Nicht nur in der Pflege: An der Akademisierung der Gesundheitsfachberufe führt kein Weg vorbei

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

26. Oktober 2022

Ob in der Pflege, der Ergo- und Physiotherapie, der Logopädie oder bei Hebammen und Entbindungspflegern: In der Ausbildung der Gesundheitsfachberufe geht alles in Richtung Akademisierung.

„Wir brauchen die Akademisierung, wenn wir eine stärker wissenschaftsbasierte Gesundheitsversorgung und damit mehr Qualität und Sicherheit der Patientinnen und Patienten wollen. Das gilt für die Pflege genauso wie für die Begleitung einer Geburt oder eine logopädische Behandlung“, betont Prof. Dr. Christoph Ostgathe, Studiendekan der Medizinischen Fakultät und Leiter der Palliativmedizin am Uni-Klinikum Erlangen, in einer Pressemitteilung der Friedrich-Alexander-Universität (FAU). Bei der Akademisierung der Gesundheitsfachberufe hinke Deutschland in Europa „anderen Ländern um Jahre hinterher“, so Ostgathe.

 
Wir brauchen die Akademisierung, wenn wir eine stärker wissenschaftsbasierte Gesundheitsversorgung und damit mehr Qualität und Sicherheit der Patientinnen und Patienten wollen. Prof. Dr. Christoph Ostgathe
 

An der Universität Erlangen (FAU) wurde zum Wintersemester 2021/22 der bayernweit erste universitäre Bachelorstudiengang Hebammenwissenschaft eingerichtet. „In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Anforderungen deutlich verändert. Deshalb ist ein weitgefächertes Wissen für Hebammen und Entbindungspfleger von enormer Bedeutung“, berichtet Prof. Dr. Matthias W. Beckmann, Direktor der Frauenklinik und Leiter des Studiengangs Hebammenwissenschaft.

 
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich Anforderungen deutlich verändert. Prof. Dr. Matthias W. Beckmann
 

Die Akademisierung der Hebammenausbildung wird das Fachgebiet strukturell verändern: Geburten werden in verschiedene Risikoklassen eingeteilt. Niedrige Risikoklassen sollen dann von Hebammen und höhere Risikoklassen von Ärzten und Hebammen gemeinsam begleitet werden. Und das in einer Wand-zu-Wand-Lösung, damit in jeder Risikoklasse die maximale Sicherheit geboten werden kann.

Bei der Akademisierungsquote ist noch Luft nach oben

Auch an der Akademisierung der Pflege führt nach Einschätzung von Sabine Brase, Pflegedirektorin am Klinikum Oldenburg, kein Weg vorbei. „Der Patient wird kränker, multimorbider. Auch die Behandlungsstrategien sind komplexer, denn Medizin und Pflege entwickeln sich aufgrund von Forschungsergebnissen stetig weiter. Und um darauf eine Antwort aus dem Beruf heraus zu finden, ist es wichtig, auf bestimmte Kompetenzen zurückgreifen zu können. Für die kränksten Patienten wird die am höchsten spezialisierte Pflegefachkraft gebraucht“, sagt Brase im Gespräch mit Medscape. Es gehe deshalb darum, die Prozesse so zu organisieren, dass das auch möglich sei.

 
Für die kränksten Patienten wird die am höchsten spezialisierte Pflegefachkraft gebraucht Sabine Brase
 

Die Realität sieht oft anders aus: „Häufig ist es so, dass Pflegefachpersonen dokumentieren, zur Visite oder in hochkarätigen Besprechungen gebunden sind und gar nicht am Patienten arbeiten. Mit dem Patienten beschäftigt sind dann Auszubildende oder eben nicht diejenigen, die dazu am besten qualifiziert wären. Das muss geändert werden: Die Fachkräfte mit der höchsten Kompetenz dafür müssen auch den schwierigsten Fall versorgen.“

Akademisierung helfe dabei, für bestimmte Patienten und ihre Pflegephänomene Lösungen zu finden, diese zu entwickeln oder auch selbst daran zu forschen. „Das trägt dazu bei, dass der Pflegeberuf attraktiver ist“, sagt Brase.

