt 8 Wochen. Durchschnittlich 5 Therapeuten mussten die Befragten nach eigener Erinnerung kontaktieren, ehe sie einen Termin bekamen.

 
Bei einer so leidvollen Erkrankung wie der Depression, die zudem mit hoher Suizidgefährdung einhergeht, sind so lange Wartezeiten nicht akzeptabel. Prof. Dr. Ulrich Hegerl
 

„Bei einer so leidvollen Erkrankung wie der Depression, die zudem mit hoher Suizidgefährdung einhergeht, sind so lange Wartezeiten nicht akzeptabel“, sagte Hegerl. Um die Wartezeiten zu verkürzen, seien Sitze für psychiatrische Fachärzte nötig, so Hegerl.

Psychotherapie und Antidepressiva sind die beiden wichtigsten Behandlungssäulen bei Depression. Von den Befragten, die aktuell erkrankt sind, bekommen 62% Medikamente und 48% Psychotherapie, 35% erhalten eine Kombination aus beidem.

85% der Patienten empfinden Psychotherapie als hilfreich oder eher hilfreich, bei Medikamenten sind es 80%. Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) nutzen bislang nur 7% der an Depressionen erkrankten Menschen, 26% haben noch nichts von DiGA gehört.

Homöopathie, Heilsteine & Co nur selten genutzt

Auf eine evidenzbasierte Therapie legen 78% der Befragten wert. 9% der Patienten nutzen alternative, nicht-evidenzbasierte Verfahren wie Homöopathie, Heilsteine oder Darmreinigung und geben dafür jährlich im Schnitt 227 Euro aus. Als Hauptgrund geben 57% an, nicht nur passiv sein zu wollen, sondern selbst etwas „zur Behandlung beitragen“ zu wollen. Eine Rolle spielen aber auch lange Wartezeiten auf einen Psychotherapieplatz oder Zweifel an etablierten Therapien (je 19%).

 
Die Depression ist die Erkrankung, die im Gesundheitssystem den größten Verbesserungsspielraum aufweist. Prof. Dr. Ulrich Hegerl
 

Die wichtigsten Behandlungsstrategien bei Depressionen sind Antidepressiva und Psychotherapie, aber sehr häufig werden sie nicht genutzt. „Es gibt hier einen sehr großen Verbesserungsspielraum. Die Depression ist die Erkrankung, die im Gesundheitssystem den größten Verbesserungsspielraum aufweist“, betonte Hegerl.

Die Leitlinien-konformen und zahlreichen alternativen Therapieangebote empfinden viele der befragten Patienten (68%) als „Dschungel“, in dem es schwer sei, einen Überblick zu bekommen. Hegerl betonte, dass weitere Aufklärungsarbeit deshalb nötig sei.

„Es gibt einen großen Markt an Verfahren, die große Versprechen zur Genesung machen und viel Geld kosten. Ich kann Patienten nur empfehlen, sich in der Nationalen Versorgungsleitlinie Depression zu informieren. Dort sind alle Verfahren, die ausreichende wissenschaftliche Wirksamkeitsbelege haben, aufgeführt. Die Behandlung mit diesen Verfahren wird in den allermeisten Fällen von den Krankenkassen getragen“, so Hegerl.

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Kommentar

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