MEINUNG

2,7 Mio. Patienten mit chronischen Wunden, 70.000 Amputationen – Expertin erklärt, was Ärzte versäumen und neue Therapien bieten

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

14. November 2022

Chronische Wunden sind ein wachsendes sozio-ökonomisches Problem. Es besteht ein großer Bedarf, ihre Heilung zu verbessern. Prof. Dr. Ewa K. Stürmer ist Fachärztin für Chirurgie, Orthopädie und Unfallchirurgie, sie leitet die translationale Wundforschung der Klinik und Poliklinik für Gefäßmedizin und das Comprehensive Wound Center (CWC) am Universitätsklinikum Hamburg.

Prof. Dr. Ewa K. Stürmer

Mit Medscape sprach sie darüber, weshalb Patienten mit chronischen Wunden oft erst spät beim Gefäßspezialisten auftauchen, weshalb die Studienlage zur Wundversorgung eher Eminenz- statt Evidenz-basiert ist, wie sich die COVID-19-Pandemie auf die Versorgung von Patienten mit chronischen Wunden ausgewirkt hat und wie sich die Wundversorgung verbessern lässt.

Medscape: Von chronischen Gewebedefekten – wie Unterschenkelgeschwüren oder schlecht heilenden Wunden beim Diabetischen Fußsyndrom – sind in Deutschland mehr als 2,7 Millionen Menschen betroffen. Wie hoch ist in Deutschland die Zahl der Amputationen?

Stürmer: In Deutschland liegt die Zahl jährlicher Amputationen zwischen 60.000 und 70.000. Es gibt allerdings – auch wenn die Deutsche Diabetes Gesellschaft DGG das schon seit Jahren fordert – kein Amputations-Register, in dem Amputationen systematisch erfasst werden.

Die Verteilung der Amputationen ist immer ungefähr gleich: Etwa 2 Drittel entfallen auf Männer, ein Drittel auf Frauen. Die meisten Amputationen sind mit Diabetes assoziiert.

In den letzten Jahren ist die Gesamtzahl der Amputationen relativ stabil geblieben, verschoben hat sich aber das Verhältnis von Major- zu Minor-Amputationen: Größere Amputationen, am Unterschenkel oder Oberschenkel, werden deutlich seltener durchgeführt, kleinere Lokal-Amputationen an den Zehen oder am Vorfuß, sogenannte Minor-Amputationen, hingegen häufiger. Es wird also eher Gliedmaßen-erhaltender amputiert, mit dem Ziel, dass dadurch die Mobilität der Patienten länger bestehen bleibt.

Medsacape: Welche Rolle spielt der demografische Wandel?

Der demografische Wandel zeigt sich in einer zunehmenden Zahl älterer Menschen, die aufgrund langjähriger Erkrankungen mit Durchblutungsstörungen in den Beinen zu Wunden neigen, die schlecht heilen. In dem Maße, wie diese Erkrankungen zunehmen werden, wird auch die Zahl der Wunden und damit auch die Zahl der drohenden Amputationen zunehmen.

Medscape: Bei Patienten mit chronischen Wunden erfolgt eine rechtzeitige Überweisung an Gefäßspezialisten häufig zu spät. Woran liegt das?

Stürmer: Patienten mit chronischen Wunden versuchen meist eine Zeit lang, solche Wunden selbst zu behandeln. So dauert es meist mehrere Wochen, bis ein Arzt, in der Regel der Hausarzt, aufgesucht wird. Beim Arztbesuch steht dann die Wunde im Fokus: die Schmerzen, der Geruch, die eingeschränkte Mobilität – denn solche Wunden sind meist am Unterschenkel oder am Fuß lokalisiert. Somit erfolgt erst mal eine Lokaltherapie.

Weil die Wunde so sehr im Vordergrund steht, wird häufig nicht in Betracht gezogen, dass eine Gefäßerkrankung oder ein Diabetes zugrunde liegen könnten, die die Wundheilung beeinträchtigen. Es ist wohl häufig so, dass Ärzte im auslastenden Praxisalltag nicht daran denken, dass einer chronischen Wunde auch eine vaskuläre, d.h. eine arterielle oder venöse Genese, zugrunde liegen könnte, und die Konsequenz daraus ziehen, den Patienten parallel zum Gefäßmediziner zu schicken.

Medscape: Hat die COVID-19-Pandemie die Wundversorgung beeinflusst? Ist die Versorgung schlechter geworden, die Zahl der Amputationen gestiegen?