Ein Update zur HQGplus-Studie zu Hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitssystem zeigt allerdings, dass beim Grad der Akademisierung noch Nachholbedarf herrscht.

  • Für die Pflegewissenschaft erreicht die Akademisierungsquote bezogen auf alle Studienformate 3,2% in 2019, bezogen auf die primärqualifizierenden Studiengänge 0,4%.

  • In der Hebammenwissenschaft liegt die Akademisierungsquote im Jahr 2019 bei 53,2% bzw. 15,7% (primärqualifizierende Studiengänge);

  • in der Logopädie liegt die Akademisierungsquote im Jahr 2019 bei 34,6% bzw. 3,1%.

  • In der Physiotherapie bei 15,9% bzw. 6,1% und

  • in der Ergotherapie bei 3% bzw. 1,6%.

Insofern ist die Akademisierungsquote von 10 bis 20% in primärqualifizierenden Studiengängen, die der Wissenschaftsrat im Jahr 2012 empfohlen hat, nur in wenigen Fachgebieten erreicht.

Und auch die Ergebnisse der Sondererhebung des BIBB-Pflegepanels vom Juni 2022 zeigen (BIBB: Bundesinstitut für Berufsbildung):

  • Ende des Jahres 2020 waren 53.610 Personen in Deutschland in der Ausbildung zur Pflegefachkraft. Demgegenüber gab es 927 Studierende, davon 424 in primärqualifizierenden Studiengängen.

  • Im Jahr 2021 haben 61.458 Auszubildende in Deutschland ihre berufliche Ausbildung zur Pflegefachkraft begonnen, dem stehen 1.091 Studierende gegenüber.

Bei der Bezahlung muss nachgebessert werden

Dass die Akademisierungsquote in der Pflege noch zu wünschen übriglässt, dürfte auch mit der Bezahlung zu tun haben. „Die Kosten in der akademisierten Pflege bleiben bei den Studierenden hängen, daher haben wir eine viel zu geringe Anzahl von Absolventen“, so Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach bei der Befragung der Bundesregierung im Bundestag Mitte Oktober.

 
Die Kosten in der akademisierten Pflege bleiben bei den Studierenden hängen, daher haben wir eine viel zu geringe Anzahl von Absolventen. Prof. Dr. Karl Lauterbach
 

Tatsächlich hängt es von den Ausbildungsbetrieben ab, ob Praxisstunden im Rahmen des Studiums bezahlt werden. Einzelne Bundesländer, wie beispielsweise Bayern, schreiben Stipendien aus. „Es kann ja nicht sein, dass die Pflegenden selbst noch in den Semesterferien arbeiten, um ihr Studium zu finanzieren“, sagt Brase.

In den Praxisstunden ist kein Nebenjob möglich. Allein auf Goodwill zu setzen, sei keine Lösung: „Selbst wenn eine Pflegedirektion sagen würde, wir bezahlen diese Stunden, dann sieht das der Träger der Einrichtung womöglich anders.“

Dass diese Praxisstunden generell bezahlt werden müssen, sollte politisch festlegt werden: „Es ist auch eine pflegepolitische Forderung von uns, dass hier nachgebessert wird.“ Der Bundesgesundheitsminister hat im Bundestag angekündigt, dass nach einer Lösung gesucht werde, „so dass die Studierenden nicht schlechter gestellt sind als diejenigen, die eine Pflegeausbildung begonnen haben.“

Der Tarifvertrag sieht Möglichkeiten vor, auch akademisch qualifizierte Pflegende zu bezahlen. Bislang allerdings orientiert sich der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) am Handlungsfeld: „Sie können hochkarätig qualifiziert sein, beispielsweise über einen Master verfügen, wenn Sie aber am Empfang eingesetzt werden, dann werden Sie nach Empfang bezahlt“, erklärt Brase.

