Was tun, wenn Patienten mit Multipler Sklerose einen akuten Schub erleiden, aber die Standardbehandlung mit Methylprednisolon keine Besserung bringt? Die Leitlinien empfehlen – noch – einen 2. Zyklus des Steroids in doppelter Dosis. Eine deutsche Studie weist nun nach, dass die visuellen, motorischen und sensorischen Fähigkeiten mit einer Immunadsorption besser erhalten bleiben – ein wichtiges Ergebnis für eine Revision der Leitlinien [1].
Die Langzeittherapie zur Immunmodulation bei Multipler Sklerose habe in den letzten 20 Jahren zwar deutliche Fortschritte gemacht, nicht jedoch die Behandlung akuter Schübe, erläutern Dr. Steffen Pfeuffer von der Universität Münster und seine Kollegen im Journal of Neuroinflammation. Üblich sei immer noch Methylprednisolon in der hohen Dosis von 1.000 mg täglich intravenös an 3 bis 5 aufeinanderfolgenden Tagen.
Allerdings spricht etwa ein Viertel der Patienten nur unzureichend auf den 1. Zyklus an, so dass die Leitlinien zu einer Wiederholung mit der doppelten Dosis raten. Erst wenn selbst das keine Besserung bringt, wird als Alternative eine Form der Apherese vorgeschlagen, die Immunadsorption.
Ein Separator trennt Plasma und Zellen
Dabei handelt es sich um ein extrakorporales Verfahren zur Entfernung von (Auto-)Antikörpern und Immunkomplexen bei Autoimmunerkrankungen oder Transplantatabstoßungen. Aus dem Blut wird kontinuierlich das Plasma von den zellulären Bestandteilen abgetrennt, über einen Adsorber geleitet, der die pathogenen Substanzen bindet, und so gereinigt wieder in den Kreislauf des Patienten eingespeist.
Die Immunadsorption hat sich bereits als Rettung bewährt, wenn Methylprednisolon versagt hat: Studien zu Patienten mit klinisch isoliertem Syndrom oder schubförmiger Multipler Sklerose ergaben Ansprechraten bis zu fast 90%. Ein Nachteil besteht allerdings darin, dass es sich um eine invasive Methode handelt, weil ein zentraler Venenkatheter erforderlich ist; zudem sind die Kosten vergleichsweise hoch.
Auch die Wirkmechanismen unterscheiden sich:
Methylprednisolon zielt fast ausschließlich auf T-Zellen ab, indem es deren Apoptose auslöst.
Die Immunadsorption mit dem Liganden Tryptophan hingegen entfernt lösliche Immunglobuline wie IgG und IgM.
Doch wie schneidet die Immunadsorption in puncto Sicherheit und Wirksamkeit gegen einen 2. Zyklus Methylprednisolon in doppelter Dosis ab? Das zu wissen wäre für Leitlinien relevant, aber ein solcher Vergleich fehlte bisher.
Die Krankheit war noch nicht weit fortgeschritten
Das Team um Pfeuffer hat diesen Vergleich nun mit einer prospektiven Beobachtungsstudie geliefert. Teilnehmer waren 42 Multiple-Sklerose-Patienten der dortigen Abteilung für Neurologie – mit einem Durchschnittsalter von 35 Jahre noch recht jung und in einem frühen Stadium ihrer Erkrankung. Wegen eines akuten Schubs hatten sie bereits einen 1.000-mg-Zyklus Methylprednisolon erhalten, jedoch ohne nennenswerten Erfolg.
26 von ihnen erhielten daraufhin noch einmal Methylprednisolon, diesmal allerdings 2.000 mg täglich an 5 aufeinanderfolgenden Tagen, begleitet von einer Prophylaxe gegen Magengeschwüre, Venenthrombosen und Osteoporose.
16 Patienten wurden der Immunadsorption mit einer Tryptophansäule zugeteilt – 6 Sitzungen innerhalb einer Woche, zusätzlich eine Antikoagulation mit unfraktioniertem Heparin.
