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Frühwarnzeichen für Tötungsserien in Kliniken und Heimen: Psychiater hat 12 Fälle und ihre Täter analysiert – sein Fazit

2. November 2022

Immer wieder werden Fälle gerichtskundig, in denen Pflegende bewusst den Tod ihrer Schutzbefohlenen herbeiführen. Gerade wenn ganze Tötungsserien in Heimen oder Kliniken verhandelt werden, ist die öffentliche Empörung groß. Systematische Analysen, die dabei helfen könnten, solche Taten zu verhindern, gibt es bislang kaum. Prof. Dr. Karl H. Beine hat jetzt 12 Tötungsserien untersucht, die im deutschsprachigen Raum bis Februar 2022 abschließend verhandelt wurden.

Prof. Dr. Karl H. Beine

Bis zu seiner Emeritierung hatte Beine den Lehrstuhl für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universität Witten/Herdecke inne und forscht seit vielen Jahren zu Patiententötungen. Im Interview berichtet er, welche Gemeinsamkeiten es zwischen den Täterinnen und Tätern gibt, ob es Frühwarnzeichen gibt, welche Faktoren Tötungen begünstigen und was getan werden kann, um das Risiko zu reduzieren.

Medscape: Sie haben 12 Tötungsserien untersucht. Beim Blick auf die Täterinnen und Täter: Haben Sie Parallelen gefunden?

Beine: Ja, bei den forensischen Begutachtungen hat sich herausgestellt, dass die Täterinnen und Täter allesamt durch eine ausgeprägte Selbstunsicherheit gekennzeichnet sind. Sie sind in besonderer Weise ich-schwach und mehr als andere auf externe Belobigungen und auf Anerkennung angewiesen. Und wenn – was im gegenwärtigen Gesundheitswesen hochwahrscheinlich ist – diese Anerkennung sowohl in materieller Hinsicht als auch in ideeller Hinsicht ausbleibt, dann kann es gefährlich werden. Selbstunsicherheit ist ein gemeinsames Charakteristikum aller untersuchten Täter.

 
Selbstunsicherheit ist ein gemeinsames Charakteristikum aller untersuchten Täter. Prof. Dr. Karl H. Beine
 

Hinzu kommt die besonders ausgeprägte Unfähigkeit, Menschen, die am Ende ihres Lebens stehen, zu begleiten. Es ist eine hohe Kunst, einen leidenden Menschen, dem man medizinisch nicht mehr helfen kann, palliativ zu begleiten und ihm beizustehen. Doch genau das können diese Täter nicht: Der Zustand leidender Menschen, dieses fremde Leiden ist für sie unerträglich. Nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst auf eine gewisse Weise leidend sind.

Jeder kennt das ja von sich: Geht es uns selbst schlecht, dann sehen wir die Welt mit anderen Augen als wenn es uns gut geht. Bei den Tätern kommt es zu einer Vermischung von eigenem und fremdem Leiden, und dann legen sie Hand an.

Medscape: Gibt es Frühwarnzeichen?

Beine: Es gibt verschiedene Frühwarnzeichen. Retrospektiv findet man bei den Tätern eine zunehmend verrohte Sprache. Das ist ein schleichender Prozess, der sich über lange Zeit entwickelt.

 
Ein wichtiges Frühwarnzeichen ist auch die häufigere Anwesenheit eines Mitarbeiters bei Notfällen oder bei Todesfällen. Prof. Dr. Karl H. Beine
 

Ein wichtiges Frühwarnzeichen ist auch die häufigere Anwesenheit eines Mitarbeiters bei Notfällen oder bei Todesfällen. Und wir wissen, dass die Täterinnen und Täter sich im Nachhinein vermehrt zurückziehen, sie weisen gegenüber Patienten und Kollegen einen distanzierteren Umgang auf als zuvor.

Feststellbar sind auch immer Persönlichkeitsveränderungen, die im Nachhinein deutlich werden. Im Prozess sind die erst mal nicht aufgefallen oder wurden ignoriert, sie sollten aber Anlass geben, mit den Leuten zu reden. Es gibt in einigen Fällen – das ist aber nicht durchgängig so, kann also nicht generalisiert werden – eine besondere Nähe zu Vorgesetzten.

