Pandemie-Rückstau aufarbeiten: Ein Chirurg für 2 Operationen parallel – Versuch zeigt, was überlappende Chirurgie leisten kann

Ute Eppinger

Interessenkonflikte

26. Oktober 2022

Chirurgie auf der Überholspur: Operieren nach sogenannten HIT-Listen (High-intensity theatre) ermöglicht es 2 gleichzeitig arbeitenden chirurgischen Teams, die Eingriffe eines Monats an einem Tag durchzuführen. Das geht aus einem Versuch in einem Londoner Lehrkrankenhaus hervor, das nach Möglichkeiten sucht, den Rückstau von 6,6 Millionen Patienten im NHS zu bekämpfen.

Entwickelt hat die HIT-Listen Dr. Imran Ahmad, Facharzt für Anästhesie am Guy's and St. Thomas' Trust in London. Ziel ist, ein Maximum an Effizienz und Sicherheit zu erreichen, indem die Operationszeit des Chirurgen (die teuerste und knappste Ressource) von 40% pro Sitzung (nach herkömmlichem Vorgehen) auf 90% erhöht wird. „Uns motiviert der Versuch, den Rückstau an Patienten zu bewältigen und so mehr Patienten behandeln zu können. Die HIT-Listen nehmen den Druck vom gesamten System", erklärt Ahmad gegenüber Medscape UK.

 
Uns motiviert der Versuch, den Rückstau an Patienten zu bewältigen und so mehr Patienten behandeln zu können. Dr. Imran Ahmad
 

Nach Listen operiert wird an speziellen Samstagen an 3 Standorten des Guy´s and St. Thomas´Trust. Ahmad sagt, der Erfolg habe seine Erwartungen übertroffen. Bei den OP-Samstagen sei durchweg das Vierfache der Zahl an Eingriffen durchgeführt und keine kurz- oder langfristigen Komplikationen beobachtet worden. Beim ersten Versuchstag im Februar 2021 wurden laut Ahmad 20 Hüftoperationen (statt 5) durchgeführt, und 17 Patienten wegen Leistenbrüchen behandelt (statt 5).

Ahmads Listen basieren auf dem Konzept der überlappenden Chirurgie: Zu den Voraussetzungen für die HIT-Listen gehören u.a. 2 Operationssäle mit 1 Chirurgen und 3 Operationsteams, 50% mehr OP-Personal als bei 2 herkömmlichen OP-Listen und speziell ausgewählte Patienten mit geringem Risiko.

Kritischer Blick auf den Nutzen der überlappenden Operationen

Mit den katastrophalen Erfahrungen mit überlappenden Operationen in Krankenhäusern in Kanada und den USA befasst sich ein unlängst in Anaesthesia erschienenes Paper von Prof. Dr. Jaideep Pandit, Anästhesist am Oxford University Hospitals NHS Foundation Trust. In Kanada verdoppelte sich infolge überlappender Operationen die Zahl der Komplikationen bei Hüftfrakturen und Hüftarthroplastiken. In den USA musste das Massachusetts General Hospital wegen fehlender Einwilligung und Problemen mit den Versicherern Zahlungen in Höhe von über 26 Mio. £ leisten.

Pandit und Kollegen wurden zu ihrer Untersuchung motiviert, weil die Wartelisten für chirurgische Eingriffe in Großbritannien immer länger werden und weil die Initiative „Getting It Right First Time" (GIRFT) explizite Zielvorgaben für bestimmte Fachrichtungen festlegt, um eine bestimmte Anzahl von Eingriffen zu erreichen. „Der NHS neigt dazu, nach Strohhalmen zu greifen, deren Wirksamkeit nicht erwiesen ist", sagt Pandit gegenüber Medscape UK. „Unser Ziel ist es, diesbezüglich zur Vorsicht zu mahnen".

Überlappend wird auch in deutschen Kliniken operiert, doch überlappende Chirurgie ist nicht gleich überlappende Chirurgie, stellt Prof. Dr. Thomas Schmitz-Rixen, Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie (DGCH) und ehemaliger Direktor der Klinik für Gefäß- und Endovascularchirurgie und des universitären Wundzentrums des Universitätsklinikums Frankfurt, im Gespräch mit Medscape klar.

Er verweist auf den berühmten Chirurgen Dr. DeBakey, der im Texas Heart Institute von OP-Saal zu OP-Saal gelaufen ist, sich „eingewaschen“ hat und dann pro Patient 10 bis 15 Minuten operiert hatte. „Nachher konnte dann gesagt werden: Der berühmte Dr. DeBakey hat Sie operiert. Das ist schon ziemlich aus der Zeit gefallen“, sagt Schmitz-Rixen.

Wann soll der Senior Chirurg seine anderen Aufgaben erfüllen?

Auch Schmitz-Rixen selbst hat überlappend operiert, mit dem DeBakey´schen Vorgehen hatte das allerdings nichts tun: Sein Team habe beim Patienten den Zugang zum eigentlichen Operationssitus geschaffen, den tatsächlichen Eingriff habe er vorgenommen, das Team habe dann nach Beendigung des Eingriffs die Wunden verschlossen. „Das hat mir eine gewisse Freiheit ermöglicht, auch meine anderen Aufgaben wahrzunehmen, ein Senior-Chirurg operiert ja nicht nur. Aufklärungsgespräche mit den Patienten, Visiten, Indikationen stellen und hinzu kommen die administrativen Aufgaben“, berichtet Schmitz-Rixen.

