Im April dieses Jahres informierte Boehringer Ingelheim über einen in 2022 und 2023 bevorstehenden Lieferengpass von Alteplase (Actilyse®) – das wichtigste Medikament zur Thrombolyse-Therapie beim akuten ischämischen Schlaganfall. Seither hat die Deutsche Schlaganfall Gesellschaft (DSG) einige Maßnahmen und Vorkehrungen getroffen, um aus dem Lieferengpass keinen Versorgungsengpass werden zu lassen. Ob dies bisher gelungen ist, darüber informierte die DSG bei einer Pressekonferenz [1].
Prof. Dr. Darius Nabavi, 1. Vorsitzender der DSG, konnte eine positive Zwischenbilanz nach fast 6 Monaten Lieferengpass von Alteplase ziehen: „Der Lieferengpass hat bislang nicht zu einem Versorgungsengpass geführt.“ Die Schlaganfall-Behandlung in Deutschland sei auf unverändert hohem Niveau geblieben, betonte der Chefarzt der Neurologie am Vivantes Klinikum Neukölln in Berlin.
Maßnahmen von Hersteller Boehringer Ingelheim
„Alteplase ist seit über 20 Jahren das einzig zugelassene Präparat zur Lysetherapie beim akuten Hirninfarkt“, sagte Nabavi. Das Medikament wird zellbiologisch in einem komplexen Verfahren hergestellt – von nur einem Unternehmen (Boehringer Ingelheim) an einem einzigen Produktionsstandort weltweit (Biberach/Riß).
Als Gründe für die Lieferengpässe der Thrombolytika – auch Tenecteplase (Metalyse®) ist betroffen – teilte das Unternehmen mit: u.a. eine stetig steigende Nachfrage nach Thrombolytika und begrenzte Produktionskapazitäten, die nicht kurzfristig erheblich auszuweiten seien. Boehringer Ingelheim versuche seit Jahren, einen 2. Produktionsstandort für Alteplase zu finden – bisher ohne Erfolg, so Nabavi. Laut Firmenangaben ist ein neuer Standort in Wien geplant – voraussichtlich 2024.
Da der Faktor Zeit beim Hirninfarkt bekanntlich kritisch ist, „ist die kontinuierliche Verfügbarkeit der Lysetherapie in den Kliniken essenziell, ein Bestandsausfall für die Versorgung sehr bedrohlich“, erklärte Nabavi.
Boehringer Ingelheim hat nach Bekanntgabe der Engpässe eine kontingentierte Lieferung etabliert: Die Stroke Units erhalten seitdem etwa 90% der ursprünglichen Liefermenge von Alteplase. „Dies hat für Transparenz und Gleichbehandlung gesorgt und hat Vorratskäufe der Kliniken – ‚Hamsterkäufe‘ – verhindert“, sagte Nabavi.
Über eine Außendienst-Hotline werden kurzfristige regionale Nachlieferungen eingeräumt, denn „ein Schlaganfall ist nicht vorhersehbar und die Rate schwankt“, erklärte der DSG-Vorsitzende: „Dieses Instrument wird regelhaft genutzt.“
Strukturiertes Bestandsmonitoring in den Kliniken
Die DSG hat sofort nach der Ankündigung der Firma reagiert: „Wir haben einen regelmäßigen Austausch mit dem Unternehmen etabliert und ein monatliches Reporting mit den Stroke Units aufgenommen. Und wir haben uns für ein strukturiertes Bestandsmonitoring von Alteplase in den Kliniken eingesetzt“, sagte Nabavi.
Die Stroke Units wurden aufgefordert zu erfassen, welche Menge an Alteplase durchschnittlich pro Woche benötigt wird, und diese regelmäßig abzugleichen mit der Menge, die vorrätig ist – in der Klinik und in der Krankenhausapotheke. Damit wissen die Stroke Units, wie viele Wochen an Lysetherapie abgesichert sind. Die DSG hat dafür ein Ampelsystem angeregt, das von zahlreichen Stroke Units aufgegriffen wurde:
Grün als Standard mit einem Bestand von mehr als 4 Wochen,
Gelb als 1. Warnstufe mit Bestand von 2 bis 4 Wochen und
Rot als kritischer Bereich mit einem Bestand von weniger als 2 Wochen.
Sparmaßnahmen
Neben dem Bestandsmonitoring hat die DSG Maßnahmen für eine Verminderung des Materialverwurfs erarbeitet, „um noch achtsamer mit Alteplase umzugehen“, so Nabavi: Denn bei großen Flaschen müssen u.U. große Reste an dem Thrombolytikum verworfen werden. Inzwischen gebe es nach Aussage von Nabavi von den 3 verschiedenen Flaschengrößen mittlerweile vermehrt kleinere Dosiereinheiten.
