Migräne-Spezial vom Schmerzkongress: Antikörper gegen CGRP nehmen eine Vorreiterrolle ein – teuer aber gut verträglich

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

31. Oktober 2022

Täglich erleiden etwa 350.000 Menschen in Deutschland Migräneattacken. Die Kopfschmerzerkrankung schränkt Betroffene in fast allen Lebensbereichen ein. Von der individuellen Belastung für den einzelnen abgesehen, ist auch der volkswirtschaftliche Schaden durch Migräne erheblich, erinnerte Dr. Robert Fleischmann, Oberarzt an der Klinik und Poliklinik für Neurologie, Universitätsmedizin Greifswald, auf der Pressekonferenz der Deutschen Schmerzgesellschaft und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft zum Schmerzkongress 2022 [1].

„Das sind 1 Milliarde Kopfschmerzattacken pro Jahr. 800 Millionen Arbeitsstunden (bezahlte Arbeit) und 1 Milliarde unbezahlte Arbeitsstunden gehen dadurch verloren. Das macht 3,2% der Arbeitsstunden aus, die insgesamt in der Wirtschaft geleistet werden. Und der Gegenwert entspricht etwa 145 Milliarden Euro des Bruttosozialprodukts – das ist in etwa der Beitrag der gesamten Automobilindustrie in Deutschland“, rechnete Fleischmann vor.

 
Therapien, die auf CGRP basieren, nehmen in der Migränebehandlung und -prophylaxe mittlerweile eine Vorreiterrolle ein. Dr. Robert Fleischmann
 

Die moderne Therapieoption mit monoklonalen Antikörpern verspricht, Migräneattacken rechtzeitig zu vermeiden – ohne die Nebenwirkungen bisheriger Mittel. „Therapien, die auf CGRP basieren, nehmen in der Migränebehandlung und -prophylaxe mittlerweile eine Vorreiterrolle ein“, erklärte Fleischmann.

CGRP steht für Calcitonin-Gene-Related-Peptide, welches als vasoaktives Neuropeptid bereits in den 1980er-Jahren in Zusammenhang mit der Migräne entdeckt wurde. CGRP spielt bei der Entstehung, Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Migräne eine bedeutsame Rolle. „Zahlreiche Studien zeigen, dass CGRP und CGRP-Rezeptoren an nahezu allen wichtigen Prozessen der Migräne direkt oder indirekt beteiligt sind“, sagte Fleischmann.

Mittlerweile 4 monoklonale Antikörper gegen CGRP

„In der Akutbehandlung wird die Freisetzung von CGRP schon seit Jahren indirekt erfolgreich mit sogenannten Triptanen verhindert“, berichtete Fleischmann. Triptane werden bereits seit Anfang der 1990er-Jahre zur Akuttherapie der Migräne eingesetzt. „Die Weiterentwicklung der Gepante – Medikamente, die das CGRP direkt blockieren – erlebte zunächst einen Rückschlag durch eine erhebliche Leberschädigung“, erklärte Fleischmann.

In der Folge wurden neue Wege der gezielten Blockade des CGRP-Signalwegs gesucht und gefunden: Mittlerweile haben sich monoklonale Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor als die vielversprechendsten Moleküle für die Migränetherapie erwiesen. Gleichzeitig wurde die starke Beteiligung von CGRP an der Pathophysiologie der Migräne nachgewiesen. Die Antikörper sind eine nebenwirkungsarme Alternative und unterdrücken entweder das CGRP selbst oder den CGRP-Rezeptor und wirken so prophylaktisch.

 
Zahlreiche Studien zeigen, dass CGRP und CGRP-Rezeptoren an nahezu allen wichtigen Prozessen der Migräne direkt oder indirekt beteiligt sind. Dr. Robert Fleischmann
 

„Auf dem deutschen Markt gibt es mittlerweile 4 Antikörper gegen CGRP oder den CGRP-Rezeptor. Sie führen meist innerhalb der ersten 2 Behandlungswochen zu einer deutlichen Verbesserung der Migräneattacken und haben dazu kaum Nebenwirkungen“, sagte Fleischmann. Bei den 4 Antikörpern handelt es sich um:

  • Erenumab,

  • Fremanezumab,

  • Galcanezumab und

  • Eptinezumab.

