Berlin – Der Griff zur Tablette ist nicht die einzige Möglichkeit, Kopfschmerzen zu behandeln. Auch nicht-medikamentöse Verfahren wie Ausdauertraining, Verhaltenstherapie oder Biofeedback versprechen Linderung. „Am besten untersucht sind nicht-medikamentöse Verfahren bei der Migräne, aber letztlich sind sie für alle Patienten mit chronischen Kopfschmerzen geeignet“, sagte PD Dr. Stefanie Förderreuther auf dem 95. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Neurologie – Neurowoche 2022 in Berlin [1].
Die Kopfschmerz-Spezialistin von der Neurologischen Klinik der Ludwig-Maximilians-Universität München betonte, dass sich mit nicht-medikamentösen Verfahren nicht nur die Kopfschmerzen selbst, sondern auch relevante Komorbiditäten behandeln ließen. „Depressionen, Angsterkrankungen oder andere Schmerzerkrankungen nehmen Einfluss auf den Krankheitsverlauf des Kopfschmerzes“, so die Neurologin. Darüber hinaus ließen sich mithilfe dieser Verfahren auch direkte Krankheitsfolgen bei schwer chronifizierten Patienten wie etwa sozialer Rückzug, Triggervermeidung, Depression, Attackenangst und Katastrophisieren angehen.
Die Basismaßnahmen sind Aufklärung, Entspannung und Sport
Die Basis der nicht-medikamentösen Kopfschmerztherapie bilden die Edukation über die Kopfschmerzerkrankung, Ausdauersport und Entspannungsverfahren. „Das sind niederschwellige Interventionen, die auch der Hausarzt durchführen bzw. einleiten kann“, so Förderreuther.
Ein Psychotherapeut sollte Förderreuther zufolge mit ins Boot geholt werden, wenn:
der Patient eine hochfrequente Migräne aufweist,
Lebensqualität und Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt sind,
unimodale Therapieversuche fehlschlagen,
ein Medikamentenfehl- oder -übergebrauch vorliegt,
eine schmerzunterhaltende psychische Begleiterkrankung besteht oder
eine die Schmerztherapie erschwerende somatische Begleiterkrankung vorliegt.
Die verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zur Behandlung von Kopfschmerzerkrankungen sind vielfältig. Sie beginnen mit der Edukation und Lebensstilberatung und reichen von Entspannungstechniken wie Progressive Muskelentspannung und Meditation bis hin zu Biofeedback-Verfahren und der klassischen kognitiven Verhaltenstherapie.
Stimulationsverfahren statt Medikamente
Eine Möglichkeit der nicht-medikamentösen Kopfschmerzbehandlung seien auch Stimulationsverfahren am N. vagus oder N. supraorbitalis, ergänzte Förderreuther. Ein nicht-invasives Stimulationsverfahren, dass sich in Studien bei der Akuttherapie und der Prophylaxe der Migräne als wirksam erwiesen habe, sei die Stimulation des N. supraorbitalis mit dem Cefaly®. Bei Cluster-Kopfschmerzen habe sich die Stimulation des N. vagus mit dem Gammacore Stimulator® als wirksam in der Prophylaxe erwiesen.
„Das sind Verfahren für Patienten, die Medikamente nicht einnehmen wollen oder können, die auf eine sonstige Akuttherapie nicht ausreichend ansprechen oder die Medikamente einsparen müssen aufgrund der Gefahr eines Medikamentenübergebrauchskopfschmerzes“, so Förderreuther. Die Kosten werden von den gesetzlichen Krankenkassen üblicherweise nicht übernommen.
Keine psychische Erkrankung, aber mit Einfluss auf die Psyche
Förderreuther betonte: „Wichtig ist, den Patienten zu vermitteln, dass man ihnen den Schmerz glaubt.“ Migräne, Cluster-Kopfschmerzen und Medikamentenübergebrauchs-Kopfschmerzen seien organische Erkrankungen und per se kein psychisches Problem. „Aber wenn man ständig Schmerzen hat, nimmt das Einfluss auf die Psyche, und die Psyche ist ein Intensitätsregler für die Schmerzempfindung.“
Ein Blick auf die Studienlage zeige, dass bei Kopfschmerzerkrankungen eine Kombination aus medikamentösen und nicht-medikamentösen verfahren den größten Therapieerfolg verspreche.
