Schmerzkongress: Cannabis vorrangig bei chronischen Schmerzen am Rücken, Kopf und Co im Einsatz – erste Daten aus Begleiterhebung

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

24. Oktober 2022

„Die Behandlung mit medizinischem Cannabis bleibt ein großes Spannungsfeld – da gibt es kein einfaches Ja oder Nein.“ Dieses Fazit zog Prof. Dr. Frank Petzke, Leiter der Schmerzmedizin an der Klinik für Anästhesiologie am Universitätsklinikum Göttingen, der auf der Pressekonferenz[1] der Deutschen Schmerzgesellschaft e.V. und der Deutschen Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft e.V. zum Schmerzkongress 2022 erste Daten aus der sogenannten Begleiterhebung über die Cannabis-Therapie vorstellte.

Seit 5 Jahren darf Cannabis in Deutschland in begründeten Einzelfällen (schwerwiegende Erkrankung, es steht keine andere Therapie zur Verfügung) als medizinischer Wirkstoff eingesetzt werden. Noch fehlen Wirksamkeitsnachweise aus placebo-kontrollierten Studien. Die Ergebnisse der Begleiterhebung zeigen aber, dass es Anwendungsbereiche gibt, in denen eine Cannabis-Therapie durchaus hilfreich sein kann, so Petzke, Sprecher der Ad-hoc-Kommission „Cannabis in der Medizin“ der Deutschen Schmerzgesellschaft.

Die Verschreibung von medizinischem Cannabis ist an ein begleitendes Monitoring (Begleiterhebung) gekoppelt, an das die behandelnden Ärzte ihre Erfahrungen melden. Bis zum Abschluss der Erhebung gingen Informationen zu rund 21.000 Behandlungen ein, 16.800 dieser Datensätze waren vollständig und konnten in die Auswertung einbezogen werden. Veröffentlicht wurden die Daten vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM).

 
Die mit Abstand häufigste Indikation ist der chronische Schmerz. Prof. Dr. Frank Petzke
 

„Die mit Abstand häufigste Indikation ist der chronische Schmerz“, berichtete Petzke. Darunter fallen chronischer Rückenschmerz, Fibromyalgie, chronische Kopfschmerzen, chronische muskulo-skelettale Erkrankungen und neuropathische Schmerzsyndrome. Chronischer Schmerz macht 75% der Behandlungen aus, gefolgt von Spastik (9,6%) und Anorexie oder Wasting mit 5,1%. Die zugrundeliegende Erkrankung war in 14,5% der Fälle eine Tumorerkrankung, in knapp 6% eine Multiple Sklerose.

Begleiterhebung bildet aber nur einen Teil der Behandlungen ab

Am häufigsten wurde das Cannabis-Arzneimittel Dronabinol verschrieben, ein reines THC-Präparat – es stellte mit 62,2% fast 2 Drittel der Verordnungen. „Insgesamt scheint eine orale Therapie mit relativ niedrigen Dosierungen hier erfolgreich gewesen zu sein“, berichtete Petzke. Cannabis-Blüten dagegen wurden zwar deutlich seltener, besonders aber an jüngere, männliche Patienten abgegeben; auch wiesen sie eine höhere THC-Dosis auf.

Wie Petzke berichtete, sahen die behandelnden Ärzte vor allem bei schwerwiegenden Erkrankungen und bei starken Schmerzen einen positiven Effekt: „Für die Hälfte bis etwa 2 Drittel der Patienten schätzten die behandelnden Ärzte die Therapie als positiv ein. Wir sehen also einen Effekt und auch die Patienten selbst berichten von positiven Auswirkungen im Alltag“, sagte Petzke. „Bei chronischen Schmerzen sowie in der Palliativmedizin sollte es daher weiterhin möglich sein, medizinisches Cannabis ohne großen bürokratischen Aufwand zu verschreiben.“

 
Für die Hälfte bis etwa 2 Drittel der Patienten schätzten die behandelnden Ärzte die Therapie als positiv ein Prof. Dr. Frank Petzke
 

Allerdings bildet die Begleiterhebung nur einen Teil der tatsächlichen Behandlungen ab. Denn nur die Daten von gesetzlich Versicherten, deren Behandlungskosten von der Kasse tatsächlich auch übernommen wurden, flossen in die Erhebung ein; Privatversicherte und Selbstzahler wurden nicht berücksichtigt. Die Daten aus der Erhebung sind auch aus einem anderen Grund nicht repräsentativ. „Die Teilnahme war zwar für alle verschreibenden Ärzte verpflichtend – wer sich daran hielt und wer nicht, wurde jedoch nicht überprüft“, berichtete Petzke.

Die Bereitschaft zur Meldung war offenbar sehr unterschiedlich: Obwohl bekannt ist, dass die Mittel vor allem über die hausärztlichen Praxen abgegeben wurden, stammten mehr als die Hälfte der in die Begleiterhebung eingespeisten Daten von Anästhesisten und Neurologen.

Genehmigungen für Cannabis werden sehr unterschiedlich gehandhabt

Ein Problem für die klinische Anwendung sieht Petzke in der sehr unterschiedlichen Handhabung der Genehmigungen. „Es ist durchaus heterogen, ob ein Patient in Deutschland eine Genehmigung erhält oder nicht. Die Gründe dafür sind nicht immer transparent, das kann in verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich sein, manche Indikationen werden besser oder schlechter bewertet.“

Petzke bezeichnete es als sinnvoll für die Indikation Schmerzen an einem transparenteren und bürokratieloseren Prozess zu arbeiten. Auch um eine Therapie – sollte sie nicht anschlagen – schnell wieder zu beenden. „Man muss diese Patienten engmaschig überwachen und prüfen, wie es mit der langfristigen Wirksamkeit tatsächlich aussieht.“

 
Man muss diese Patienten engmaschig überwachen und prüfen, wie es mit der langfristigen Wirksamkeit tatsächlich aussieht. Prof. Dr. Frank Petzke
 

Petzke plädiert dafür, die Kriterien für eine Verschreibung von Cannabis in Studien weiter zu charakterisieren. Einer unkritischen Ausweitung der Indikationen stehe die Schmerzgesellschaft sehr skeptisch gegenüber, betonte er. Bevor die Kassen die Cannabis-Therapie für weitere Indikationen öffneten, sollte deshalb wie bei allen anderen Medikamenten ein evidenzbasiertes Zulassungsverfahren durchlaufen werden – mit doppelblinden, placebokontrollierten Studien, auf die bislang verzichtet wurde.

Petzke gab zu bedenken, dass die Kosten für die Behandlung mit medizinischem Cannabis für das Jahr 2021 185 Millionen Euro betrugen, „das ist gesundheitsökonomisch durchaus relevant. Es ist der Auftrag des GBA zu einer Bewertung zu gelangen wie man mit diesen Cannabis-Produkten weiter verfährt.“

Petzke begrüßte, dass nun viele Studien anlaufen, in denen gezielt Indikationen mit Cannabinoiden untersucht würden. „Wir hoffen, dass in den nächsten Jahren weitere Daten kommen um die Indikationen zu klären. Die Indikation sollte auf eine eng umschriebene Zielgruppe begrenzt werden. Das Hauptkriterium ist das Vorliegen einer schwerwiegenden Erkrankung.“

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