Die Testbatterie erfolgte verblindet
2 Neurologen untersuchten die Patienten vor der Immunadsorption bzw. dem 2. Methylprednisolon-Zyklus, bei der Entlassung und noch einmal 3 Monate später, ohne dass sie Informationen über die Art der Behandlung erhielten. Zur Bewertung dienten der EDSS-Score (Expanded Disability Status Scale), der MSFC-Test (Multiple Sklerose Functional Composite) und der SF36-Fragebogen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität.
Außerdem machten sie elektrophysiologische Tests, einschließlich visuell und somatosensorisch evozierter Potenziale. Weiterhin wurden zelluläre Bestandteile im Blut mit der Durchflusszytometrie und lösliche Faktoren mit Serumanalysen bestimmt, um Aufschluss über immunologische Veränderungen zu erhalten.
Die Auswertung zeigte signifikante Vorteile der Immunadsorption gegenüber einem erneuten, höher dosierten Methylprednisolon-Puls – nicht nur direkt nach den jeweiligen Behandlungen, sondern auch bei der Folgeuntersuchung.
Die Chancen für günstigen Verlauf wurden berechnet
So ergab sich bei der Entlassung mit Immunadsorption eine Odds Ratio von 11 für volles oder mäßiges Ansprechen. Das heißt: Patienten mit Immunadsorption hatten eine 11-mal größere Chance, diese günstigen Ergebnisse zu erreichen, als die Referenzgruppe mit dem Steroid. Oder anders ausgedrückt: Bei jeweils 19% hatten sich die Symptome völlig gebessert und bei einem gleich hohen Anteil gar nicht, während die entsprechenden Werte mit Methylprednisolon bei 4% und 62% lagen. Bei den übrigen Teilnehmern war die Linderung der Beschwerden mäßig ausgefallen.
Bei der Untersuchung 3 Monate später interessierte die Forscher primär die Zahl der Patienten, die sich vollständig erholt hatten. Zu diesem Zeitpunkt war die Wahrscheinlichkeit, zur Topgruppe zu gehören, mit Immunadsorption sogar 103-mal größer. Mit Methylprednisolon gab es noch 50% Non-Responder, mit Immunadsorption gar keine mehr.
Als bemerkenswert stufen die Autoren außerdem ein, dass es mit Immunadsorption bis zu einem Rückfall länger dauerte als mit Methylprednisolon, nämlich median 104 zu 88 Tagen. Das häufigste Symptom eines Rezidivs war eine Optikusneuritis.
Leistungsskalen geben Schwere der Behinderung an
Die EDSS-Scores unterschieden sich bei der Entlassung nicht signifikant zwischen den Gruppen, aber bei der Nachsorge zeigten sich mit Immunadsorption bessere Werte. Die MSFC-Scores wiederum waren zu beiden Terminen signifikant günstiger. Ebenso ließen die Angaben der Patienten im SF36-Fragebogen mit Immunadsorption auf eine bessere Lebensqualität schließen.
Die Durchflusszytometrie zeigte eine tiefgreifende Verringerung der B-Zellen nach der Immunadsorption (von 253/µl auf 148/µl), die eng mit der klinischen Besserung korrelierte, wie die Forscher herausfanden. Außerdem sank der Gehalt an B-Zell-bezogenen Zytokinen.
Die Forscher vermuten daher, dass die Abnahme der B-Zellen und die Modulation ihrer Funktion ein wesentlicher Wirkmechanismus der Immunadsorption ist. Methylprednisolon dagegen hatte nur minimale Auswirkungen auf diese Zellpopulationen.
Auch bei den Messungen der elektrischen Aktivität schnell leitender sensibler Nervenfasern (somatosensorisch evozierte Potenziale) schnitt die Gruppe mit Immunadsorption zumindest bei der Nachuntersuchung besser ab.
Besserung war auch an Biomarkern abzulesen
Der Spiegel der Neurofilament-Leichtketten NFL im Serum waren mit Immunadsorption deutlich gesunken, nicht jedoch mit Methylprednisolon. Das Strukturprotein NFL bildet eine Hauptkomponente des Zytoskeletts von Neuronen. Da der Abbau der Myelinscheiden mit einer Degeneration des Axons einhergeht, steigt der Gehalt an NFL im Serum. Insofern eignet sich das Protein als Marker zur Kontrolle von Therapie, Verlauf und Rezidiven bei Multipler Sklerose.
