Der Bundestag hat über das Triage-Gesetz entschieden. Bereits zum Referentenentwurf hatte die AWMF-Taskforce COVID-19 Leitlinien, der die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) angehört, Stellung bezogen und 4 Kritikpunkte sehr deutlich formuliert. Berücksichtigt wurden diese Punkte im neuen Gesetz nicht.
Eine Therapiezieländerung ist eine extrem schwierige und komplexe Entscheidung, für die wir uns ganz viel Zeit nehmen müssen und auch nehmen. Immer! Die DIVI ist der Auffassung, dass das präziser formuliert werden muss, um zu gewährleisten, dass wirklich nur sehr erfahrene Intensivmediziner das 4-Augen-Prinzip durchführen.
„Die DIVI bedauert dies außerordentlich“, sagt DIVI-Präsident Prof. Dr. Gernot Marx in einer weiteren kritischen Stellungnahme. Im neuen Gesetz werfe vor allem §5c Infektionsschutzgesetz (IfSG) Abs. 2, Satz 4 Probleme auf, wie Marx, Direktor der Klinik für Operative Intensivmedizin und Intermediate Care am Universitätsklinikum Aachen, im Interview erklärt.
Medscape: In §5c IfSG Abs. 2, Satz 4 heißt es: „Bereits zugeteilte überlebenswichtige intensivmedizinische Behandlungskapazitäten sind von der Zuteilungsentscheidung ausgenommen“ – was bedeutet dies für die Praxis?
Marx: Zunächst möchte ich klarstellen, dass eine Triage etwas extrem Seltenes ist. Selbst in den schweren Zeiten der Pandemie ist es nicht zu einer Triage in Deutschland gekommen. Erinnern wir uns an Anfang 2021 in der 2. Welle, als in den einzelnen Bundesländern sehr viele Intensivbetten belegt waren: Auch da kam es nicht zur Triage. Das sogenannte „Kleeblatt“ wurde aktiviert und die schwerkranken Patienten, die vor Ort z.B. in Bayern, Thüringen und Sachsen nicht mehr versorgt werden konnten, wurden auf andere Bundesländer verteilt.

Prof. Dr. Gernot Marx
Dass wir uns tatsächlich in eine Triage-Situation und damit Entscheidungen über Leben und Tod befinden – das ist zum Glück in der ganzen Pandemie nicht vorgekommen. Ja, das Wort „Triage“ wurde meiner Meinung nach zu mancher Zeit falsch verwendet, wenn zum Beispiel eigentlich von einer Priorisierung in der Versorgung die Rede war, oder das Wort wurde missbraucht – auch in der medialen Diskussion –, um Schlagzeile zu machen. Aber faktisch hat es keine Triage gegeben.
Es war teilweise eng, keine Frage. Wir nutzen unsere Intensiv-Kapazitäten an der Uniklinik Aachen auch möglichst optimal aus. Das heißt aber nicht, dass wir – wenn ein Notfall-Patient kommt – den nicht versorgen können. Knappe Ressourcen heißt also nicht, dass es zu einer Triage-Situation kommt, das muss man schon trennen.
Aber gesetzt den Fall, es käme jetzt tatsächlich zu einer Triage-Situation: Also ich habe 10 belegte Betten auf der Intensivstation, 2 schwerkranke Patienten kommen über die Notaufnahme neu hinzu, aber es gibt nur noch ein freies Bett mit Beatmungsgerät – und beide brauchen dieses Gerät.
Im Gesetz ist diese Situation jetzt so geregelt, dass die Entscheidung, wer das Gerät bekommt, nur zwischen diesen beiden Patienten getroffen werden darf – also nur, wer neu als Notfall dazu kommt und als intensivpflichtig eingeschätzt wird. Die 10 Patienten, die schon auf der Intensivstation versorgt werden, die werden nicht in die Entscheidung miteinbezogen.
Das ist aber ein sehr wichtiger Aspekt: Unserer Meinung nach – also ich spreche hier als DIVI-Präsident – muss man auch diese Patienten einbeziehen. Denn eine solche Zuteilung kann ja nur aufgrund der Wahrscheinlichkeit getroffen werden, wer die aktuelle intensivmedizinische Behandlung überlebt. Im Zweifelsfall sollte der Patient priorisiert behandelt werden, der die beste Chance hat, die intensivmedizinische Behandlung zu überleben bzw. zurück ins Leben zu kehren.
Medscape: Erwarten Sie, dass dieses faktische Verbot der Ex-Post-Priorisierung zu mehr vermeidbaren Todesfällen führen wird?
Marx: Zumindest ist das Risiko höher, dass es zu mehr vermeidbaren Todesfällen kommt. Weil wir auf der einen Seite diejenigen Patienten weiter behandeln würden, deren Überlebenswahrscheinlichkeit geringer ist, und gleichzeitig aber womöglich ein Patient stirbt, der eine hohe Wahrscheinlichkeit hätte, die aktuelle intensivmedizinische Behandlung zu überleben – nur weil er zu einem späteren Zeitpunkt ins Krankenhaus kommt als die anderen.
