Im Rahmen der „Klug entscheiden“-Initiative der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) wurden einige fachgebietsspezifische Handlungsempfehlungen formuliert. Hier finden Sie eine Auswahl der wichtigsten Empfehlungen für die hausärztliche Praxis, die Dr. Marcel Schorrlepp, Mainz, Sprecher der AG Hausärztliche Internisten, zusammengestellt hat.
Die DGIM verfolgt mit ihrer Initiative „Klug entscheiden“ das Ziel, diagnostische und therapeutische Maßnahmen zu identifizieren, die häufig nicht fachgerecht erbracht werden.
Infektiologie: Influenza- und Pneumokokken-Impfung
Bei Erwachsenen über 60 Jahren, bei Personen mit erhöhter gesundheitlicher Gefährdung oder erhöhter Exposition sowie bei Personen, die als mögliche Infektionsquelle für Risikopersonen fungieren, soll eine Influenza-Impfung durchgeführt werden.
Ältere, chronisch Kranke und Schwangere haben ein erhöhtes Risiko, an einer schweren Influenza-Infektion mit lebensbedrohlichen Komplikationen zu erkranken. Die Influenza-Impfung ist eine sichere Präventionsmaßnahme, die einem schweren Verlauf der Infektion vorbeugen kann.
Die WHO fordert eine Impfrate von mindestens 75%. Die Impfquoten in Deutschland liegen weit unter den geforderten Raten (2013/14: Ältere 49%, Immunsupprimierte 23%).
Bei Patienten mit Immunsuppression, fortgeschrittener Leberzirrhose oder Niereninsuffizienz soll eine sequenzielle Pneumokokken-Impfung erfolgen.
Immunsupprimierte Patienten haben in Abhängigkeit von der Art der Immunsuppression ein deutlich erhöhtes Risiko für schwere Pneumokokken-Infektionen; das höchste Risiko besteht bei Asplenie. Auch bestimmte mit Immunsuppression assoziierte Komorbiditäten (chronische Nieren- oder Leberinsuffizienz) sowie anatomisch bedingte Risiken (Liquorfistel oder Cochleaimplantat) prädisponieren für Pneumokokken-Infektionen.
Für diese Patientengruppen empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) des Robert Koch-Instituts (RKI) seit 2016 eine sequenzielle Pneumokokken-Impfung mit dem 13-valenten Konjugat-Impfstoff, gefolgt vom 23-valenten Polysaccharid-Impfstoff im Abstand von 6 bis 12 Monaten. Sofern der Polysaccharid-Impfstoff bereits appliziert wurde, soll eine weitere Impfung mit dem Konjugat-Impfstoff im Abstand von mindestens einem Jahr erfolgen, um eine bessere Impfantwort zu erreichen. Für Stammzelltransplantierte gelten spezifische Impfschemata.
Im Gegensatz zum Polysaccharid-Impfstoff induziert der Konjugat-Impfstoff Gedächtniszellen. Insbesondere für HIV-Infizierte konnte eine Wirksamkeit der Konjugat-Vakzine belegt werden, während für die Polysaccharid-Vakzine keine signifikante Schutzwirkung nachgewiesen wurde. Allerdings erfasst der 13-valente Konjugat-Impfstoff derzeit nur circa 30% der Pneumokokken-Infektionen bei Erwachsenen, der 23-valente Polysaccharid-Impfstoff circa 60 bis 70% (laut PneumoWeb des RKI). Die sequenzielle Impfung mit beiden Impfstoffen vermittelt daher derzeit den besten Schutz gegen Pneumokokken-Infektionen.
Personen, die als mögliche Infektionsquelle für Risikopersonen fungieren, sollen im Sinne einer Umgebungsprophylaxe nach STIKO-Empfehlung geimpft werden.
Risikopersonen für Infektionskrankheiten sind vor allem Personen mit Immunsuppression. Dieser Anteil der Bevölkerung nimmt aufgrund der kontinuierlichen Therapieoptimierung, zum Beispiel in der Rheumatologie, Gastroenterologie oder Hämato-Onkologie, stetig zu. Sie leiden häufig an Infektionskrankheiten, welche oft schwer verlaufen. In Abhängigkeit von der Art der Immunsuppression ist es teilweise nicht möglich, den Patienten selbst durch Impfung vor Infektionen zu schützen.
Deswegen sollte in dieser Situation das Umfeld des Patienten, also Haushaltskontaktpersonen sowie andere Personen aus dem direkten Umfeld, nach den Empfehlungen der STIKO möglichst lückenlos durchgeimpft werden. Dies betrifft sowohl Standardimpfungen als auch Indikationsimpfungen (Influenza, Varizellen).