Vergleicht man die einzelnen monoklonalen Antikörper miteinander, sind sie praktisch alle etwa gleich wirksam und insgesamt gut verträglich.

Seit 3 Jahren steht in Deutschland der monoklonale Antikörper Erenumab, der auf den CGRP-Rezeptor zielt, zur Migräneprophylaxe zur Verfügung. Wie Medscape berichtet hatte, zeigte der Antikörper im Direktvergleich mit Topiramat hinsichtlich der Effektivität und Verträglichkeit eine klare Überlegenheit (HER-MES-Studie).

Laut Fachinformation kommen Patienten mit mehr als 4 Migränetagen pro Monat für eine Therapie mit monoklonalen Antikörpern infrage. Aufgrund der hohen Kosten der Mittel handelt es sich dabei um Patienten, die auf die bisherigen Migräneprophylaktika entweder nicht angesprochen haben, diese nicht vertragen haben oder bei denen diese kontraindiziert sind, sowie Patienten mit chronischer Migräne oder sehr häufiger Migräne, präzisiert Prof. Dr. Christoph Diener, Sprecher der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) im Neuro-Talk.

„Diese Substanzen sind hoch wirksam, sie haben eine gute Adhärenz, weil sie injiziert und nicht geschluckt werden. Größter Vorteil ist die geringe Rate an Nebenwirkungen. Derzeitiger Wermutstropfen ist die eingeschränkte Verordnungsfähigkeit aufgrund der hohen Kosten“, so Diener.

GRP-basierte Signalwege auch für andere Kopfschmerzarten wichtig?

Zwar gab es bereits früher prophylaktische Medikamente, die eine erwiesene Wirksamkeit aufweisen, wie z.B. Betablocker, Antikonvulsiva oder Antidepressiva. Diese wurden aber, erinnert Fleischmann, für andere Indikationen entwickelt, und ihre Wirksamkeit bei Migräne ist eher ein Zufallsprodukt. Infolgedessen sind sie in der Migränebehandlung oft nebenwirkungsreich. Hinzu kommt, dass therapeutisch wirksame Dosierungen leider erst nach mehreren Wochen der Aufdosierung erreicht werden – sofern die Mittel überhaupt vertragen werden.

 
Diese Substanzen sind hoch wirksam, sie haben eine gute Adhärenz, weil sie injiziert und nicht geschluckt werden. Prof. Dr. Christoph Diener
 

Eine Studie aus 2015 zeigt, dass die Compliance der Patienten nach 6 Monaten unter diesen Mitteln nicht gut war und sich nach 12 Monaten noch verschlechtert hatte. Mit Botulinumtoxin A nach dem PREEMPT-Schema gibt es zwar eine verträgliche Alternative seit 2012, zugelassen ist das aber nur für die Prophylaxe der chronischen Migräne.

Interessant bleibt, so Fleischmann, ob CGRP-basierte Signalwege auch bei anderen Kopfschmerzarten oder sogar anderen chronischen Schmerzerkrankungen eine therapeutische Rolle spielen können. Dies ist Gegenstand mehrerer Studien. Für den Cluster-Kopfschmerz gibt es bereits vorsichtig optimistische erste Studienergebnisse, sagte Fleischmann.

 
Größter Vorteil ist die geringe Rate an Nebenwirkungen. Derzeitiger Wermutstropfen ist die eingeschränkte Verordnungsfähigkeit aufgrund der hohen Kosten. Prof. Dr. Christoph Diener
 

CGRP-basierte Therapien nehmen derzeit eine Vorreiterrolle bei der Behandlung von Migräne ein. Es werden aber bereits weitere vielversprechende Kandidaten und Therapieziele untersucht: etwa das Migräne-verursachende Neuropeptid PACAP-System (Pituary Adenylate Cyclase-Activating Polypeptide, Hypophysen-Adenylat-Cyclase-aktivierendes Polypeptid) oder Ionenkanäle wie der ATP-abhängige Kaliumkanal.

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