Unter Frühwarnzeichen fällt auch, dass der Medikamentenverbrauch an vielen Tatorten exorbitant gestiegen ist, ohne dass diese Medikamente verordnet worden waren oder dass kontrolliert worden wäre.

Auffällig ist auch, dass alle Täter vor ihrer Verhaftung Spitznamen trugen wie „Todesengel“, „Killer-Joe“, „Todes-Högel“ und ähnliches. Auf jeden Fall völlig bezeichnende Spitznamen.

Medscape: Zeigt das Vergeben dieser Spitznamen nicht, dass die Umgebung eigentlich weiß oder zumindest ahnt, was da abläuft?

Beine: Es wird darüber nicht gesprochen, es wird nicht ausgesprochen, es wird weggelacht. Man lacht mit der Vergabe von Spitznamen das Unsagbare sozusagen weg, man macht Scherze darüber, verteilt Spitznamen, die eine letzte Gewissheit zwar nicht herstellen, aber doch auf einen Verdacht hinweisen. Wenn solche Spitznamen kursieren, dann muss das eine Red Flag für Vorgesetzte sein, einzuschreiten.

Medscape: Welche Umstände in Kliniken und Heimen begünstigen, dass es zu Tötungsdelikten kommt?

 
Zu den Umständen, die Tötungsdelikte begünstigen, gehört sicher Personalmangel. Prof. Dr. Karl H. Beine
 

Beine: Zu den Umständen, die Tötungsdelikte begünstigen, gehört sicher Personalmangel. Dazu zählen auch Vorgesetzte, die nicht genau hinschauen, wenn Fehlermeldungen und aufwendige Beobachtungen von Kollegen nicht ernst genommen werden, wenn solchen Beobachtungen nicht nachgegangen wird. Wenn es Gerüchte gibt, die darauf hinweisen, dass der eine oder andere nicht sauber arbeitet und unter Umständen Patienten schädigt, und wenn die Leitung des Hauses diesen Gerüchten nicht nachgeht und mit den Betroffenen nicht offen redet – dann wird das richtig gefährlich.

Medscape: Wodurch kann das Risiko für Tötungsdelikte gesenkt werden?

Beine: Das offene Ansprechen eines Verdachts, das Nachgehen und Prüfen von Gerüchten und eine entsprechende Personalausstattung kann das Risiko für Tötungsdelikte senken.

 
Das offene Ansprechen eines Verdachts, das Nachgehen und Prüfen von Gerüchten und eine entsprechende Personalausstattung kann das Risiko für Tötungsdelikte senken. Prof. Dr. Karl H. Beine
 

Doch so wie das derzeit in Heimen und in Krankenhäusern aussieht, muss man sich nicht wundern, dass niemand besonders viel Kraft hat, um auch noch nach anderen zu schauen und darüber Auffälligkeiten beim Kollegen zu registrieren. Wenn ich den ganzen Tag unter extremem Zeitdruck arbeite, dann ist meine Fähigkeit, mich auf anderes einzulassen, schnell erschöpft. Und jeder von uns ist in seinem Arbeitsbereich wesentlich anfälliger für Fehler, wenn er unter Druck und ständigem Stress arbeiten muss.

Daher ist fehlendes Personal quantitativ und qualitativ natürlich ein Risikofaktor. Und nicht der geringste. Mit ausreichend Personal liegt das Risiko nicht bei null, und niemand wird allein dadurch zum Täter, weil die Arbeitsbedingungen schlecht sind und weil der Stress hoch ist. Aber die Tatsache, dass es um Tatzeiträume von mehreren Jahren geht, hängt u.a. damit zusammen, dass nicht hingeschaut bzw. in manchen Fällen aktiv vertuscht wurde.

Medscape: Gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede? Töten Frauen anders als Männer?

Beine: Ja, Männer töten häufiger. Der Anteil der Männer in den pflegerischen Berufsgruppen in deutschen Heimen und Krankenhäusern liegt bei ca. 14%. Sie kommen als Täter aber häufiger vor.

Bei den Tötungsmethoden gibt es keine Unterschiede. Da bevorzugen nahezu alle Täterinnen und Täter Medikamente als Tötungsmittel, die völlig frei verfügbar und niederschwellig zugänglich sind. Diese Tötungsmethode – bei der eine Spritze gegeben wird – sieht ja von außen wie eine normale ärztliche oder pflegerische Verrichtung aus.