Ein Basispaket für alle
Vielfach empfohlen bei Kopfschmerzerkrankungen, auch in den Leitlinien, werden Entspannungsverfahren und Ausdauersport. „Das ist – nach der Edukation – das Basispaket der psychologischen Kopfschmerzbehandlung für alle Patienten“, sagte der Psychologe Dr. Thomas Dresler vom Universitätsklinikum Tübingen.
Eines der am häufigsten eingesetzte Entspannungsverfahren in der Kopfschmerztherapie ist die Progressive Muskelrelaxation (PMR) nach Jacobson. Das Ziel der PMR ist der Wechsel von Anspannung und Entspannung, die Wahrnehmen des Unterschieds zwischen diesen beiden Zuständen und in der Folge das selbstgesteuerte Erreichen von Entspannung.
Regelmäßigkeit ist entscheidend
„Der Vorteil der PMR ist, dass man sie im Einzel- oder Gruppensetting durchführen kann und der Patient eine aktive Rolle einnimmt“, so Dresler. Regelmäßiges Üben sei obligat – mindestens 2-mal täglich 20 Minuten –, dann könne mit ersten Effekten nach etwa 2 Wochen gerechnet werden.
Zur Prophylaxe der Migräne werde außerdem regelmäßiger Ausdauersport empfohlen, so Dresler. Ein Head-to-Head-Vergleich von Entspannungsübungen, Ausdauersport und Topiramat zur Migräneprophylaxe zeigte, dass 3-mal 40 Minuten Indoor-Cycling pro Woche gleich gute Effekte hat wie die bereits etablierten und empfohlenen Behandlungen.
Anzustreben seien 3-mal die Woche 30 bis 50 Minuten (oder insgesamt 150 Minuten) Ausdauersport, sagte Dresler. Wichtig sei die regelmäßige Durchführung, weshalb der Patient die Art des Ausdauersport nach seinen eigenen Präferenzen auswählen sollte.
Die Halswirbelsäule spielt eine Rolle
Eine weitere Möglichkeit, Kopfschmerzen nicht-medikamentös zu lindern, sind physiotherapeutische Behandlungsmaßnahmen. Über die Beteiligung der Halswirbelsäule bei Migräne wurde viel diskutiert. Heute weiß man: „Die Halswirbelsäule hat über die trigeminalen Fasern auch einen entscheidenden Anteil in der Pathogenese der der Migräne“, berichtete Prof. Dr. Martin Marziniak vom Isar-Amper-Klinikum Region München in Haar. „Muskuloskelettale Befunde im Bereich C1 bis C2 treten bei Migränepatienten vermehrt auf.“
Er erinnerte daran, Migränepatienten auch nach Nackenschmerzen zu fragen, denn diese seien mit einem verzögerten Ansprechen auf die Migränetherapie assoziiert. Zudem hätten Migränepatienten mit Nackenschmerzen häufiger eine Allodynie, eine eingeschränkte C1/C2-Beweglichkeit und eine eingeschränkte Funktion der tiefen Nackenflexoren.
„Migränepatienten berichten viel häufiger über symptomatische Beschwerden der oberen zervikalen Gelenke“, sagte Marziniak. „Und ein erhöhter Nackenmuskeltonus ist assoziiert mit schweren Attacken, kürzeren interiktalen Perioden und einem höheren Chronifizierungsrisiko.“
Viele Studien zur Physiotherapie, aber nur wenige gute
Zur Wirksamkeit physiotherapeutischer Verfahren bei Kopfschmerzen wird viel geforscht, aber die meisten Studien sind nicht randomisiert und umfassen nur wenige Patienten. Eine Metaanalyse von 2021 mit 13 randomisiert-kontrollierten Studie und insgesamt 595 Teilnehmern zeigte, „dass klinisch relevante Effekte nur bei multimodalen physiotherapeutischen Therapien“ zu erwarten seien, so Marziniak.