Endokrinologie: Osteoporose-bedingte Frakturen und Struma nodosa
Nach Osteoporose-typischen Frakturen soll bei älteren Patienten in der Regel eine spezifische Osteoporose-Therapie eingeleitet werden.
Das Risiko für Osteoporose-bedingte Frakturen steigt mit dem Lebensalter kontinuierlich an. Bei Patienten mit Osteoporose-bedingten Frakturen besteht ein hohes Risiko für Folgefrakturen. Nach einem Wirbelkörperbruch steigt das Refrakturrisiko bei osteoporotischer Knochendichte auf über 50%. Mit der Therapie sinkt das Frakturrisiko stark.
Eine spezifische medikamentöse Versorgung erhalten jedoch nur 45–50% der Patienten. Bei älteren Patienten mit Osteoporose-typischen Frakturen soll deshalb ergänzend zu den Basismaßnahmen eine medikamentöse Therapie begonnen werden, um neue Frakturen zu verhindern, auch wenn eine Knochendichtemessung nicht zur Verfügung steht.
Eine Dauertherapie mit Levothyroxin bei Struma nodosa soll nicht durchgeführt werden.
Therapieoptionen der Struma nodosa umfassen die Behandlung mit Jod, L-Thyroxin oder die Kombination aus Jod und Thyroxin. Die beste Evidenz für einen günstigen Therapieeffekt hat die Kombinationsbehandlung aus L-Thyroxin und Jod. Studiendaten, die den Nutzen einer Dauertherapie mit L-Thyroxin zeigen, existieren nicht.
Die SHIP-Studie zeigte, dass 19,5% der Patienten, die Thyroxin-Präparate einnahmen, einen zu niedrigen TSH-Wert hatten. Bei supprimierten TSH-Werten ist das Risiko für Vorhofflimmern deutlich erhöht und mit einer erhöhten kardiovaskulären Mortalität verknüpft. Bei jahrelanger TSH-Suppression besteht zudem die Gefahr der Osteoporose mit erhöhter Frakturgefahr.
Jede zufällig entdeckte Raumforderung der Nebenniere (Inzidentalom) soll endokrinologisch abgeklärt werden.
Inzidentalome der Nebenniere sind definiert als zufällig entdeckte Raumforderungen der Nebenniere, die mittels Bildgebung entdeckt wurden. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um ein benignes Nebennierenadenom. Radiologische und Autopsie-Studien zeigen eine Prävalenz von klinisch unauffälligen Raumforderungen von etwa 3% im 50. Lebensjahr bis zu 10% bei älteren Menschen.
Durch den Einsatz von Ultraschall, Computertomografie und Magnetresonanztomografie werden diese Veränderungen zunehmend häufig diagnostiziert. In einem Teil der Fälle kann es sich um hormonproduzierende Adenome handeln (Aldosteronom, Phäochromozytom, autonome Kortisolproduktion). Andere benigne und maligne Entitäten sind dagegen abzugrenzen. Insbesondere bei Patienten mit arterieller Hypertonie und einem Inzidentalom der Nebenniere sollte gezielt eine hormonelle Ursache ausgeschlossen werden.
Angiologie: Sekundärprophylaxe nach venöser Thromboembolie
Die Zeitdauer einer langfristigen medikamentösen Sekundärprophylaxe nach venöser Thromboembolie (VTE) soll jährlich bezüglich der VTE-Rezidiv- und Blutungsrisiken neu abgewogen werden.
Dem Nutzen einer weitestgehenden Verhinderung erneuter thromboembolischer Ereignisse steht das kumulative Blutungsrisiko durch Antikoagulanzien entgegen. Eine Langzeitantikoagulation ist daher nie kategorisch indiziert, das individuelle Nutzen-Risiko-Verhältnis muss regelmäßig überprüft werden.
Bei alleinigem Nachweis eines heterozygoten Faktor-V-Leiden- oder Prothrombin-Polymorphismus soll eine dauerhafte medikamentöse Sekundärprophylaxe nach venöser Thromboembolie (VTE) nicht erfolgen.
Insbesondere die häufigen genetischen Varianten, der heterozygote Faktor-V-Leiden-Defekt oder die heterozygote Prothrombin-20210-Mutation, sind nicht oder nur mit einer gering erhöhten Rezidivrate mit einer venösen Thromboembolie verknüpft. Ihr Vorliegen beeinflusst daher nicht die Entscheidung über die Dauer der Antikoagulation in der Sekundärprophylaxe der VTE.
Rheumatologie: Gicht, Lyme-Borreliose und längerer Glukokortikoid-Therapie
Nach Gichtanfall soll eine harnsäuresenkende Therapie nicht ohne niedrig-dosierten Colchicin-Schutz begonnen werden.