Stürmer: Wir haben dazu leider noch keine ausreichend belastbaren Daten. Es gibt Single-Center-Publikationen, die darauf hindeuten, dass sowohl die Erkrankungsschwere chronischer Wunden und des diabetischem Fußsyndroms zugenommen haben, als auch die Zahl der Amputationen in der COVID-19 Pandemie gestiegen ist. Doch das sind erste Publikationen mit vergleichsweise wenigen Patienten, die meines Erachtens keine weitreichenden Schlüsse zulassen.

 
In den letzten Jahren ist die Gesamtzahl der Amputationen relativ stabil geblieben, verschoben hat sich aber das Verhältnis von Major- zu Minor-Amputationen. Prof. Dr. Ewa K. Stürmer
 

Gefühlt hat die Schwere der Wunden zugenommen – dies bestätigen viele Kollegen, die Wundpatienten behandeln. Viele Patienten haben sich wegen der proklamierten Ansteckungsgefahr nicht in die Ambulanzen und Kliniken getraut. Pflegedienste konnten im Lockdown nicht so intensiv versorgen, wie wir es gewohnt waren.

Wir haben deshalb häufig Verschlimmerungen chronischer Wunden gesehen. Ich denke, das kann man national und „Eminenz“-basiert so sagen. Ob sich das im Endeffekt in der Amputationsrate widerspiegelt, ist meines Erachtens noch offen. Dazu müssen die Krankenkassendaten der letzten Jahre aufgearbeitet, Versorgungsforscher aktiv werden.

Amputationen vermeiden

Medscape: Gibt es Zahlen dazu, wie viele Amputationen sich durch eine bessere Wundversorgung vermeiden ließen?

Stürmer: Auch hierzu gibt es meins Erachtens keine belastbaren Daten. Wir sehen aber immer wieder – und das bestätigten auch spezialisierten Ambulanzen –, dass sich Patienten mit Wunden vorstellen, die seit Monaten bestehen und die bisher keinerlei Untersuchung erhalten haben, die analysiert, warum diese Wunden nicht heilen.

 
Meine persönliche Einschätzung ist, dass sich durch eine rechtzeitige und optimale Wundtherapie mindestens 25% der Amputationen vermeiden ließen. Prof. Dr. Ewa K. Stürmer
 

Diese Patienten werden dann diagnostiziert und therapiert – bekommen z.B. eine interventionelle Gefäßaufweitung oder einen Gefäßbypass kombiniert mit einer passenden Wundtherapie – und dann geht es auch mit der Wundheilung rapide vorwärts.

Meine persönliche Einschätzung ist, dass sich durch eine rechtzeitige und optimale Wundtherapie mindestens 25% der Amputationen vermeiden ließen.

Medscape: Wie häufig ist die Ursache einer chronischen Wunde eine Gefäßerkrankung? Kann man sagen, dass die häufigste Ursache Diabetes ist?

Stürmer: Bei über 70% aller chronischen Wunden lässt sich als Ursache eine Gefäßerkrankung ausmachen. Diese kann sich im Rahmen einer peripheren arteriellen Verschlusskrankheit (pAVK), einer chronischen Venenschwäche (CVI), eines Diabetes oder – seltener – einer immunologischen Erkrankung entwickeln. Dadurch nehmen Gewebe und Blutgefäße Schaden, sind in ihrer Funktion eingeschränkt. Dies führt häufig dazu, dass die Haut in den betroffenen Bereichen nur noch unzureichend mit Sauerstoff und Nährstoffen versorgt wird.

Gerade bei Diabetespatienten finden wir häufig eine Neuropathie und eine Mikroangiopathie, die mit einer Makroangiopathie kombiniert ist, d.h. diese Patienten leiden durch das metabolische Syndrom sowohl unter Diabetes-bedingt Gefühlsstörungen an den Füßen als auch an Durchblutungsstörungen in den Endbahnen (Fuß und Zehen). Der sog. Altersdiabetes führt aber auch häufig dazu, dass die größeren Gefäße mitbetroffen sind.

 
Bei über 70% aller chronischen Wunden lässt sich als Ursache eine Gefäßerkrankung ausmachen. Prof. Dr. Ewa K. Stürmer
 

Wenn ich meine gefäßmedizinischen Patienten betrachte, so besteht bei über der Hälfte auch ein Diabetes. Bei Patienten mit chronischen Wunden ist die Schnittmenge der Diabetes- und Gefäßkranken groß.

Auf Teilerfolge bei der Wundbehandlung hinweisen

Medscape: Ziel der Wundbehandlung ist die vollständige Heilung, also das Schließen der Wunde. Sie sagen, dass es sehr wichtig ist, die Patienten auch auf Teilerfolge aufmerksam zu machen. Was meinen Sie damit?