Im Review von Pandit und Kollegen hingegen wird ein Wechselmodell von OP zu OP untersucht. In diesem Modell wäre der Senior-Chirurg den ganzen Tag über ausschließlich mit Operieren beschäftigt. „Da frage ich mich: Wann und wie soll der Senior-Chirurg denn seine anderen Aufgaben erfüllen?“

 
Wann und wie soll der Senior-Chirurg denn seine anderen Aufgaben erfüllen? Prof. Dr. Thomas Schmitz-Rixen
 

Dass Notfälle in anderen Operationssälen aufträten, wenn man selbst operiere passiere immer mal: „Wenn ich weiß das ist kritisch, dann mache ich das selbst. Das ist immer irgendwie möglich.“  Aber um systematisch überlappend zu operieren – wie im Londoner Modell – sind entsprechend hohe Voraussetzungen nötig. Eine der Voraussetzungen ist, dass alle diese Fälle nicht kritisch sind. „Kritischer Fall bedeutet: mindestens eine Stunde im OP zusätzlich, wenn Unvorhergesehenes auftreten kann.“ Dass ein Fall kritisch wird, passiert aber immer mal und erfordert den Einsatz eines Senior-Chirurgen.

„Wenn das im Rahmen eines solchen Modells geschieht, wird das System ad absurdum geführt, denn im anderen Operationssaal, in dem zu dieser Zeit ja operiert werden sollte, steht alles still“, erklärt Schmitz-Rixen. „Das ist ethisch nicht vertretbar - weshalb sollte der Patient in Narkose warten müssen?

 
Der zweite Saal steht also (...) leer. Das ist kein Produktivitätsvorteil. Prof. Dr. Thomas Schmitz-Rixen
 

Und es bringt auch ökonomisch keine Vorteile. Im Paper von Pandit und Kollegen ist Saal 1 ab 9 Uhr belegt, Saal 2 ab 11:30 Uhr, der zweite Saal steht also von 9 bis 11:30 Uhr leer. Das ist kein Produktivitätsvorteil. Es können auch gar nicht mehr Eingriffe gemacht werden, sondern maximal die gleiche Anzahl von Eingriffen“. Damit erreiche man nur eines: „Den Chirurgen unter Stress setzen, der dann 9 Stunden am Tag operieren soll“, sagt Schmitz-Rixen.

Höhere Komplikationsraten und Probleme für die Weiterbildung

Pandit und Kollegen weisen auch darauf hin, dass höhere Komplikationsraten zu erwarten sind. Das überrascht nicht wirklich: „Vielleicht ist man unter dem Zeitdruck nicht ganz so gründlich, vielleicht ist die Blutstillung nicht ausreichend erfolgt. Dann steigt die Gefahr für Nachblutungen“, sagt Schmitz-Rixen. Er sieht auch für die Qualität der Weiterbildung Probleme, denn Ärzte in Weiterbildung wären im Operationssaal dann ohne Supervision.

„Folgende Situation: Das Abdomen muss eröffnet werden, der Senior Chirurg operiert im anderen Saal. Der Patient ist aber voroperiert. Das kann schwierig werden, weil das Operationsgebiet verwachsen ist. Nun könnte sich der Arzt in Weiterbildung ohne fachärztliche Supervision durchwursteln. Das wäre ganz schlecht und erhöht wieder die Komplikationsrate. Oder aber der OP-Saal steht still, weil der Arzt sagt, er kommt alleine nicht weiter.“

Pandits Überprüfung hat ergeben, dass es keine Beweise für eine höhere Produktivität im Vergleich zu 2 parallel arbeitenden Chirurgen gibt. Die Überlappung von Operationen könne sich in Situationen, in denen die Wechselzeiten zwischen den Fällen lang und die Operationen kurz sind (< 2 Stunden) und die „kritischen Teile" der Operation etwa die Hälfte der gesamten Operationszeit ausmachen, durchaus positiv auswirken. Allerdings müssten die möglichen Vorteile gegen Sicherheits-, Ethik- und Ausbildungsaspekte abgewogen werden.

Das Problem in deutschen Krankenhäusern: Personalmangel

„Dieser im Modell errechnete Produktivitätsvorteil ist eine Berechnung am grünen Tisch. Ich persönlich lehne eine solche Produktivitätserhöhung ab. Das hat auch nichts mit Ökonomisierung zu tun, das ist Kommerzialisierung des Operierens – und zwar ohne, dass das einen eindeutigen Produktivitätsvorteil bringt“, sagt Schmitz-Rixen.

Das Problem an deutschen Krankenhäusern sei ein ganz anderes: Personalmangel in allen Ebenen. Sinnvoll wäre vielmehr „überlappende Anästhesie“. Aufgrund des Personalmangels sei es immer noch so, dass erst der eine Eingriff zu Ende geht, dann folgt – mit dem gleichen Personal – die nächste Narkoseeinleitung. „Wäre genügend Personal vorhanden und man könnte bereits in der Ausleitungsphase des ersten Patienten die Narkose des zweiten Patienten einleiten, wäre schon viel gewonnen“, sagt Schmitz-Rixen.

 
Das ist Kommerzialisierung des Operierens. Prof. Dr. Thomas Schmitz-Rixen
 

„Erst wenn das erreicht ist, kann man darüber nachdenken, ob ein Wechselmodell bei Operationen mit hoher Routine – etwa bei orthopädischen Eingriffen – infrage kommt. Bei solchen Eingriffen ist die Wahrscheinlichkeit, dass irgendetwas dazwischen kommt, minimal. Wenn man solche Voraussetzungen hat und tatsächlich nur einen Chirurgen, der operiert, kann man darüber nachdenken, mit einem zweiten Operationssaal überlappend zu arbeiten.“

Fanden Sie unsere Informationen interessant? Dann melden Sie sich doch für einen Newsletter aus unserer Redaktion Medscape Deutschland an, damit Sie keine Nachrichten, Meinungen und andere spannende Wissensformate aus der Medizin verpassen. Hier ist der  Link  zu unseren kostenlosen Angeboten.
 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....