Die Schutztherapie mit Colchicin (2 × 0,5 mg) soll neue Gichtattacken als Folge initialer Harnsäure-Mobilisation unter Harnsäure-Senkern verhindern. Sie sollte ca. 6 Monate lang erfolgen.
Bei Kontraindikationen gegen Colchicin oder Unverträglichkeit kann die Anfallsprophylaxe mit niedrigdosierten nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) oder Glukokortikoiden erfolgen.
Ohne typische Anamnese und Klinik soll eine Borrelien-Serologie nicht bestimmt werden.
Die Lyme-Borreliose manifestiert sich am Bewegungsapparat als eine oft rekurrierende Mon- oder Oligoarthritis großer Gelenke mit bevorzugtem Befall der Kniegelenke. Ein vorangegangenes Erythema migrans ist ein wichtiger anamnestischer Hinweis, fehlt aber häufig. Die Durchführung einer Borrelien-Serologie ohne entsprechende Symptomatik bedingt aufgrund der Seroprävalenz in der Bevölkerung („Durchseuchungstiter“) eine hohe Wahrscheinlichkeit von Fehldiagnosen. Chronische muskuloskelettale Schmerzsyndrome, wie zum Beispiel ein Fibromyalgie-Syndrom, sind keine Diagnosekriterien für eine Lyme-Borreliose.
Bei absehbar längerfristiger Glukokortikoid-Gabe (mehr als 3 Monate) sollte jeder Patient eine initiale Knochendichtemessung (DXA), eine Vitamin-D-Prophylaxe und ausreichende Kalziumzufuhr, ein moderates Muskeltraining und gegebenenfalls eine spezifische Osteoporose-Therapie erhalten.
Bereits eine orale Glukokortikoid-Therapie mit mehr als 5 mg Prednisolon-Äquivalent täglich führt zu einer Reduktion des Knochenmineralsalzgehalts und einem raschen Anstieg des Frakturrisikos, beginnend 3 bis 6 Monate nach Therapiebeginn und anhaltend für die Dauer der Therapie. Zur Basisdiagnostik wird neben Anamnese und klinischem Befund als Standardverfahren eine Knochendichtemessung (DXA) (LWS, Gesamtfemur, Femurhals) empfohlen, zur Risikoabschätzung soll der DVO-Risikoscore verwendet werden.
Wichtig ist als „Basistherapie“ (Prophylaxe) die Sicherstellung von 1.000 mg Kalzium-Gesamtzufuhr täglich und 800 bis 1.000 IE Vitamin D3. Eine Kalzium-Supplementation ist nur notwendig, wenn die Nahrungskalziumzufuhr zu gering ist.
Eine generelle Indikation für eine medikamentöse Osteoporose-Therapie ist gegeben bei bestehender oder geplanter Therapie mit oralen Glukokortikoiden von mehr als 7,5 mg Prednisolonäquivalent täglich für mehr als 3 Monate, wenn der T-Score ≤ −1,5 an der LWS1 oder dem Schenkelhals oder dem Gesamtfemur beträgt (individuell auch bei T-Score > −1,5) oder bei niedrigtraumatischen Wirbelkörperfrakturen oder multiplen peripheren Frakturen.
Gastroenterologie: Koloskopie-Vorsorge
Bei Personen, die an der Koloskopie-Vorsorge/-Früherkennung entsprechend der Krebsfrüherkennungs-Richtlinie (KFE-R) teilnehmen, soll keine zusätzliche Untersuchung auf fäkales okkultes Blut (FOBT) erfolgen.
Die Koloskopie ist die effektivste Maßnahme zur Vorsorge/Früherkennung des kolorektalen Karzinoms mit einer sehr geringen Komplikationsrate. Tandemuntersuchungen haben gezeigt, dass größere Adenome nur selten (0 bis 6%) übersehen werden. Bei einer unauffälligen Koloskopie fanden sich nach 5,5 Jahren keine Karzinome und weniger als 1% fortgeschrittene Neoplasien. Fall-Kontrollstudien legen nahe, dass das Risiko auch noch mehr als 10 Jahren nach einer unauffälligen Koloskopie sehr niedrig ist.
Von entscheidender Bedeutung ist, dass die Koloskopie mit höchstmöglicher Qualität durchgeführt wird. Es wird davon ausgegangen, dass eine unauffällige Koloskopie nach 10 Jahren wiederholt werden sollte, bei Nachweis von Adenomen gelten kürzere Kontrollintervalle. Aufgrund dieser Daten sollte bei Teilnehmern an der Vorsorgekoloskopie auf Stuhltests auf okkultes Blut verzichtet werden, zumal angesichts der beträchtlichen Rate falsch-positiver Befunde bei den Stuhltests unnötig zusätzliche endoskopische Untersuchungen veranlasst werden könnten.