Stürmer: Ich muss Patienten oft erklären: „Ja, die Wunde ist jetzt auch nach dreimonatiger Behandlung noch offen. Aber schauen Sie: Beim ersten Mal kamen Sie im Rollstuhl in die Ambulanz, jetzt nutzen Sie einen Rollator, Sie fahren seit einer Woche wieder Auto, das ist auch Lebensqualität. Ihre Schmerzen haben abgenommen. Sie mussten täglich mehrere Schmerzmittel einnehmen, jetzt benötigen Sie sie nur noch bei Bedarf – all das ist zusammengenommen ein großer Erfolg.“

Dann schauen mich die Patienten mit großen Augen an und realisieren langsam: „Ja, eigentlich haben Sie Recht.“

Andere Patienten erinnere ich daran, dass der Pflegedienst jetzt nicht mehr 5-mal in der Woche kommen muss, sondern nur noch 2-mal.

Natürlich ist die Wundheilung auch mein Ziel. Aber man muss auch erreichte „Etappenziele“ angemessen würdigen: kleine Ziele definieren und nach Erreichen sie dann auch feiern. Dadurch wird der Patient auch positiver gestimmt. Wenn jemand positiv und aufgeschlossen ist, nimmt er auch Empfehlungen eher an.

Der behandelnde Arzt sollte den Patienten abholen und verständlich erklären, was notwendig ist – das steigert die Adhärenz. Ich kann meinen Patienten behandeln, etwas für ihn tun, solange er in der Praxis ist. Damit er aber außerhalb z.B. täglich einen Kilometer spazieren geht, um seine Beindurchblutung zu fördern, dazu muss ich ihn überzeugen.

Der Patient soll sehen, dass er selbst dazu beitragen kann, Ziele zu erreichen. Er darf die Verantwortung für seine Wunde nicht abgeben, sonst ändert sich nichts, wenn er die Klinik oder Praxis verlässt. Er soll sich aber zuständig fühlen und z.B. aufhören zu rauchen, sein Essverhalten kontrollieren oder auch nur die verordneten Kompressionsstrümpfe zum eigenen Nutzen regelmäßig tragen. Nur dann bessert sich sein Krankheitsbild auch nachhaltig.

Medscape: Bisherige Leitlinien zur Wundversorgung stützen sich eher auf Expertenempfehlungen. Woran liegt das?

Stürmer: Qualitativ hochwertige Studien, also randomisiert-kontrollierte Studien sind in der Medical Device Regulation (MDR) nicht vorgeschrieben. Im Arzneimittelgesetz (AMG) fordert der Gesetzgeber den Nachweis einer Gleichwertigkeit oder Überlegenheit eines neuen Arzneimittels im Zulassungsprozess. In der MDR hingegen wird von den Herstellern nur ein Konformitätsnachweis gefordert.

Sie müssen also nur nachweisen, dass das Produkt ähnlich aufgebaut ist, ähnliche Inhaltsstoffe aufweist wie die Produkte A oder B, die bereits auf dem Markt sind. Meist reicht eine Biokompatibilitäts-Untersuchung, d.h., ob das Produkt gut von den menschlichen Zellen vertragen wird, und eine Anwenderstudie, in der bewertet wird, wie sich ein Produkt verhält und ob es (negative) Begleiterscheinungen, wie z.B. Allergien, gibt.

Randomisiert-kontrollierte klinische Studien (RTCs) sind teuer, kosten häufig Millionen. Es ist gut nachvollziehbar, warum Medizinproduktehersteller dies nicht investieren, wenn es nicht erforderlich ist.

Ende 2022 bzw. Anfang 2023 wird die AWMF-S3-Leitlinie zur Lokaltherapie chronischer Wunden fertiggestellt sein. Was jetzt schon durchgesickert, ist, dass in den vergangenen 5 bis 10 Jahren nicht viel neue Evidenz im Wundsektor erzeugt worden ist. Somit werden wir wohl auch in absehbarer Zeit auf den internationalen und nationalen Expertenkonsens in der Therapie chronischer Wunden zurückgreifen müssen.

Welche Studien, um Zusatznutzen zu zeigen?

Medscape: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) hat unlängst beschlossen, dass ab Dezember 2024 alle Wundprodukte mit Zusatznutzen nicht mehr – wie bislang – durch die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) erstattungsfähig sind. Die Medizinproduktehersteller geraten dadurch in Zugzwang – erwarten Sie, dass es darüber zu hochwertigeren Studien kommt?

