Exzentrisch weil krank? War Autismus möglicherweise ein Wegbereiter zur Kunst von Béla Bartók und Andy Warhol?

Dr. Angela Speth

Interessenkonflikte

20. Oktober 2022

Paradiesvogel, komischer Kauz, Sonderling – mit solchen Etiketten versehen Zeitgenossen und Biographen nicht selten Künstler, die durch ihre Exzentrik auffallen, wenn nicht gar anecken. Dabei werden ihnen die Eigenheiten meist durchaus zugebilligt, im Wissen, dass Kreativität ein Abweichen von Normen voraussetzt. Psychologen wiederum deuten Ticks und Spleens als Zeichen einer Persönlichkeitsstörung, vor allem Autismus.

Ein britischer Mathematiker hat diese Aspekte an 2 Persönlichkeiten illustriert, wie sie ansonsten unterschiedlicher kaum sein könnten: dem ungarischen Musiker Béla Bartók und dem amerikanischen Pop-Art-Künstler Andy Warhol  [1]. Der Zusammenhang zwischen affektiven Störungen und künstlerischer wie auch wissenschaftlicher, besonders mathematischer Imagination sei recht eindeutig belegt, erläutert Prof. Dr. Ioan James vom Mathematischen Institut der Universität Oxford.

Als Kronzeugen zitiert er den Psychiater Prof. Dr. Michael Fitzgerald vom Trinity College Dublin, der in seiner Schrift „Autism and Creativity“ die These erörtert, dass Nonkonformismus oft auf dem Boden eines Asperger-Syndroms gedeiht [2]. Da es für Schöpferkraft und Originalität unabdingbar sei, die Pfade des eingeschliffenen Denkens zu verlassen, befänden sich Künstler in natürlicher Nähe zu befremdlichen bis skurrilen Gewohnheiten. Wenn umgekehrt bei hochbegabten Menschen ein Autismus bekannt werde, dichte man ihren Werken „die schöne Andersartigkeit des autistischen Geistes“ an.

Béla Bartók – ein Kind am Klavier

Als einen Künstler, der Experten zufolge an leichtem Autismus litt, stellt James einen der bedeutendsten Vertreter der Moderne vor, den 1881 geborenen Béla Bartók. Sein Vater, ein Schuldirektor, stirbt, als der Junge 7 Jahre alt ist. Bald beginnt seine Mutter, eine Lehrerin, ihm Klavierunterricht zu erteilen. Dem Studium von Klavier und Komposition in Budapest folgt eine Professur an der dortigen Franz-Liszt-Musikakademie.

1909 geht Bartók eine erste Ehe ein, ihr entstammt Sohn Béla. Nach der Scheidung 1923 heiratet er erneut, Sohn Péter wird geboren. Aus Angst vor dem Faschismus emigriert die Familie 1940 in die USA, wo Bartók weitgehend unbekannt ist und sich oft vergeblich um Aufträge bemüht. 1945 stirbt er an Leukämie, doch erst 1988 wird sein Leichnam von New York nach Budapest überführt und in einem Staatsbegräbnis beigesetzt.

Schroffe Rhythmik, zarte Gestalt

Was für ein Mensch war Bartók? Ein Besucher schildert ihn so: „Körperlich wie auch geistig vereint er in sich bemerkenswerte Gegensätze. Sein Haar ist weiß, während sein gebräuntes Gesicht jung wirkt. Seine schroff rhythmische Musik lässt eine kräftige Statur vermuten, tatsächlich ist er schlank, mit Händen und Füßen fast so zart wie die einer Frau.“

Ein Kollege berichtet: „Er hat das Erscheinungsbild eines feinnervigen Gelehrten, dabei ist er von fanatischem Willen und erbarmungsloser Strenge besessen.“ Diese Härte bekommen auch die Klavierschüler zu spüren, die sein kompromissloses Beharren auf genau der richtigen Wendung manchmal zur Verzweiflung bringt.