Nephrologie: Hohe Trinkmengen
Hohe orale Flüssigkeitsmengen sollen nicht eingesetzt werden, um die Nierenfunktion zu bessern oder „Nieren zu spülen“.
Zahlreiche Studien belegen, dass eine Trinkmenge beziehungsweise Flüssigkeitszufuhr über 2 Liter pro Tag weder renale Endpunkte noch die Mortalität in der Allgemeinbevölkerung, bei CKD-Patienten oder bei akutem Nierenversagen beeinflusst.
Palliativmedizin: Laxantien bei Opiod-Therapie
Laxanzien zur Behandlung oder Vorbeugung von Opioid-bedingter Obstipation sollen routinemäßig verordnet werden.
Eine prophylaktische Laxanzien-Behandlung stellt eine häufige und wichtige flankierende Maßnahme bei Patienten mit langanhaltender Opioid-Therapie dar. In der systematischen Cochrane-Analyse von Candy et al. wurden 7 randomisierten kontrollierten Studein mit 616 teilnehmenden Patienten ausgewertet. Hier zeigte sich zudem keine Evidenz, nach der ein Laxans gegenüber einem anderen zu bevorzugen sei.
Der Nutzen der Gabe von Laxanzien zur Behandlung oder Vorbeugung von Opioid-bedingter Obstipation ist als Empfehlung 6.25 und auch als Qualitätsindikator QI 3 Bestandteil der S3-Leitlinie Palliativmedizin.
Pneumologie: Orale Cephalosporine bei ambulant erworbener Pneumonie
Orale Cephalosporine sollen nicht zur Initialtherapie bei ambulant erworbener Pneumonie (CAP) verwendet werden.
Die in der oralen Applikation maximal möglichen Dosierungen von Cephalosporinen stellen regelhaft eine deutliche Unterdosierung zur Therapie klinisch relevanter Infektionen dar. Entsprechend ist die Gabe von oralen Cephalosporinen bei CAP signifikant mit einem Therapieversagen und nachfolgender Hospitalisierung assoziiert. Ferner ist die Gabe oraler Cephalosporine ein Risikofaktor für die Ausbreitung resistenter gramnegativer Erreger (ESBL) auch im ambulanten Bereich und begünstigt die Selektion von Clostridioides difficile.
Primär empfohlene Antibiotika bei ambulanter oraler Therapie einer leichten CAP sind Amoxicillin bei Patienten ohne relevante Begleiterkrankungen und Amoxicillin/ Clavulansäure bei Patienten mit relevanten Komorbiditäten (chronische Herzinsuffizienz NYHA III/IV, ZNS-Erkrankungen mit Schluckstörungen, COPD, Bronchiektasen, Bettlägerigkeit, perkutaner endoskopischer Gastrostomie [PEG]).
Parenteral applizierte Cephalosporine sind dagegen prinzipiell geeignet zur stationären Therapie der Pneumonie, da deutlich höhere Dosierungen appliziert werden können.
Bei einer akuten COPD-Exazerbation soll keine langandauernde Steroidtherapie, sondern ein Prednisolon-Stoß für 5 Tage durchgeführt werden.
Die Definition einer akuten Exazerbation bei chronisch obstruktiver Lungenerkrankung (COPD) ist erfüllt, wenn es zu einer akuten, über mindestens 2 Tage anhaltenden Verschlechterung der respiratorischen Symptome mit der Notwendigkeit einer Intensivierung der Therapie kommt. Zwar verkürzen systemische Steroide die Exazerbationszeit sowie die Krankenhausverweildauer und führen zu Verbesserungen der Lungenfunktion sowie der Oxygenierung, werden aber im klinischen Alltag häufig überdosiert und zu lange appliziert.
Nach Leilinienempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Pneumologie (2018) sowie der GOLD-Strategie (2019) sollen systemische Kortikosteroide bei einer klinisch schweren Exazerbation über 5 Tage und nicht höher dosiert als 50 mg Prednisolon-Äquivalent pro Tag eingesetzt werden. Kontrovers ist die Diskussion über den Einsatz von Antibiotika, die nur bei klinischen Hinweisen auf eine bakterielle Infektion eingesetzt werden sollten.
Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de .
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Diesen Artikel so zitieren: DGIM-Initiative „Klug entscheiden“: Die wichtigsten Empfehlungen für Hausärzte - Medscape - 31. Okt 2022.
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