Unterdiagnose des zervikogenen Kopfschmerzes vermeiden
Marziniak ergänzte seinen Vortrag um den Hinweis, dass die Abgrenzung zum zervikogenen Kopfschmerz wichtig sei. Entstünden die Kopfschmerzen durch Veränderungen an der Halswirbelsäule, könne er mitunter schwer von der Migräne anzugrenzen sein. „Aber wenn alle Migränekriterien erfüllt sind, dann ist das eher ein Ausschlusskriterium für zervikogene Kopfschmerzen“, so Marziniak.
Finde man dagegen Auffälligkeiten an der Halswirbelsäule, und die Kopfschmerzsymptome passten nicht gut zu einer Migräne, dann sollte man weiter untersuchen. „Der zervikogene Kopfschmerz ist der am wahrscheinlichsten unterdiagnostizierte Kopfschmerz“, betonte er.
Wirkt Akupunktur bei Kopfschmerzen – oder doch nicht?
Ähnlich wie physiotherapeutische Maßnahmen wurde auch die Wirksamkeit der Akupunktur in zahlreichen Studien untersucht, die allerdings oft keine ausreichende Qualität aufweisen. Ein Cochrane-Review aus dem Jahr 2016 mit Patienten mit Spannungskopfschmerzen fand, dass unter Akupunktur bei 51% der Patienten zu einer deutlichen Reduktion der Migränehäufigkeit kam. Dies war aber auch bei 43% der Patienten in der Gruppe mit Schein-Akupunktur der Fall.
2 in jüngerer Zeit veröffentlichte Studien aus China sorgten durch extrem große Effekte für Aufsehen: In einer im BMJ veröffentlichten Studie wurden manuelle Akupunktur und Schein-Akupunktur zur Prophylaxe bei episodischer Migräne verglichen: Bei 82,5% der Patienten kam es zu einem Rückgang der Kopfschmerztage um 50%. In der Scheinakupunktur-Gruppe waren dies bei 45,8% der Fall.
Eine weitere Studie, erschienen 2022 in Neurology, berichtete, dass sich Akupunktur auch bei chronischem Spannungskopfschmerz bewährt habe. Zu einer 50%igen Reduktion der monatlichen Kopfschmerztage kam es 68,2% der Patienten (vs. 50,0% unter Schein-Akupunktur).
Sind die Ergebnisse möglicherweise zu gut?
„Diese Zahlen haben zu viel Diskussion darüber geführt, ob die Ergebnisse möglicherweise zu gut sind“, so Marziniak. Dennoch schlussfolgert der Neurologe, dass „Akupunktur bei Migräne und Spannungskopfschmerzen einen starken prophylaktischen Effekt haben kann“.
Ein Fazit zur Akupunktur bei Kopfschmerzen, über das sich nicht alle Fachleute einig sind: Förderreuther sah in der Akupunktur eher eine „unterstützende Therapieoption bei motivierten Patienten, die daran glauben“. Immerhin gebe es keine Hinweise auf einen möglichen Schaden, ergänzte sie.
Was die kognitive Verhaltenstherapie erreichen kann
Eine wichtige Säule in der nicht-medikamentösen Kopfschmerzbehandlung ist auch die klassische kognitive Verhaltenstherapie. „Beim kognitiv-verhaltenstherapeutischen Kopfschmerzmanagement gibt es verschiedene Module und Interventionsmöglichkeiten, die man flexibel und auf die Bedürfnisse der Patient abgestimmt einsetzen sollte“, sagte Dr. Timo Klan vom Psychologisches Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. So hätten etwa die Hälfte der Patienten bei Migräne mit Attackenangst zu kämpfen – wem es aber in der interiktalen Periode gut gehe, der brauche keine Intervention gegen Attackenangst, erklärte er.