Mit seiner Unnachgiebigkeit ist auch das immense Lebenswerk zu erklären. Über seine kompositorische Leistung hinaus gilt er als Pionier der Ethno-Musik: Auf Reisen durch den Balkan und den Vorderen Orient sammelt er, der mehrere Fremdsprachen beherrscht, über 10.000 Volkslieder. Bis zuletzt tritt er auf internationalen Bühnen als Konzertpianist auf – und all das zusätzlich zu seiner täglichen Arbeit als Klavierlehrer.

Nur die Musik lockt ihn aus der Reserve

An den Meister des Pianos erinnert sich ein Zeitgenosse so: „Im Alltag ist er die Sanftheit selbst, am Klavier aber wie ein Panther in seinen Bewegungen, Dehnungen und plötzlichem Auffahren. Während Bartók spielte, war es, als ob alle Musik in ihm lebte, sobald er aber aufhörte, schien er in die Tiefen einer Höhle zu verschwinden, aus der er nur mit Gewalt herausgezogen werden konnte.“

Im gesellschaftlichen Umgang ist Bartók verschlossen, unbeholfen und selten gesprächsbereit, am wenigsten zu Höflichkeitsfloskeln und Smalltalk. „Fast schmerzlich schüchtern“, „unheilbar nervös“ lauten Charakterisierungen. Seine Sprechweise sei „äußerst grau und eintönig“, das heißt, seine Sätze fließen völlig gleichmäßig aus ihm heraus.

Viele finden es schwierig, mit ihm zurechtzukommen, nur wenige fühlen sich in seiner Gegenwart wirklich wohl. Seine Sprödigkeit habe wie eine Maske funktioniert, die sein hochsensibles Inneres vor dem Trubel der Welt abzuschirmen versuchte, schreiben Biographen.

Selbstdarstellung war seine Sache nicht

Obwohl der Musiker bescheiden auftritt, ist er von seiner künstlerischen Mission überzeugt. Allerdings versteht er es nicht, seine Leistungen ins rechte Licht zu rücken, und leidet unter mangelnder Anerkennung. Ein Problem sieht James darin, dass er sich von Menschen isoliert, die ihm helfen können, und sich stattdessen verärgert ins innere Exil zurückzieht.

„Ich kann mir vorstellen, dass seine Zurückhaltung seine Angehörigen oft geschmerzt hat“, sagt sein Hausarzt. Zwar liebt Bartók seine Familie, bringt es aber nicht über sich, in der Kunst zurückzustecken. Zerrissen zwischen dem Pflichtbewusstsein Frau und Kindern gegenüber und ihrer Vernachlässigung fühlt er sich oft angespannt und unzufrieden.

James kommt zum Fazit: Bartók ging völlig in seiner Arbeit auf, eine begonnene Aufgabe musste er fast zwanghaft zu Ende führen. Diese Konzentration habe wohl seine Kreativität beflügelt, doch standen seine sozialen Schwierigkeiten dem beruflichen Fortkommen im Weg.

Andy Warhol: Abkehr von elitärer Kunst

Dem Profil Bartóks stellt der Autor das exzentrische Verhalten Andy Warhols gegenüber, bei dem sich trotz aller Unterschiede gewisse Parallelen herauskristallisieren: die Unnahbarkeit, die unmelodische Sprechweise, die Arbeitswut oder die Sammelleidenschaft.

Warhol (1928–1987) ist schon in den 1950er-Jahren als Werbegrafiker in New York enorm erfolgreich, zum berühmtesten und umstrittensten Vertreter der Pop Art steigt er dann durch seine Gemälde auf, die auf massenhaft reproduzierten Bildern basieren wie Zeitungsanzeigen und Comicstrips. Sensationell sind etwa Campbells Suppendosen und das Porträt Marilyn Monroes.

„Wie viele Autisten besaß er eine außergewöhnliche Begabung. Und er verfiel auf eine Innovation, die allgemein Aufmerksamkeit weckt, selbst bei Menschen mit Wahrnehmungsstörungen – nämlich mehrere Versionen desselben Bildes in einem Gittermuster anzufertigen“, zitiert James eine Einschätzung. Ein weiteres Indiz: Warhol spricht nicht viel, aber wenn doch, dreht sich alles um seine Arbeit – der Inbegriff eines Workaholics mit eng fokussierten Interessen.