Stürmer: Der G-BA fordert von Medizinprodukteherstellern den Nachweis, dass ihre Produkte den beschriebenen Zusatznutzen – im Vergleich zu Wundauflagen, die Wunden nur bedecken, Wundexsudat aufsaugen u.ä. – tatsächlich haben. Um diesen Nachweis zu erbringen, reichen die bisherigen Anwendungsbeobachtungsstudien möglicherweise nicht aus.

Also müssten jetzt eigentlich mehr randomisiert-kontrollierte Studien durchgeführt werden. Wir hoffen, aufgrund der anstehenden G-BA-Entscheidung auf etwas mehr Evidenz in der Lokaltherapie chronischer Wunden.

Medscape: Wäre es nicht sinnvoll, für die Zulassung von Wundprodukten randomisiert-kontrollierte Studien vorzuschreiben? Und wenn ja – wie müssten diese Studien aussehen?

Stürmer: Ja. Randomisiert-kontrollierte Studien würden auch direkte Produktvergleiche beinhalten. Das ist sehr wünschenswert für alle Anwender.

Diese klinischen Studien müssen allerding so aufgebaut sein, dass es außer den zu testenden Produkten möglichst wenige Variablen bei den Patienten und Wunden gibt. Die Studienpopulation sollte also möglichst homogen sein, um eine gute Vergleichbarkeit der Studienarme bzw. zu testenden Produkte zu ermöglichen.

Die Patienten mit chronischen Wunden hingegen sind nicht homogen; sie leiden unter variablen Komorbiditäten: Manche haben Diabetes und Venenprobleme, andere eine arterielle Verschlusskrankheit und sind extrem adipös, wieder andere haben zusätzlich Rheuma und nehmen Medikamente ein, die auch die Wundheilung beeinflussen.

Unsere Wundpatienten bieten ein so breites Portfolio, sind so individuell, dass es schwierig wird, eine Studie aufzusetzen, bei der ein signifikanter Unterschied zwischen den verschiedenen Studienarmen tatsächlich zu finden ist. Insofern sind die Einwände der Medizinproduktehersteller verständlich. Zieht man sich aber darauf zurück, wird es im Wundsektor nie randomisiert-kontrollierte Studien geben.

Ich denke, man muss ein wenig die Ansprüche an diese Studien – im Vergleich zu den Arzneimittelstudien – senken, sich nicht nur auf Statistiken fixieren, sondern auch Tendenzen beachten und alle erzielten Ergebnisse nutzen. Sinnvoll wäre es meines Erachtens auch, nicht nur die vollständige Wundheilung (geschlossene Wunde) als Ziel einer Studie festzulegen, sondern auch andere Behandlungserfolge zu berücksichtigen.

Wenn z.B. die Verbandwechselintervalle länger werden, dann ist das für den Patienten ein Stück Lebensqualität und auch ein Parameter der Wundheilung. Wenn die Schmerzen nachlassen, weil die lokale Entzündung durch eine antimikrobielle Wundauflage verschwunden ist, ist das für den Patienten ein Gewinn und auch ein sinnvolles Kriterium. Dies kann sich z.B. auch objektiv in einem abnehmenden Antibiotikaverbrauch spiegeln.

Zusammenfassend ist es allerdings so: Die Politik und unabhängige Institutionen müssen diese Studien wirklich fordern, sonst wird es diese großen randomisiert-kontrollierten Studien nicht geben.

Medscape: Was ist aus Ihrer Sicht notwendig, um die wissenschaftliche Expertise bei der Versorgung chronischer Wunden zu verbessern?

Stürmer: Einerseits sind randomisiert-kontrollierte Studien notwendig, und es ist Aufgabe der Politik und unabhängiger Institutionen, diese zu fordern. Es müssen aber auch die DIN und Europäische Normen (EN) für Medizinprodukte im Wundsektor mehr an die klinische Praxis, mehr an den „Einsatz“ am Menschen adaptiert werden.

Weil wir wissen, dass im Zulassungsprozess von Wundprodukten z.B. mit einer Norm gearbeitet wird, die eigentlich für Hautdesinfektion und Flächendesinfektionsmittel kreiert worden ist (Anm. der Redaktion: DIN 13727), bewerten wir in der Translationalen Wundforschung am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf die Wirkung von Wundprodukten noch einmal im humanen Kontext. Dazu verwenden wir u.a. Haut von Fettschürzen aus der Plastischen Chirurgie oder Wundflüssigkeiten von akuten und chronischen Wunden.

