Putins Krieg gegen die Ukraine fordert unter seinen eigenen Soldaten enorm viele Opfer. Während am 2. März das russische Verteidigungsministerium von 498 getöteten russischen Soldaten und 1.600 Verletzten sprach, lag nach Schätzungen der USA und der NATO die Zahl schon damals deutlich höher: zwischen 3.000 und 10.000. Rund 7 Monate nach Kriegsbeginn sprach der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu von fast 6.000 toten russischen Soldaten, im August teilte das Pentagon mit, dass die tatsächliche Zahl wohl viel höher sei: bis zu 80.000 Tote und Verwundete.
Unterschiedliche Quellen bestätigen hohe Verluste
Belarussische Medien und Telegram-Kanäle, belarussische Blogger und Ärzte berichten von etlichen verwundeten und toten russischen Soldaten. Nach Angaben der Deutschen Welle (DW) kommen viele Verwundete nach Masyr, einer Stadt mit 110.000 Einwohnern im Südosten des Landes, „oft ohne Arme, Beine, Ohren, Augen“. Manche Soldaten würden zu spät und bereits mit Wundbrand eingeliefert.
„Wenn die Soldaten rechtzeitig gebracht würden, könnte man Gliedmaßen noch retten“, so eine nicht namentlich genannte Quelle der DW. Ihr zufolge haben einige der Verwundeten bis zu 5 Tage nichts mehr zu essen bekommen, waren desorientiert, hatten keine Ahnung, wo sie sich befanden, und baten nur noch darum, ihre Eltern anzurufen. „Es sind Patienten des Jahrgangs 2003, aus armen Regionen Russlands. Eigentlich sind sie noch Kinder“, heißt es im Gespräch mit der DW.
Laut Odessa-Journal berichten auch belarussische Blogger, dass mehrmals täglich verwundete russische Soldaten in das Krankenhaus von Masyr gebracht würden. Einwohner der Stadt seien empört und beschwerten sich darüber, dass die Aufnahme des Krankenhauses seit Kriegsbeginn nicht mehr richtig funktioniere. Patienten der Klinik berichten, dass mehrmals am Tag keine Zivilisten mehr hineingelassen werden und dass die Aufnahmeabteilung mehrere Stunden lang keine Krankenwagen mit Patienten annimmt. All das geschehe angeblich dann, wenn Militärfahrzeuge mit verwundeten russischen Angreifern einträfen.
Einer anderen Quelle der DW nach wurden in einem Krankenhaus in der Region Homel „ununterbrochen“ Operationen durchgeführt, bis zu 50 pro Nacht, einschließlich Routineoperationen an Zivilisten. „Das Krankenhaus ist voll“, so der Gesprächspartner, der darum bat, den Standort des Krankenhauses nicht zu veröffentlichen.
Mehrere Personen berichteten der DW, dass auch tote Soldaten nach Belarus transportiert würden. Allerdings konnte niemand eine genaue Zahl nennen. Radio Free Europe (RFE) hatte Mitte März berichtet, dass in Masyr das einzige Leichenschauhaus der Stadt überfüllt gewesen sei. „Es war unglaublich, wie viele Leichen dort lagen“, sagte ein Einwohner gegenüber RFE.
Geschmuggelte Röntgenbilder belegen schwere Verletzungen
Andrej, ein belarussischer Arzt, der mit seiner Familie nach Litauen flüchten konnte berichtet, dass Putin in Belarus massenhaft verwundete russische Soldaten behandeln lasse, damit „in Russland nicht auffällt, wie viele Verwundete es in Wirklichkeit gibt“, so Andrej gegenüber CNN. Innerhalb weniger Tage sah sich Andrei – dessen Name aus Sicherheitsgründen geändert wurde – nach eigenen Angaben gezwungen, russische Soldaten zu behandeln, die bei Moskaus Angriff auf die ukrainische Hauptstadt Kiew verletzt worden waren.