Eine Arbeitsgruppe der DSG sollte außerdem Notfalloptionen prüfen, wenn es einen kritischen Engpass gebe. Dazu wurden 3 Leitfragen gestellt:
Ist eine reduzierte Dosis von Alteplase eine gleichwertige Alternative?
Antwort: Nein. Eine reduzierte Dosis von Alteplase ist keine gleichwertige Behandlungsalternative.
Kann bei geplanter mechanischer Thrombektomie auf eine Lysetherapie verzichtet werden?
Antwort: Eher nein. Innerhalb der ersten 4,5 Stunden nach Schlaganfallbeginn kann nicht auf eine Lysetherapie verzichtet werden. Die Kombinationstherapie aus Lyse und Thrombektomie ist der alleinigen Thrombektomie in diesem Zeitfenster überlegen.
Kann Tenecteplase als Alternative von Alteplase verabreicht werden?
Antwort: Ein Ausweichen auf Tenecteplase ist nach neuesten wissenschaftlichen Daten als Off-Label-Alternative prinzipiell möglich, insbesondere bei schwerem Schlaganfall. Eine Empfehlung dazu kann jedoch nicht ausgesprochen werden, da Tenecteplase vom selben Hersteller am selben Standort produziert wird und der Lieferengpass hierfür noch gravierender ist.
„Soweit wir das beurteilen können, haben sich die Stroke Units in Deutschland gut auf die Situation eingestellt. Bei den allermeisten ist der Bestand an Alteplase stabil im grünen Bereich, was zeigt, dass die Maßnahmen greifen. Es gibt zudem kein Signal dafür, dass die Lysetherapie in Deutschland seitdem zurückhaltender eingesetzt wird“, so das Fazit des DSG-Vorsitzenden Nabavi.
Situation in anderen Ländern
Doch wie ist die Situation durch den Engpass von Alteplase und Tenecteplase in anderen Ländern? Medscape befragte dazu den Vorstand der Europäischen Schlaganfallorganisation (ESO), Prof. Dr. Thorsten Steiner. Der Chefarzt an der Klinik für Neurologie/Klinikum Frankfurt Höchst und an der Stroke Unit der Main-Taunus-Kliniken, Hofheim, koordiniert zusammen mit weiteren Mitgliedern des ESO-Vorstandes die Maßnahmen der Gesellschaft.
So wurde zwischen dem 27. Juli und dem 11. August 2022 eine Umfrage in 22 Ländern, die mit der ESO kooperieren, durchgeführt. „Es stellte sich heraus, dass die Situation in den meisten Ländern als stabil betrachtet wurde. Die meisten Länder haben konkrete Aktionspläne entwickelt, um mit dem Engpass umzugehen“, sagte Steiner.
„Zum Zeitpunkt der Auswertung gab es einige wenige Länder, in denen die Repräsentanten die Kommunikation des Problems und der Versorgung als unzureichend bewerteten. Anders als erwartet, waren die Länder sehr unterschiedlich verteilt: So wurde positiv aus Deutschland, Italien, Kroatien oder Bulgarien gemeldet, und es gab vereinzelt Länder in Ost-, aber auch Westeuropa, die Probleme meldeten. Diese sind vermutlich aber zwischenzeitlich beseitigt“, berichtete Steiner.
Die ESO steht mit Boehringer Ingelheim in einem regelmäßigen Austausch und informiert ihre Mitglieder über die Ergebnisse per Newsletter. Inzwischen hat die ESO einen Brief an die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) geschickt, um den „Denkanstoß für eine vorübergehende Zulassung von Activase® (Alteplase) zu geben“, informierte Steiner. Das Medikament wird vom Unternehmen Genentech in den USA hergestellt. Damit wolle man vorbereitet sein, „falls eine kritische Unterversorgung eintreten sollte“, erklärte Steiner. „Dies befindet sich in der Prüfung.“
Medikamentöse Thrombolyse, mechanische Thrombektomie oder beides?
In Deutschland erleiden mehr als 260.000 Menschen jährlich einen Schlaganfall. Dabei handelt es sich bei rund 20% der Fälle um einen hämorrhagischen Insult, bei rund 80% aber um einen ischämischen Schlaganfall – bei dem ein Thrombus ein Gefäß im Gehirn blockiert.