Dabei konnten wir feststellen, dass manche Produkte – im humanen Milieu getestet – nicht ganz halten, was sie nach dem DIN-EN-konformen Zulassungsprozess versprechen. Das hat damit zu tun, dass diese Normen nicht wirklich geeignet sind, die Reaktion menschlichen Gewebes oder auch das Wundmilieu zu imitieren.

 
Der Patient soll sehen, dass er selbst dazu beitragen kann, Ziele zu erreichen. Prof. Dr. Ewa K. Stürmer
 

Auch hier ist es Aufgabe der Politik, Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass die Testungen im Rahmen des Zulassungsprozesses von Wundprodukten mehr an ihren wirklichen Einsatzort, mehr an die klinische Situation angepasst werden.

Neue Wundauflagen?

Medscape: Welche Innovationen gibt es für die Versorgung von chronischen Wunden – Stichwort Biofilm?

Stürmer: Es gibt derzeit wenige wirkliche Innovationen in der Wundtherapie. Dies mag der COVID-19 Pandemie geschuldet sein. Das meiste tut sich momentan bei Wundmatrizes. Hier gibt es neue Wundauflagen, die biologisch abbaubar sind, d.h. dauerhaft auf der Wunde verbleiben können.

 
Die Politik und unabhängige Institutionen müssen diese Studien wirklich fordern, sonst wird es diese großen randomisiert-kontrollierten Studien nicht geben. Prof. Dr. Ewa K. Stürmer
 

Diese Matrizes decken gut granulierte Wunden wie eine zweite Haut ab, körpereigene Zellen können einwandern, und die Matrix selbst wird in dem Maße abgebaut, wie körpereigene Haut nachwächst. Dazu gibt es z.B. Produkte auf Fibrin- oder Seidenbasis (präklinisch) sowie Blutplasma- (platlet-rich plasma) oder Polylactid-basiert. Diese Produkte drängen auf den Markt, müssen sich aber noch behaupten. Auch hierbei spielt sicher die Erstattungsfähigkeit durch die GKV eine Rolle.

Beim Thema Wundbiofilm gibt es ein neues Produkt, ein Gel. Es soll – einmalig auf die Wunde auftragen – innerhalb einer Minute den Wundbiofilm beseitigen. Dazu laufen gerade internationale RCTs. Wenn diese erfolgreich abgeschlossen werden, könnte hier ein neuer Baustein in der Biofilm-Therapie verfügbar sein.

Mit der Kaltplasma-Therapie haben wir ein Tool zur Verfügung, was zwar nicht wirklich neu ist, aber das vielleicht bald erstattungsfähig ist. Es verbessert die Sauerstoffversorgung in der Haut, soll die Bakterien in Schach halten, das Zellwachstum anregen und so die Wundheilung fördern. Der Gesetzgeber prüft gerade, ob diese Therapie eine Kassenleistung wird. Es ist erfreulich und neu, dass eine physikalische Wundtherapie zukünftig flächendeckend zur Verfügung stehen soll.

Auch die Laser- und Ultraschalltherapie können Stadien-adaptiert von Nutzen sein, sie werden jedoch von der GKV nicht erstattet.

Problem Erstattungsfähigkeit

Medscape: Wie sieht es denn überhaupt mit der Erstattungsfähigkeit von Wundprodukten aus?

Stürmer: Erstattungsfähigkeit ist gerade für Innovationen ein großes Thema. Beispiel Matrizes: Die einmalige Applikation auf eine Wunde kostet zwischen 300 und 700 Euro – aber die GKV erstatten diese nicht. Entsprechend wenig werden solche innovativen Produkte eingesetzt. Der Patient kann es sich meist nicht leisten, und das Krankenhaus oder die Praxis schöpfen zuerst andere, bewährte (erstattungsfähige) Mittel in der Wundtherapie aus. Selbst wenn eine Therapie in Fallserien erfolgversprechend ist – wenn sie nicht erstattet wird, scheitert es meistens an den (hohen) Kosten.

Ein Problem ist auch, dass niedergelassene Kollegen häufig gar nicht so viel Wundprodukte verordnen können, wie eigentlich indiziert wären. Es drohen Regresse. Manchmal kommen Patienten in die Hochschulambulanz und erklären, dass ihr Hausarzt ihnen nicht mehr die „teuren“ Wundprodukte verschreibt. Aus Sicht der Patienten ist das völlig unverständlich und belastet sie nur zusätzlich. Aus Sicht des Kollegen ist dies allerdings sehr gut nachvollziehbar.

Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

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