An einem späten Freitagabend im August, nachdem er seine Schicht im Krankenhaus in Masyr beendet hatte, machte sich die Familie auf den Weg Richtung Grenze. Andrejs Frau und seine beiden Kinder passierten den offiziellen Grenzübergang nach Litauen, Andrej nahm den Weg über die grüne Grenze. In einem der Spielsachen seiner Tochter hatte er einen USB-Stick versteckt, auf dem sich Beweise für das, was er gesehen hatte, befanden: dutzende Röntgenbilder verwundeter russischer Soldaten.
Mitte Februar hatte Andrej beobachtet, wie sich seine Heimatstadt Masyr in einen weitläufigen Militärstützpunkt verwandelte. Panzer rollten durch die Straßen, russische Soldaten gingen durch die örtlichen Geschäfte und betranken sich in den Bars der Innenstadt. Bald hatten Andrej und seine Familie den Verdacht, dass sich Russland auf einen Krieg vorbereitete. Als die Militärübungen am 20. Februar zu Ende gehen sollten, verlängerte die Krankenhausverwaltung die Anweisung, russische Soldaten kostenlos zu behandeln, bis zum 10. März. „Sie müssen gedacht haben, dass der Krieg bis dahin zu Ende ist“, berichtet Andrej.
Am Morgen des 24. Februar habe ein Krankenhausbeamter in der Klinik in Masyr alle Ärzte versammelt und ihnen befohlen, 250 Betten für russische Verletzte freizuhalten, alle geplanten Operationen zu stoppen und belarussische Patienten nach Möglichkeit nach Hause zu schicken. „Dann warnten sie uns, dass wir keine Informationen über russische Soldaten weitergeben dürften. Wir mussten eine Vertraulichkeitserklärung unterschreiben, die es uns verbot, Fotos oder Dokumente weiterzugeben“, berichtete Andrej gegenüber CNN. „Sie sagten uns, dass wir vom russischen Föderalen Sicherheitsdienst (FSB) beobachtet würden und dass sie Möglichkeiten hätten, unsere Telefone zu überwachen.“
Große Anstrengungen, um Informationen unter Verschluss zu halten
Die Belarusian Medical Solidarity Foundation teilt mit, dass belarussische Kliniken streng kontrolliert würden. „Mitarbeiter der Geheimdienste KGB oder FSB sind direkt in den Krankenhäusern im Einsatz, alle Gebäude werden bewacht. Viele Ärzte, die theoretisch etwas sagen könnten, wurden aus den Krankenhäusern entfernt. Stattdessen werden Russen eingesetzt“, heißt es seitens der NGO. Viele Ärzte und Mitarbeiter der Krankenhäuser hätten Angst und würden mit niemandem sprechen. Nach Angaben der NGO gibt es sehr viele tote Soldaten. Die Kliniken in Belarus seien überfüllt. „Alle Verwundeten, bei denen es noch möglich ist, werden mit Zügen nach Russland gebracht“, so ein Sprecher der Stiftung.
Ein Arzt im Hauptkrankenhaus von Masyr sagte gegenüber RFE, dass die Einrichtung von der Polizei und den Sicherheitsbehörden bewacht werde und den Ärzten mit Entlassung gedroht worden sei, falls sie sich zu den Zuständen äußerten. Der Arzt berichtete, dass alle Ärzte des Krankenhauspersonals mit der Behandlung verwundeter Russen betraut worden seien. „Es gibt nicht genug Chirurgen. Früher wurden die Leichen mit Krankenwagen transportiert und auf russische Züge verladen“, sagte der Arzt. „Nachdem jemand ein Video darüber gedreht und es ins Internet gestellt hatte, wurden die Leichen nachts verladen, um nicht aufzufallen.“
Aliaksandr Azarau, Leiter von ByPol, einer von ehemaligen belarussischen Polizei- und Sicherheitsdienstmitarbeitern gegründeten Organisation, erklärte gegenüber CNN, dass die Behörden von Masyr große Anstrengungen unternommen hätten, um Informationen über die Zahl der verwundeten russischen Soldaten und die Art ihrer Verletzungen unter Verschluss zu halten. Azarau sagte, dass das Krankenhaus „rund um die Uhr“ überwacht worden sei und das Personal vor der persönlichen Verantwortung für die Weitergabe von Informationen über Militärangehörige, die im Krankenhaus behandelt werden, gewarnt worden sei.