Daher ist es besonders schwierig, an solchen Tatorten Tötungsdelikte zu erkennen, denn gestorben wird in Heimen und Krankenhäusern häufiger. Das heißt: Eine verstorbene Person erregt in einem Krankenhaus oder in einem Heim – im Gegensatz zu anderen Umgebungen – kein besonderes Aufsehen.

Hinzu kommt: Von helfenden Berufsgruppen werden solche Taten am allerwenigsten erwartet.

Medscape: Gehen Sie von einer hohen Dunkelziffer aus?

Beine: Ja. Wir haben mit unserer Studie („Praxis der Sterbehilfe in deutschen Krankenhäusern“) 2020 versucht, ein bisschen Licht in dieses Dunkel zu bringen. Wir haben Ärzte (n=2.507) und Pflegekräfte (n=2.683) gefragt, ob sie in den vergangenen 24 Monaten aktiv das Leben eines Patienten beendet hatten. Definiert war das als medizinische/pflegerische Intervention mit dem Ziel, den sofortigen Tod herbeizuführen.

Die Zahl der Befragten war relativ groß, aber nicht repräsentativ. Von den 2.507 beteiligten Ärzten gaben 3,3% an, schon einmal das Leben eines Patienten beendet zu haben. Es zeigte sich aber auch, dass 1,8% der Gesamtpopulation der befragten Ärzte nie um Sterbehilfe gebeten wurden.

Bei den Pflegekräften hatte rund 1% Sterbehilfe geleistet, ohne jemals darum gebeten worden zu sein.

Daraus kann man natürlich nicht schließen, dass diejenigen Serientäter sind. Die Studie zeigt aber, dass die Ärzte angegeben hatten, im Durchschnitt bei 5 Personen aktiv Sterbehilfe geleistet zu haben. Einzelne Befragte hatten aber auch mehr als 10 Personen angegeben. Das sind relativ erstaunliche Fallzahlen. Man kann daraus zumindest schließen, dass in diesen Fällen das Leben ohne Einwilligung der Patienten beendet wurde.

Ich denke, das Dunkelfeld ist sicher nicht so gering wie das Dunkelfeld bei normalen Tötungsdelikten, sondern die Dunkelziffer ist höher.

Medscape: Mangelt es an Hilfsangeboten für Pflegekräfte?

Beine: Ja. Es mangelt an Aufklärung. Ein Beispiel dafür ist der Prozess gegen die Vorgesetzten von Niels Högel, der vor Kurzem vor dem Landgericht Oldenburg beendet wurde. Angeklagt waren 7 Vorgesetzte von Högel aus den Kliniken in Oldenburg und Delmenhorst. Einer der Verteidiger hat mit Emphase vorgetragen, dass das, was da in Oldenburg passiert sei, einmalig gewesen sei. Das sei nie zuvor vorgekommen. Das ist natürlich falsch.

 
Ich rate dazu, sehr genau zu dokumentieren, was man tut. Prof. Dr. Karl H. Beine
 

Man muss von Führungskräften in deutschen Krankenhäusern erwarten dürfen, dass sie wissen, dass es solche Tötungsdelikte schon gegeben hat und dass so etwas immer auch im eigenen Haus passieren kann. Dass es nicht wahrscheinlich ist, aber passieren kann.

Es fehlt an Aufklärung, und es fehlt an Ombudsstellen und Vertrauenspersonen, an die ich mich wenden kann, wenn ich einen Verdacht habe, wenn ich eine obskure Beobachtung gemacht habe.

Medscape: Was raten Sie Ärzten oder Pflegekräften, die einen Verdacht hegen?

Beine: Ich rate dazu, sehr genau zu dokumentieren, was man tut.

Was man machen sollte: Die Indexperson (den Verdächtigen) beiseite nehmen und ihn behutsam ansprechen darauf, was aufgefallen ist. Also nicht anklagend und beschuldigend, sondern nachfragend kollegial, sich interessierend. Das sollte man als erstes machen – den Betroffenen ansprechen, auch wenn das unangenehm ist.

Und dann empfehle ich jedem Pflegenden und jedem Arzt, sich genau aufzuschreiben, was er wann mit wem besprochen hat, und dies dann dem Vorgesetzten zu melden.