Ein Einsamer, der sich überall fremd fühlt

Schon in der Schule vermeidet er Berichten zufolge gekonnt jeden Kontakt, benimmt sich rücksichtslos, zeigt wenig Empathie und Wertschätzung. Sogar als er bereits zum versierten Künstler aufgestiegen ist, hat er etwas von einem 6-jährigen Kind an sich, was ihm etwas Zerbrechliches und Schutzloses verleiht – unreife Persönlichkeit und künstlerisches Genie zugleich.

Auch Warhol selbst beschreibt sich als Einzelgänger: „Ich stand niemandem nahe, ich fühlte mich ausgeschlossen … Jede einfache Sache, die ich tue, sieht seltsam aus. Ich habe so einen seltsamen Gang und einen so seltsamen Blick ... Was ist falsch mit mir?“

Einmal betrachtet er sich im Spiegel und zählt mit seiner flachen Stimme, in seiner manierierten Ausdrucksweise auf, was er sieht: „Es ist alles da. Der kalte Blick. Die gebrochene Anmut. Die gelangweilte Mattigkeit. Die verschwendete Blässe. Der Chic eines Freaks. Das eigentlich passive Staunen. Der Glamour, der in Verzweiflung wurzelt. Die Sorglosigkeit, mit der ich mich selbst bewundere. Das perfektionierte Anderssein. Die schattenhafte, voyeuristische, vage unheimliche Aura ... nichts fehlt. Wenn Sie alles über Andy Warhol wissen wollen, schauen Sie sich einfach die Oberfläche meiner Bilder und Filme und mich an und da bin ich. Da ist nichts dahinter.“

Warhol kultivierte seine Marotten 

Autismus-typisch sind Stereotypien und Routinen: das obsessive Abspielen von Schallplatten, das Anhäufen von Möbeln und Gegenständen wie Keksdosen, die Rundgänge durch seine Sammlungen jeden Morgen und Abend. Weit davon entfernt, solche Wunderlichkeiten zu verbergen, beginnt er, sie zu übertreiben und sorgfältig zu pflegen, woraufhin einige Anhänger ihn kopieren.

Als Hinweis auf eine autistische Persönlichkeit wertet James weiterhin den Text „Underwear Power“. Darin schildert Warhol, wie er beim Einkaufen sogar das Etikett auf der Verpackung überprüfen lässt, um sicherzustellen, dass sich nichts geändert hat, nicht einmal die Waschanleitung. 

Weil er Angst vor dem Einschlafen hat, verlegt er seine Aktivitäten in die Nachtstunden. Seinen Narzissmus nährt er mit seiner Publicity und seinem Kontrollwahn über seine Mitmenschen. „Er war voyeuristisch sowohl im spezifisch sexuellen Sinn als auch im weiteren Sinn von jemandem, der die Erfahrung anderer stellvertretend genoss, etwa wenn sie Drogen und Alkohol missbrauchten oder sich verrückt aufführten“, so ein Beobachter.

Prädestiniert Autismus zur Kunst?

Was treibt autistische Menschen zur Kunst? James führt eine Hypothese des Psychiaters Fitzgerald an, wonach sie auf diesem Weg versuchen, ihre diffuse Identität und verworrenen Eindrücke zu klären. Insofern wirkt künstlerische Betätigung wie eine Selbsttherapie, auch gegen die Depressionen, unter denen sie gehäuft leiden.

Weiterhin erhalten autistische Menschen die Möglichkeit, sich mitzuteilen, da ihnen die übliche Kommunikation schwerfällt. Dabei kommt ihnen zugute, dass sie sich als Kehrseite ihrer unreifen Persönlichkeit einen kindlichen Blick auf die Welt bewahrt haben, so dass sie das Publikum mit Phantasiereichtum und frischen unverbrauchten Ideen überraschen können.

Dieser Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.
 

Kommentar

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