Bei den sicherheitsrelevanten Ereignissen erwies sich die Immunadsorption ebenfalls als vorteilhafter. Bei „nur“ 14 der 16 Patienten trat mindestens ein unerwünschtes Ereignis auf, und zwar am häufigsten „nur“ Hypokalzämie und Hypotonie. Bei 2 Patienten allerdings kam es zu einer Dislokation des jugulären zentralen Venenkatheters, bei 2 weiteren war eine Verlegung von der Hals- zur Leistenvene unvermeidlich. In einem Fall kam es sogar zu einer Katheter-assoziierten Septikämie, die mit Vancomycin behandelt werden musste.
Teilweise gravierende Nebenwirkungen
Als kritischer erwies sich die Therapie mit Methylprednisolon. Damit kam es bei allen 26 Patienten zu unerwünschten Wirkungen, am häufigsten zu Hyperglykämie, Schlafstörungen, Tachykardie, Hypokaliämie und Bluthochdruck. 16 Patienten benötigten vorübergehend Insulin und eine Substitution von Kalium. Bei 4 Patienten traten klinisch bedeutsame Angstzustände und affektive Störungen auf.
Ein Teilnehmer erlitt eine Leberschädigung und ein ansonsten gesunder 26-Jähriger eine Osteomyelitis der linken Hüfte mit anschließender Septikämie, die eine Hüftprothese erforderlich machte.
3 Patienten entwickelten eine akute Psychose, die bei zweien innerhalb weniger Tage nach Absetzen des Steroids abklangen, einer dagegen musste in eine psychiatrische Klinik aufgenommen und langfristig mit Antipsychotika behandelt werden.
Mit Verweis auf diese Komplikationen resümieren die Autoren: „Mit Methylprednisolon ist die Sicherheit bedenklich, während bei der Immunadsorption die Anwendung des zentralen Venenkatheters die meiste Aufmerksamkeit erfordert.“
„Im Allgemeinen veränderten beide Behandlungen das Netzwerk der Zytokine sichtbar. Es ist unklar, ob sie durch die Modulation der Immunzellen beeinflusst werden. Bei der Immunadsorption könnten sie auch einfach durch unspezifische Bindung an die Tryptophan-Säulen aus dem Kreislauf entfernt werden“, schreiben die Wissenschaftler.
Gleich Immunadsorption statt zweimal Steroid?
Da bei 9 der 26 Patienten mit Methylprednisolon die Genesung trotz zweier Zyklen unvollständig geblieben war, erhielten sie anschließend noch eine Immunadsorption. Bemerkenswert ist, dass die beiden Methylprednisolon-Zyklen vor der Immunadsorption die klinische Erholung behinderten und auch die Absenkung der NFL-Werte geringer war.
Als Ursache für die beeinträchtigte Wirksamkeit der Immunadsorption vermuten Pfeuffer und seine Kollegen, dass hochdosiertes Methylprednisolon die Blut-Hirn-Schranke und die Proteinumverteilung im Blut moduliert. Da die Immunadsorption bei diesen Patienten auch vergleichsweise spät erfolgte, könnte das „Zeitfenster“, in dem eine Modulation des Immunsystems zu einer Linderung der neurologischen Defizite führt, schon geschlossen gewesen sein.
„Angesichts dieser Ergebnisse ist zu überlegen, ob bei steroidrefraktären MS-Schüben mit alltagsrelevantem Defizit statt der bisher propagierten erneuten Steroidtherapie nicht direkt eine Immunadsorption angeschlossen wird“, wird Prof. Dr. Ralf Gold, Direktor der Neurologischen Universitätsklinik Bochum, in einer Mitteilung zitiert. „Die Ergebnisse der Studie könnten somit Einfluss auf die Leitlinien zur Eskalationstherapie des akuten MS-Schubes haben.“
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Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Bessere Behandlung von MS-Schüben möglich? Ergebnisse mit Apherese-Verfahren könnten die Leitlinien verändern - Medscape - 31. Okt 2022.
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