„Das heißt: Die Praxis ist aufgefordert, Arbeitsfelder für die akademisch Qualifizierten mit entsprechender Bezahlung zu schaffen“, sagt Brase. „Wir machen das bei uns so, dass Pflegeexperten auf Bachelor-Niveau oder die Advanced Practice Nurse (APN) auf Masterniveau auch wissenschaftliche Forschungsprojekte durchführen, um ihre wissenschaftliche Komponente nachzuweisen. Damit sind sie im TVÖD dann auch abzubilden“, fügt sie hinzu.

 
Die Praxis ist aufgefordert, Arbeitsfelder für die akademisch Qualifizierten mit entsprechender Bezahlung zu schaffen. Sabine Brase
 

Die meisten Absolventen wollen am Patienten bleiben

Ärztinnen und Ärzte reagieren auf die Akademisierung der Pflege sehr unterschiedlich. „Es gibt diejenigen, die sehr offen sind und in der gemeinsamen Patientenversorgung eine Chance sehen. Und begrüßen, dass der Patient darüber in den Vordergrund gerückt wird. Zumal die Vielfalt an Perspektiven dabei hilft, für den Patienten das Richtige herauszusuchen“, berichtet Brase. „Und es gibt Ärzte, die Vorbehalte äußern und sagen: ‚Will die Pflege sich jetzt in die Therapie einmischen?‘“

In der gesamten Gruppe der Gesundheitsfachberufe bewege sich sehr viel und das schaffe natürlich Unsicherheiten, sagt Brase: „Wer übernimmt welche Verantwortung? Die Rollen werden ganz neu definiert.“ Der Fachkräftemangel im Gesundheitswesen werde dazu führen, dass man neue Lösungen finden müsse.

Einer der Vorbehalte lautet, die Studierenden würden dann später am Bett fehlen. Brase verweist auf die Verbleibstudie von Absolventen der Modellstudiengänge in Nordrhein-Westfalen (VAMOS). Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten Absolventen am Patienten bleiben wollen. „Die wollen in der Regel nicht weg. Es gibt es auch mal welche, die sagen: ‚Ich möchte ins Qualitätsmanagement (QM) oder in die Interdisziplinäre Gesundheitsversorgung und Management (IGM)‘ – doch das ist nicht die Hauptgruppe“, berichtet Brase. Diese Erfahrungen macht sie auch mit ihren Studierenden vor Ort: „Die wollen am Patienten eingesetzt werden und dort ihre erworbene Kompetenz einbringen.“

 
Die wollen am Patienten eingesetzt werden und dort ihre erworbene Kompetenz einbringen. Sabine Brase
 

An der FAU wird die Akademisierung weitergehen: Wie Ostgathe berichtet, ist die Logopädie vor mehr als 10 Jahren über eine Modellklausel in die Akademisierung gestartet. Ergo- und Physiotherapie stünden quasi bereits in den Startlöchern. Angelehnt an die Facharztausbildung konzipiere man einen berufsbegleitenden, interdisziplinären Masterstudiengang, angelehnt an die Facharztausbildung.

Brase wirbt dafür, die Praxis darauf vorzubereiten, Arbeitsfelder für studierte Pflegende zu identifizieren und sie dort arbeiten lassen. „Es gibt viele internationale Studien, die uns zeigen, dass akademisch qualifizierte Pflegende immer zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität beitragen. Weshalb sollte das in Deutschland nicht auch funktionieren?“

 
Es gibt viele internationale Studien, die uns zeigen, dass akademisch qualifizierte Pflegende immer zu einer Verbesserung der Versorgungsqualität beitragen. Sabine Brase
 

Und Ostgathe sagt: „Ich bin überzeugt, dass es ein echtes Plus für Qualität in der medizinischen Versorgung ist, wenn angehende Ärztinnen und Ärzte, Hebammen und Entbindungspfleger, Physiotherapeutinnen und Physiotherapeuten etc. bereits in der Ausbildung lernen, vernetzt zu arbeiten.“

 

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Kommentar

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