Jede 2. Verordnung ein Fehlgriff: Antibabypillen mit sehr niedrigem Thromboserisiko werden viel zu selten verschrieben

Dr. Nicola Siegmund-Schultze

Interessenkonflikte

24. Oktober 2022

Nur die Hälfte der Patientinnen, die auf orale Kontrazeptiva neu eingestellt werden, erhalten Antibabypillen mit niedrigem Thromboserisiko. Zu einem Drittel werden bei Neueinstellungen in Deutschland sogar Präparate mit dem höchsten Thromboserisiko verordnet. Das geht aus einer Studie hervor, die im International Journal of Obstetrics and Gynaekology erschienen ist [1].

Gestagenkomponente entscheidend

Das Risiko für thromboembolische Ereignisse ist bei kombinierten Kontrazeptiva von der Gestagenkomponente abhängig. Ältere orale Kontrazeptiva mit Levonorgestrel als Gestagenkomponente und niedrig dosiertem Östrogen haben ein geringes Thromboserisiko für junge Anwenderinnen. Das belegen auch Krankenkassendaten aus Deutschland.

Das Risiko ist bei Gestagenkomponenten wie Dienogest, Cyproteron, Chlormadinon, Desogestrel und Drospirenon zirka doppelt so hoch wie bei Levonorgestrel und bei Gestoden 5 Mal so hoch.

Bereits 2014 hatte die Europäische Arzneimittelagentur EMA nach Evaluation von großen Studien und Pharmakovigilanzdaten darauf hingewiesen, dass das Risiko tiefer Venenthrombosen (VTE) bei Levonorgestrel, Norethisteron und Norgestimat am geringsten sei. Es liegt bei 5-7 Ereignissen innerhalb eines Jahres bei 10.000 Frauen. Ohne orale Verhütung sind es circa 2 Ereignisse unter 10.000 jungen Frauen pro Jahr. 

9 Kombinationspräparate im Vergleich

Das Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie (BIPS) in Leipzig hat nun das Risiko für venöse Thromboembolien von 9 Kombinationspräparaten bei deutschen Anwenderinnen miteinander verglichen.

Da orale Kontrazeptiva in Deutschland bei Mädchen und jungen Frauen erstattungsfähig sind – vor 2019 bis zum 19. Lebensjahr und seither auch bis zum 22. Geburtstag - konnten Krankenkassendaten verwendet werden.

Die Fallkontrollstudie basiert auf Krankenkassendaten, die zwischen dem 1. Januar 2005 und dem 31. Dezember 2017 erhobn wurden. 1.166 Fälle tiefer Venenthrombosen unter oraler Kontrazeption wurden gematcht mit 11.660 Kontrollpersonen aus einer Kohorte von 677.331 krankenkassenversicherten Mädchen und jungen Frauen (10-19 Jahre; Durchschnittsalter: 16 Jahre).

höchste Risiko für VTE hatte Gestoden

Bei Einnahme von Norelgestromin- und Norethisteronkombinationen wurden keine VTE-Fälle verzeichnet. Für Präparate mit VTE-Fällen war Levonorgestrel kombiniert mit niedrig dosiertem Ethinylestradiol (< 50 μg) die Referenz.

Das höchste Risiko für VTE hatte Gestoden (adjustierte Odds Ratio [aOR]: 5,05). Kombinationspräparate mit Chlormadinon waren mit einem doppelt so hohen VTE-Risiko assoziiert wie die Referenz (aHR: 2,06).

Bei Dienogest und Cyproteron war die Risikoerhöhung ähnlich (aOR: 2,23 und 2,15). Für Norgestimat lag die aOR bei 1,90, also ebenfalls ein fast doppelt so hohes Risiko wie bei der Einnahme von Levonorgestrel/Ethinylestradiol < 50 μg. Für Nomegestrol wurde ein um 40% erhöhtes VTE-Risiko festgestellt (aOR: 1,41).

„Thrombosen sind vor allem bei jungen Frauen sehr seltene Ereignisse“, erläuert Prof. Dr. Ulrike Haug, Letztautorin der Studie und Leiterin der Abteilung Klinische Epidemiologie am BIPS.

„Dennoch ist – basierend auf Schätzungen der europäischen Arzneimittelbehörde – davon auszugehen, dass es durch die Verschreibung von Antibabypillen mit hohem Thromboserisiko statt jenem mit geringem Risiko jährlich zu 2 bis 7 zusätzlichen Thrombosen pro 10.000 Nutzerinnen kommt. Das sind Krankheitsfälle mit zum Teil sehr schwerem Verlauf, die sich durch ein anderes Verschreibungsverhalten verhindern ließen.“

Auch Kombinationspäparate mit den Gestagenkomponenten Dienogest und Chlormadinon, zu denen es bislang wenig Daten gab, sind mit einem erhöhten Thromboserisiko assoziiert.

In Deutschland ist zwischen 2015 und 2017 noch bei 33% der Neuverordnungen ein Präparat mit dem höchsten Thromboserisiko verordnet worden und nur bei 54% ein Präparat aus der Kategorie mit dem niedrigsten Risiko.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Coliquio.de.

 

Kommentar

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