Gegebenenfalls sollte eine solche Meldung auch schriftlich an die Klinikleitung gehen. Darin sollte darauf hingewiesen werden, dass man den Eindruck hat, dass da etwas läuft, das nicht in Ordnung ist, das nicht vereinbar ist mit dem Standard und dem Ziel des Hauses.

 
Das sollte man als erstes machen – den Betroffenen ansprechen, auch wenn das unangenehm ist. Prof. Dr. Karl H. Beine
 

Und zuletzt muss man dann darüber streiten, ob die Ermittlungsbehörden eingeschaltet werden oder nicht.

Medscape: Haben Sie ein Beispiel für ein solches Vorgehen?

Beine: Anfang dieses Jahres wurde in Essen ein Prozess gegen einen Arzt geführt. Er war aufgefallen, weil er einem COVID-Patienten gegen dessen Willen eine tödliche Dosis von Medikamenten gespritzt hatte. Der Pfleger, der das beobachtet hatte, ist zu seiner Pflegedienstleitung gegangen. Die Pflegedienstleitung wandte sich an die Geschäftsführung. Die sprach mit dem Arzt, das Gespräch verlief nicht zufriedenstellend, also haben sie die Ermittlungsbehörden eingeschaltet. Das ist der normale Weg, so muss das in solchen Fällen laufen.

Der Arzt wurde verhaftet und ist inzwischen verurteilt. Dieser Arzt hat das Elend, mit dem er konfrontiert wurde, nicht ertragen, und konnte sich aber nicht auf eine erwachsene und reife Weise aus dieser Situation befreien, indem er z.B. zu Hause geblieben wäre und festgestellt hätte: „Ich kann nicht mehr.“ Oder sich krankgemeldet hätte.

Medscape: Durch die Pandemie sind die ohnehin schon überlasteten Mitarbeiter noch mehr belastet, der Personalmangel verschärft sich. Steigt dadurch auch die Gefahr für Tötungsdelikte?

Beine: Nach allem, was ich mitbekomme, glaube ich das eher nicht. Die überwiegende Reaktion der Menschen, die in den Kliniken arbeiten, ist gesund: Sie verlassen das Heim oder die Klinik, gehen nach Hause und kündigen. Dieses Massenphänomen beobachten wir gerade.

Aber wenn jemand entsprechend prädisponiert ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er unter diesen Umständen länger unentdeckt seinem kriminellen Verhalten nachgehen kann. Es wird weniger auffallen.

Auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie kam es in Essen zu diesen Tötungsdelikten. Aber die Leute waren aufmerksam und haben trotz hohem äußerem Druck durch die Pandemie und durch den Personalmangel adäquat reagiert.

Medscape: Werden solche Tötungsdelikte inzwischen stärker thematisiert?

Beine: Ich glaube und hoffe und baue darauf, dass durch die spektakulären Prozesse – in Oldenburg, in Essen, es wird weitere geben, in München, Bremen – so etwas wie ein zunehmendes Problembewusstsein für dieses abgründige Phänomen entsteht. Und ich sehe, dass große Klinikträger Fortbildungsbedarf anmelden und auch Vorträge, Aufklärungsveranstaltungen anbieten.

 
Ich glaube und hoffe und baue darauf, dass durch die spektakulären Prozesse … so etwas wie ein zunehmendes Problembewusstsein für dieses abgründige Phänomen entsteht. Prof. Dr. Karl H. Beine
 

Daher hoffe ich darauf, dass eine zunehmende Sensibilisierung stattfindet für diese Verbrechen und nicht mehr die unreflektierte Grundhaltung dominiert wie: „So etwas kann anderswo passieren, aber doch nicht bei mir.“

Das Wichtigste ist, das ein Mitarbeiter in einem deutschen Krankenhaus es für möglich hält, dass so etwas auch am eigenen Arbeitsplatz passieren kann. Wenn dies Allgemeingut wird, dürfte das zumindest die Achtsamkeit etwas steigen.

Auf der anderen Seite darf es auch nicht zu einem generalisierten Tatverdacht kommen, nur wenn jemand einen Fehler macht. Deshalb ist eine offene Diskussions- und Fehlerkultur in einem Krankenhaus und in einem Pflegeheim so wichtig, letztlich ist das immer eine Frage der Betriebsatmosphäre und des gegenseitigen Vertrauens.

Medscape: Wir bedanken uns ganz herzlich für das Gespräch.

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