Dennoch gelang es dem Kollegen Andrej, heimlich die Röntgenbilder von Dutzenden von Soldaten zu kopieren, die im Krankenhaus von Masyr behandelt wurden. „Das, was ich mitgenommen habe, dieser Teil des Archivs, hätte mich wegen Spionage in Schwierigkeiten bringen können“, sagte er. Die Röntgenbilder enthalten die Namen und das Alter der Soldaten, von denen viele zwischen 19 und 21 Jahre alt waren, und zeigen ihre Verletzungen.
Andrej sagte, er habe gesehen, wie die größte Welle von Verletzten in den frühen Morgenstunden des 28. Februar im Krankenhaus von Mazyr eintraf. Insgesamt seien mehr als 100 russische Soldaten mit Verletzungen im Gesicht, klaffenden Wunden und komplizierten Brüchen durch Explosionen und Beschuss angekommen, so Andrej. Am selben Tag berichtete ein lokaler staatlicher Fernsehsender, dass es im Krankenhaus normal laufe. Andrej wertet das gegenüber CNN als Versuch, Gerüchte zu zerstreuen, dass dort russische Soldaten behandelt würden.
Kliniken und Leichenhäuser waren voll mit russischen Soldaten
In Wirklichkeit aber sei das Krankenhaus voll mit Soldaten gewesen, berichtete Andrej. Einigen fehlten die Augen, andere mussten amputiert werden – sie waren mit zertrümmerten Gliedmaßen angekommen. Einige trugen tagelang Aderpressen, um das Blut zu stillen, und ihre Körper waren mit Kugeln und Schrapnellen übersät, wie die Röntgenbilder zeigten. „Es gab mehr Verwundete, die eine Operation brauchten, als wir Operationstische hatten“, sagte Andrej. „Die Russen gaben uns einfach ihre verletzten [Soldaten] und kümmerten sich nicht um sie.“
Viele der Verletzten hatten in Gebieten außerhalb von Kiew gekämpft – in Hostomel, in Bucha und Borodianka und in Tschernobyl, wo ihre Truppen radioaktiver Strahlung ausgesetzt waren. Andrej sagte, er habe russische Fallschirmjäger und Spezialeinheiten behandelt, die bei dem Angriff auf den Flugplatz Hostomel verletzt worden seien, als ihr Hubschrauber unter Beschuss geraten sei.
„Das waren professionelle Killer. Wir mussten sie behandeln, das war unsere Aufgabe. Ich fühlte mich von der ganzen Sache angewidert. Aber als Arzt ist es mir nicht erlaubt, mich zu ekeln“, berichtet Andrej. Der russische Generalmajor Sergej Nyrkow, der in Tschernobyl eine schwere Unterleibsverletzung erlitten hatte, wurde laut seinem Röntgenbild, das Andrej mit hinausgeschmuggelt hatte, ebenfalls in Masyr behandelt. Die meisten Verletzten seien jedoch junge, unerfahrene Soldaten und Wehrpflichtige aus entlegenen Teilen Russlands, berichtete Andrej.
Am 1. März hatte Belarus´ Präsident Alexander Lukaschenko auf einer Sitzung des Sicherheitsrates eingeräumt, dass russische Soldaten in Krankenhäusern versorgt würden. „Wir behandeln sie und werden sie auch weiterhin behandeln – in Homel, Masyr und ich glaube, in einigen anderen Bezirkshauptstädten, wenn sie zu uns transportiert werden.“ Gleichzeitig tat er Berichte, wonach Russland große Verluste erlitten habe und erleide als Fake News ab.
