Post-COVID – Fakt oder Fiktion? „Da rollt eine Welle auf uns zu“, aber Diagnostik noch schwierig – eine Studien-Übersicht der DGN

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

11. November 2022

Die gesundheitsökonomisch-politischen wie gesellschaftlichen Folgen der COVID-19-Pandemie werden zunehmend sichtbar – das zeigt die steigende Zahl von Patienten mit Post-COVID. Der zugrunde liegende Pathomechanismus ist noch nicht geklärt. Wie Prof. Dr. Lars Timmermann, stellvertretender Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) auf der Pressekonferenz zur Neurowoche deutlich machte, wird in vielen Studien derzeit untersucht, welche Entstehungsmechanismen für Post-COVID verantwortlich sind [1].

Sehr viele Post-COVID-Patienten

Wie relevant Post-COVID ist, zeigt eine Arbeit aus 2022 in Nature Medicine. Darin wurden nationale Gesundheitsdaten des USDVA (US Department of Veterans Affairs) von über 150.000 COVID-19-Erkrankten mit mehr als 5,5 Millionen zeitgleichen und ebenso vielen historischen Kontrollen verglichen.

12 Monate nach der akuten SARS-Cov-2-Infektione weisen 70 von 1000 Betroffenen mindestens eine neurologische Post-COVID-Manifestation auf. Im Vergleich zu anderen Studien, die von Anteilen von bis zu 40% sprechen, ist dieses Ergebnis zwar als eher „konservativ“ zu bezeichnen.

Doch Timmermann betont, dass auch 7% von vielen Millionen Menschen eine enorme Herausforderung für das Gesundheitssystem darstellen. „Wenn Sie das auf eine Stadt wie Köln mit 1 Million Einwohnern hochrechnen, dann sind das 70.000 Patienten mehr. Da rollt eine Welle auf uns zu“, sagte Timmermann.

Essener Studie: bei 85% der Patienten kein konkreter Befund

Dabei ist schon die Diagnosestellung eine Herausforderung, denn es gibt bislang keine sicheren bzw. validen Biomarker, mit denen Post-COVID objektiv nachgewiesen werden kann. In einer relativ kleinen prospektiven Kohortenstudie mit 171 überwiegend weiblichen Post-COVID-Patientinnen (67%) fanden Essener Forscher bei 85,8% der Erkrankten keine konkreten Befunde.

Über die Studienergebnisse wurden in manchen Medien und in den sozialen Medien heftig spekuliert und die Ergebnisse teilweise so interpretiert, als zweifelte man die Existenz von Post-COVID an. Eine unzutreffende Schlussfolgerung, stellte Timmermann klar: „Die Ergebnisse bedeuten weder, dass die Post-COVID-Betroffenen psychisch krank sind noch, dass sie eingebildet krank sind. Vorbestehende Somatisierungsstörungen sind aber offensichtlich ein Risikofaktor für Post-COVID.“

Die Patienten waren neurovaskulären, elektrophysiologischen Tests und Laboruntersuchungen unterzogen worden. Neuropsychologische und psychosomatische Tests und teilweise auch zerebrale MRT oder Lumbalpunktionen ergänzten die Diagnostik.

Die häufigsten Beschwerden waren Konzentrationsprobleme (58,2%), Fatigue (58,2%) und Gedächtnisstörungen (32,7%). Die Studienautoren ordneten die Symptome in 3 Cluster ein: Cluster Kopfschmerz (Kopfschmerzen und Fatigue, n = 46), Cluster psychiatrische Komplikationen und Fatigue (Psycho-Fatigue, n = 34) und das Cluster Konzentrationsstörungen und Fatigue (Fatigue-Konzentration, n = 60).

Auffälligkeiten bei Long-COVID

Im Ergebnis fanden die Forscher weder spezifisch veränderte Blutwerte, noch Funktionsveränderungen der Lunge, strukturelle Veränderungen im MRT des Gehirns oder objektivierbare Schädigungen des peripheren oder zentralen Nervensystems. In seltenen Fällen wurden andere spezielle neurologische Erkrankungen diagnostiziert (z.B. Gefäßerkrankungen, Multiple Sklerose, Entzündungen).

Auffällige Befunde zeigten sich im Bereich der Psychosomatik – die Betroffenen wiesen im PHQ15 (Patient Health Questionnaire 15) hohe Scores auf. „Die Somatisierungstendenzen bei den Patienten waren hoch und korrelierten mit den kognitiven Defiziten und dem Ausmaß der Müdigkeit“, so Timmermann. Vorbestehende Somatisierungsstörungen sowie frühere psychische Erkrankungen schienen ein Risikofaktor für Post-COVID zu sein.