Die systemische Thrombolyse mit Alteplase ist bei der Behandlung eines ischämischen Insults seit 25 Jahren gängige Praxis, die endovaskuläre Schlaganfall-Therapie – die Thrombektomie – hat sich in den vergangenen Jahren in der Routineversorgung schwer betroffener Schlaganfallpatienten etabliert, berichtete Prof. Dr. Peter A. Ringleb, Sektionsleiter Vaskuläre Neurologie, Neurologische Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg, auf der DSG-Pressekonferenz. Doch bei welchen Patienten sollte eine medikamentöse Thrombolyse, bei welchen eine mechanische Thrombektomie und bei welchen beides eingesetzt werden?
Mehrere klinische Studien hatten gezeigt, dass von einer Thrombektomie Patienten mit Verschlüssen größerer Hirnschlagadern in den ersten Stunden nach Symptombeginn und mit einem mutmaßlich günstigen Nutzen-Risiko-Profil profitieren. Außerdem wurden die meisten dieser Patienten auch mit einer systemischen Thrombolyse-Therapie behandelt. „In den letzten Jahren wurde deutlich, dass auch Patienten mit kleineren Gefäßverschlüssen und späterem Zeitfenster bei sonst günstigen Bedingungen von einer endovaskulären Therapie profitieren können“, sagte Ringleb.
Die Rolle oder Notwendigkeit einer Kombinationstherapie mit einer vorangehenden systemischen Thrombolyse sei bisher allerdings nicht eindeutig geklärt. Erste Studien aus China hatten nahegelegt, dass eine vorherige Thrombolyse keinen positiven Einfluss auf die Effektivität einer endovaskulären Schlaganfalltherapie hat.
In den vergangenen Monaten sind aber weitere internationale Studien veröffentlicht worden, die eine differenziertere Betrachtungsweise ermöglichen. „Es liegen nun 6 Studien mit insgesamt 2.332 Patienten vor, die auch bereits in einer Leitlinie der European Stroke Organisation sowie in einer Aktualisierung der Deutschen Leitlinie zur Akuttherapie des ischämischen Schlaganfalls bewertet worden sind“, erklärte Ringleb.
Für die meisten klinischen Endpunkte gab es einen Trend zugunsten der Kombinationstherapie. Aber in der Gruppe der Kombinationstherapie zeigte sich ein statistisch nicht signifikanter Trend zu häufigeren symptomatischen Hirnblutungen innerhalb der ersten 24 Stunden nach der Therapie.
Auf Basis dieser Studien und der Analyse der ESO empfiehlt die DSG daher eine „zeitabhängige Strategie“, sagte Ringleb:
Patienten, die im 4,5-Stunden-Zeitfenster für eine endovaskuläre Schlaganfalltherapie in Betracht kommen und keine Kontraindikation für eine systemische Thrombolyse-Therapie haben (Kontraindikation: z.B. Behandlung mit Gerinnungshemmern), sollten möglichst beide Therapien so früh wie möglich erhalten.
Für das spätere Zeitfenster von 4,5 bis 9 Stunden ist die Datenlage zur Kombinationstherapie nach DSG-Auffassung wesentlich weniger klar: Eine alleinige endovaskuläre Schlaganfalltherapie ohne vorherige systemische Thrombolyse-Therapie erscheint uns vertretbar, wenn die Thrombektomie unmittelbar möglich ist.
Noch schlechter ist die Datenlage für eine Kombinationstherapie nach mehr als 9 Stunden Symptomdauer: DSG und ESO raten in diesem Zeitintervall von einer systemischen Thrombolyse vor endovaskulärer Schlaganfall-Therapie ab.
„Ganz besonders wichtig ist uns, dass sich die beiden Therapieoptionen nicht gegenseitig behindern“, sagte Ringleb. „Für beide Maßnahmen ist eine klare Zeitabhängigkeit gezeigt, das heißt, je früher – und damit auch schneller – sie erfolgen, desto höher ist der Nutzen und desto niedriger das Risiko für Patienten.“ Daher sollten Schlaganfallzentren ihre Arbeitsabläufe so strukturieren, dass weder die Thrombektomie die systemische Lysetherapie verhindert, noch die systemische Lysetherapie die Thrombektomie verzögert.
Auch wegen eines möglichen Versorgungsengpasses für Alteplase folgt für Ringleb daraus eindeutig, dass Patienten, wenn in der erstversorgenden Klinik zwar eine Thrombektomie möglich ist, aus logistischen Gründen aber zuvor keine systemische Thrombolyse erfolgen kann, nicht dafür in eine andere Klinik verlegt werden sollten: „Zeit ist wichtiger als eine Klinikverlegung!“, betonte der Neurologe. Und: „Beide Verfahren sind Ergänzungen des anderen Verfahrens.“
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Credits:
Photographer: © Peter Schreiber
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Den Mangel verwalten: Lieferengpass bei Schlaganfall-Therapeutikum Alteplase – so gehen die Kliniken damit um - Medscape - 16. Nov 2022.
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