Andrej und andere Mediziner bestätigen, dass Anfang März täglich 40 bis 50 russische Verletzte in das Krankenhaus Masyr gebracht worden seien, die „wie am Fließband“ ein- und wieder ausgeflogen wurden. Und Anna Krasulina, die Sprecherin der im Exil lebenden belarussischen Oppositionsführerin Swiatlana Tsikhanouskaya, erklärte im März gegenüber dem ukrainischen Fernsehsender Rada, dass die Leichenhallen in Masyr mit den Leichen russischer Soldaten überflutet seien.
Mikalai, ein Arzt aus der Region Homel, der sein Heimatgebiet verlassen hat und dessen Name aus Sicherheitsgründen ebenfalls geändert wurde, sagte gegenüber CNN, dass es nicht verwundere, dass die belarussischen und russischen Behörden große Anstrengungen unternommen hätten, um die Realität in den Krankenhäusern geheim zu halten. „Eine große Zahl verwundeter junger Soldaten ist ein schmutziger Fleck, der nicht mit der Idee dieser großen russischen Invasion übereinstimmt“. Behörden wollten den Eindruck erwecken, die Situation sei unter Kontrolle und Berichte über eine große Zahl von Opfern seien gefälscht. „Aber das ist die schlimme Wahrheit ... sie haben versucht, sie zu verbergen.“
Trotz Repressionen Berichte über russische Verluste
In den letzten Monaten sei eine Reihe von Personen verhaftet worden, weil sie russische Militärfahrzeuge gefilmt hätten, so Viasna, eine belarussische Menschenrechtsorganisation, deren inhaftierter Gründer kürzlich mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Doch trotz des repressiven Umfelds sind in sozialen Medien und lokalen Berichten Hinweise auf Moskaus Truppenverluste aufgetaucht.
Ende Februar begann das belarussische Hajun-Projekt, eine Gruppe von Aktivisten, auf Telegram Bilder von russischen Sanitätsfahrzeugen zu verbreiten, die Kämpfer von der Frontlinie über die Grenze bringen. Die Gruppe, die sich auf ein Netzwerk vertrauenswürdiger lokaler Quellen stützt, postete Bilder von grünen „PAZ“-Bussen aus der Sowjet-Ära, die mit roten Kreuzen und einem weißen "V" gekennzeichnet sind – ein Symbol, von dem angenommen wird, dass es für „Wostok“ oder den Osten steht – sowie von gepanzerten Krankenwagen in der Region Homel.
„Wir können bestätigen, dass [..] die Russen die belarussische Infrastruktur genutzt haben, einschließlich medizinischer Gebäude und Feldlazarette. Sie benutzten auch Leichenhallen ... und sie benutzten Bahnhöfe oder Luftwaffenstützpunkte, um Tote oder Verletzte zu transportieren, wir haben Fotos davon“, sagte Anton Motolko, ein belarussischer Blogger, der 2020 aus Minsk floh und das belarussische Hajun-Projekt gründete, gegenüber CNN.
Motolko gab an, seine Quellen hätten ihm berichtet, dass die Leichenhallen in der Gegend überfüllt seien und dass ein ständiger Strom von verwundeten Soldaten im Krankenhaus der Stadt Masyr ankomme, wo der Arzt Andrej gearbeitet hatte. Auch Sprecherin Krasulina stellte Anfang März im ukrainischen Fernsehen klar, dass die Opposition in Belarus nicht schweigen werde: „Wir müssen sowohl die Tschetschenen als auch die Russen darüber informieren, dass die belarussischen Leichenhallen im Süden von Belarus mit den Leichen ihrer Soldaten gefüllt sind“, sagte sie. „Es ist wichtig, dass sie das wissen. Wir werden nicht zulassen, dass die russische Propaganda dies verheimlicht.“
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Viele russische Soldaten des Ukrainekrieges in belarussischen Krankenhäusern – davon berichten Ärzte als Whistleblower - Medscape - 2. Nov 2022.
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