Auch wenn die Essener Studie kein klinisches Korrelat für Long-COVID finden konnte – es gibt einige Studien, in denen Auffälligkeiten gezeigt werden konnten. So wiesen US-Forscher in einer Studie in Clinical Infectious Disease anhand von Plasmaproben von 63 Erwachsenen mit Long-COVID bis zu 12 Monate nach akuter COVID-19-Infektion das SARS-CoV-2-Spike-Protein (seltener auch andere Antigene) nach.

Die Forscher werten das als Hinweis auf eine Viruspersistenz. „Das legt nahe, dass es bei manchen Patienten vielleicht noch ein Virus-Reservoir gibt, aus dem es zu einer immunologischen dauerhaften Reaktion kommt“, so Timmermann. Er verweist auf die Ergebnisse eines Preprints die zeigen, dass bei Long-COVID-Betroffenen u.a. deutlich reduzierte Cortisol-Spiegel und eine T-Zell-Erschöpfung vorliegen.

Offenbar wirkt sich eine Infektion mit COVID-19 auch auf die graue Substanz des Gehirns aus. Wie Timmermann berichtete, weisen Daten der in der Präpandemie-Ära begonnenen UK-Biobank mit cMRT-Befunden vor und nach COVID-19 bei denselben Personen im Längsschnitt nach SARS-CoV-2-Infektion einen Rückgang der grauen Substanz im orbitofrontalen Kortex und parahippocampalen Gyrus hin.

„Die Ergebnisse zeigen, dass die graue Substanz bei den Patienten, die COVID-19 hatten, verändert ist verglichen mit denjenigen, die nicht an COVID-19 erkrankt waren. Es lässt sich sogar codieren, dass die durch die Erkrankung schwerer betroffenen Patienten deutlich mehr Veränderungen in der kortikalen Dicke aufweisen, verglichen mit denen, die weniger schwer von COVID-19 betroffen waren“, so Timmermann und fügte hinzu: „Eine solide gemachte Studie, die leider zeigt, dass die kognitive Leistungsfähigkeit bei den Infizierten schlechter war als bei denjenigen, die sich nicht infiziert hatten.“

Veränderte „Proteom-Signatur“

Als Auslöser kommt möglicherweise eine durch die Infektion veränderte „Proteom-Signatur“ infrage. Mit hochsensitiven Assays untersuchten britische und deutsche Forscher in einer Fall-Kontroll-Studie über 90 Proteine von 156 Mitarbeitern im Gesundheitswesen während der ersten COVID-19-Welle.

 
Die Ergebnisse zeigen, dass die graue Substanz bei den Patienten, die COVID-19 hatten, verändert ist verglichen mit denjenigen, die nicht an COVID-19 erkrankt waren. Prof. Dr. Lars Timmermann
 

Zum Zeitpunkt der Serokonversion fanden sie eine spezielle Proteom-Signatur. Dann stratifizierten die Forscher die Patienten in diejenigen, die nur kurz erkrankt waren und diejenigen, die Long-COVID entwickelt hatten. „Die Ergebnisse zeigen, dass sich diejenigen mit Long-COVID von denjenigen, die nur kurz erkrankt sind, in ihrem Proteinmuster, in ihrer Protein-Reaktion abgrenzen“, so Timmermann. Aus dieser Proteom-Signatur lasse sich möglicherweise vorhersagen, welche Betroffenen wahrscheinlich Langzeitfolgen nach der akuten Infektion entwickeln.

Post-COVID bisher nicht objektivierbar

Mit den klassischen Untersuchungen wie in der Studie aus Essen sei Long-COVID offensichtlich nicht zu objektivieren, schlussfolgert Timmermann. „Post-COVID ist keine Fiktion, Fakt ist aber: Wir wissen noch immer wenig über die Entstehung und Ursachen von Post-COVID“, so Timmermann und fügte hinzu: „Wir brauchen gute Modelle, auch tierexperimentelle Arbeiten in denen wir zeigen können, welche Pathomechanismen bei Long-COVID eine Rolle spielen, um dann auch wirklich therapieren zu können.“

 
Post-COVID ist keine Fiktion, Fakt ist aber: Wir wissen noch immer wenig über die Entstehung und Ursachen von Post-COVID. Prof. Dr. Lars Timmermann
 

Ganz machtlos gegen Post-COVID sei man dennoch nicht. So zeigt eine italienische Studie im JAMA, dass Geimpfte selbst nach Impfdurchbrüchen eine geringere Wahrscheinlichkeit haben, an Long-COVID zu erkranken. Das Long-COVID-Risiko nimmt mit der Zahl der Impfungen deutlich ab: von 41,8% bei Ungeimpften auf bis 16% bei 3-fach Geimpften. Die DGN schließe sich deshalb der RKI-Empfehlung für regelmäßige Auffrischungsimpfungen an.
 

Kommentar

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