Kognitiv-verhaltenstherapeutische Maßnahmen zeigen in Studien im Allgemeinen leichte bis mittlere Effekte in der Kopfschmerzbehandlung. Sie können die Kopfschmerzaktivität und die Beeinträchtigung durch den Kopfschmerz reduzieren. „Im Schnitt kann bei Migräne die Zahl der Kopfschmerztage um 2 pro Monat reduziert werden“, sagte Klan.
Die Evidenzlage sei noch ausbaufähig. Zu wenig bekannt sei bisher über die Effekte kognitiv-verhaltenstherapeutischer Maßnahmen bei Cluster-Kopfschmerzen, und bei Migräne wisse man zu wenig über Langzeiteffekte.
Biofeedback: Der Patient kann kernen, seine Erkrankung selbst zu beeinflussen
Ergänzend zur psychologischen Behandlung kann den Patienten auch eine Biofeedback-Behandlung angeboten werden. Es handele sich dabei um eine leitliniengerechte Behandlung, deren Wirksamkeit nachgewiesen sei, sagte Anna-Lena Guth vom Kopfschmerzzentrum Frankfurt.
„Biofeedback bedeutet Lernen nach Versuch und Irrtum“, erklärte die psychologische Psychotherapeutin. „Rückmeldung und Wiederholung sind bei vielen Fertigkeiten, die wir Menschen lernen, etwa Schwimmen oder Radfahren, der Schlüssel zum Erfolg.“ Dies macht sich die Biofeedback-Therapie zunutze.
Gemessen werden verschiedene Biosignale – Muskelspannung, Hautleitwert, Hauttemperatur, Herzratenvariabilität, Gefäßdilatation, EEG-Frequenzband –, die dann visuell oder akustisch rückgemeldet werden. „Der Wirkfaktor beim Biofeedback ist zum einen die Verbesserung der Selbstwirksamkeit und zum anderen eine Verbesserung der Körperwahrnehmung.“ Außerdem helfe das Biofeedback auch bei der Vermittlung der Zusammenhänge zwischen Stress und der körperlichen Reaktion darauf, die bei der Kopfschmerz-Entstehung eine Rolle spiele.
Effekte bei Migräne und Spannungskopfschmerz
Über die verschiedenen Ableitungstechniken hinweg seien mittlere Effektstärken beobachtet worden, die über 1 bis 1,5 Jahre stabil bleiben könnten. „Effekte und Indikationen gibt es sowohl für die Migräne als auch den Spannungskopfschmerz, beim Cluster-Kopfschmerz ist Biofeedback weniger geeignet“, sagte Guth. Eingesetzt werden kann das Biofeedback sowohl in der Akutphase als auch in der Prophylaxe.
Eine randomisiert-kontrollierte Studie, die 2021 veröffentlicht wurde, zeigte noch einmal auf, dass beim Biofeedback die Wiederholung der Schlüssel zum Erfolg ist. Bei 52 Migränepatienten wurde die Herzratenvariabilität am Ohrläppchen abgeleitet, und das visuelle Feedback erfolgte über eine App auf dem eigenen Handy der Patienten. Sie sollten 2-mal 5 Minuten oder 1-mal 10 Minuten am Tag üben. Nach 29 Sitzungen zeigten sich in der gesamten Studienpopulation keine Unterschiede zu Kontroll-Patienten bei der Migräne-spezifischen Lebensqualität.
„Aber weitere Analysen zeigten etwas, was wir von diesem Verfahren bereits kennen, die Übung ist entscheidend. Die ‚Vielüber‘ hatten nämlich einen signifikanten Effekt“, so Guth. Ihr Fazit: Die Biofeedback-Therapie habe keine bekannten Nebenwirkungen und werde von den Patienten gut angenommen. Allerdings gebe es noch wenige Anbieter, auch weil es sich nicht um eine Regelleistung der gesetzlichen Krankenversicherung handele.
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Photographer: © 9nongphoto
Lead image: Dreamstime.com
Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Kopfschmerzen lindern ohne Tabletten: Diese nicht-medikamentöse Verfahren erhöhen den Therapieerfolg - Medscape - 7. Nov 2022.
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