Es könnte also theoretisch sein, dass ich aktuell jemanden behandle, dessen Überlebenswahrscheinlichkeit nicht sehr hoch ist, jedenfalls geringer ist als die des Patienten, den ich aktuell aufnehmen würde, wenn ich ein Beatmungsgerät mehr frei hätte. Deswegen ist es möglich, dass vielleicht beide sterben. Derjenige, den ich nicht behandle bzw. behandeln kann, und derjenige, der eben keine hohe Überlebenswahrscheinlichkeit hat.
Medscape: Bedeutet das Gesetz umgesetzt dann eben doch „First-come-first-serve“?
Marx: Naja, in gewissem Sinne schon. Weil es ja heißt: Solange ich Beatmungsgeräte zur Verfügung habe, verwende ich diese. Und wenn die alle belegt sind, dann muss ich sozusagen zwischen den neuen, schwerkranken Patienten auswählen.
Das heißt auch: Habe ich noch eines frei, und es kommt nur ein Patient, muss ich nicht auswählen, sondern kann behandeln. Kommt dann aber kurz darauf noch ein Patient und noch einer, kann ich diese beiden nicht behandeln – egal, was wir als Intensiv-Team diesen Patienten für eine Prognose geben würden. Denn ich hätte ich in dieser Situation keinerlei Kapazitäten mehr und müsste sehen, dass ich sie anderweitig unterbringen kann. Würde mir das in einer absoluten Überlastungssituation nicht gelingen, wären wir dazu verdammt, nichts zu tun.
Medscape: Sollte es eine Triage-Situation geben, und die Regelung kommt zur Anwendung – wird das auch Therapiezieländerungen schwerer machen?
Marx: Diese Sorge ist schon bei vielen Intensivmedizinerinnen und Intensivmedizinern vorhanden. Durch das neue Gesetz könnte man sich bei Therapiezieländerungen schneller im Spannungsfeld einer juristischen Auseinandersetzung wiederfinden, als das bisher der Fall war, ja.
Wobei völlig klar ist: Therapiezieländerungen gehören bereits heute zu unseren schwersten Entscheidungen überhaupt. Das ist ein Entscheidungsprozess, den man nicht macht, ohne eine die behandelnden Berufsgruppen übergreifende Eruierung des Patientenwillens und aller Parameter.
Eine Therapiezieländerung ist eine extrem schwierige und komplexe Entscheidung, für die wir uns ganz viel Zeit nehmen müssen und auch nehmen. Immer!
Medscape: Sie kritisieren am Gesetz auch die eher unpräzise Formulierung zum 4-Augen-Prinzip und haben zugleich einen Lösungsvorschlag parat. Welchen?
Marx: Sollte es zu einer Triage-Entscheidung kommen, tritt das 4-Augen-Prinzip in Kraft. Nur sehr erfahrene Ärzte sollen an einer Entscheidung über Leben und Tod einbezogen werden – was gut ist. Das müssen dann Kolleginnen und Kollegen mit definierter Qualifikation sein, also Fachärztin oder Facharzt plus Zusatzqualifikation Intensivmedizin. Diese Ärzte müssen also mindestens 24 Monate intensivmedizinische Erfahrung nachweisen und eine entsprechende Prüfung absolviert haben. In den Kammern ist genau geregelt, was ein Arzt dazu geleistet haben muss, bevor diese Zusatzqualifikation ausgesprochen wird.
Doch das würde in einer Triage-Situation dem Gesetz nach nur bedingt umgesetzt. Nehmen wir an, es kommt in einem Haus der Grund- und Regelversorgung eines Samstagnachts zu einer Situation, die das 4-Augen-Prinzip notwendig werden lässt. Auf einer solchen Intensivstation befindet sich aber meist nur ein Arzt mit dieser Qualifikation. Unser Vorschlag dazu ist deshalb, dass dann ein 2. Arzt über Telemedizin dazu geholt werden kann.
Wir müssen uns darauf verlassen können, dass die Qualität der Ausbildung, der Erfahrung in der Intensivmedizin ohne jeden Zweifel gegeben ist – und genau das ist im Gesetz relativ weich formuliert. Die DIVI ist der Auffassung, dass das präziser formuliert werden muss, um zu gewährleisten, dass wirklich nur sehr erfahrene Intensivmediziner das 4-Augen-Prinzip durchführen. Dass genügend erfahrene Intensivmediziner bundesweit erreichbar über 24 Stunden zur Verfügung stehen, ist mit Hilfe telemedizinischer Netzwerke sehr gut darstellbar.
Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.
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Diesen Artikel so zitieren: Kritik am neuen Triage-Gesetz: Prof. Marx erklärt an Beispielen, wer bevorzugt behandelt wird und warum das Ärzten Angst macht - Medscape - 23. Nov 2022.
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