Antidepressiva in der Schwangerschaft: Keine neurologischen Entwicklungsstörungen beim Kind – aber trotzdem wachsam sein

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

20. Oktober 2022

In der Schwangerschaft eingenommene Antidepressiva erhöhen per se nicht das Risiko für neurologische Entwicklungsstörungen beim Kind, wie eine große Kohortenstudie aus den USA zeigt. Dennoch könnte die Einnahme dieser Arzneimittel ein wichtiger Hinweis darauf sein, dass ungünstigere Entwicklungsbedingungen vorliegen und die betroffenen Kinder genauer im Auge behalten werden sollten.

 
In nicht adjustierten Analysen gab es eine starke Assoziation zwischen der mütterlichen Einnahme von Antidepressiva in der Schwangerschaft und dem Auftreten von neurologischen Entwicklungsstörungen beim Kind. Dr. Elizabeth A. Suarez und Kollegen
 

„In nicht adjustierten Analysen gab es eine starke Assoziation zwischen der mütterlichen Einnahme von Antidepressiva in der Schwangerschaft und dem Auftreten von neurologischen Entwicklungsstörungen beim Kind“, berichten die Studienautoren um Dr. Elizabeth A. Suarez von der Division of Pharmacoepidemiology and Pharmacoeconomics am Brigham and Women’s Hospital in Boston, USA, in JAMA Internal Medicine  [1]. „Antidepressiva in der Schwangerschaft könnten ein wichtiger Marker dafür sein, dass frühzeitig gescreent und bei Bedarf interveniert werden sollte.“

Zahlreiche Einflussgrößen können zu Entwicklungsstörungen beitragen

Die Einnahme von Antidepressiva in der Schwangerschaft ist in verschiedenen kleineren Studien mit neurologischen Entwicklungsstörungen beim Kind in Zusammenhang gebracht worden. Allerdings lassen sich entsprechende Assoziationen immer auch durch Einflussfaktoren wie die psychische Gesundheit der Eltern, die genetische Ausstattung sowie Umweltfaktoren erklären.

 
Antidepressiva in der Schwangerschaft könnten ein wichtiger Marker dafür sein, dass frühzeitig gescreent und bei Bedarf interveniert werden sollte. Dr. Elizabeth A. Suarez und Kollegen
 

„Man muss bei der Interpretation solcher Untersuchungen vorsichtig sein“, sagt Dr. Wolfgang E. Paulus, Leiter der Beratungsstelle für Reproduktionstoxikologie an der Universitätsfrauenklinik Ulm, im Gespräch mit Medscape. „Auf der einen Seite steht die Anwendung der Antidepressiva in der Schwangerschaft, auf der anderen Seite werden die Kinder Jahre später auf Defizite hin beurteilt. Aber in der Zeit von der Geburt bis zur Beurteilung – in dieser Studie waren es bis zu 14 Jahre – gibt es eine Vielzahl von anderen Einflussgrößen, die Lernschwierigkeiten, Sprachprobleme oder Verhaltensauffälligkeiten verursachen können.“

Dr. Wolfgang E. Paulus

Eine dieser Einflussgrößen sei die mit Antidepressiva behandelte Grunderkrankung der Mutter, die wahrscheinlich auch über die Schwangerschaft hinaus noch weiter bestehe, ergänzte er.

Krankenversicherungsdaten von mehr als 3 Millionen Schwangeren analysiert

Suarez und ihre Kollegen analysierten Krankenversicherungsdaten von mehr als 3 Millionen Schwangeren in den USA: 1,93 Millionen aus der Datenbank Medicaid Analytic eXtract (MAX) und 1,25 Millionen aus der Datenbank IBM MarketScan Research Database (MarketScan). Die Kinder wurden von der Geburt bis zur Diagnose einer neurologischen Entwicklungsstörung oder dem Erreichen des 14. Lebensjahres nachverfolgt.

 
Man muss bei der Interpretation solcher Untersuchungen vorsichtig sein. Dr. Wolfgang E. Paulus
 

Verglichen wurden 145.702 Frauen, die in der Schwangerschaft Antidepressiva verschrieben bekommen hatten, mit 3.032.745 Frauen, die in der Schwangerschaft keine entsprechende Medikation erhalten hatten.

Fokus auf Zeitraum der Synaptogenese

„Die Untersuchung war insbesondere im Hinblick auf die Fallzahl sehr umfangreich und ist dadurch aussagekräftiger als kleinere Kollektive“, so Paulus. Die US-Wissenschaftler fokussierten sich ausschließlich auf die Phase der Synaptogenese, sprich die Einnahme von Antidepressiva von Gestationswoche 19 bis zur Entbindung.

„Frauen, die unter Antidepressiva-Einnahme schwanger werden, fragen oft zuerst nach der Gefahr von Fehlbildungen, etwa Herzfehlern – hierfür ist die sensible Phase das erste Trimester, welches in der Studie nicht untersucht wurde“, so Paulus. Die Studie gebe ausschließlich Auskünfte über einen möglichen Einfluss von Antidepressiva auf die Entwicklung des Nervensystems des Kindes.

Bei der Interpretation der Ergebnisse sei außerdem zu berücksichtigen, dass die Krankenversicherungsunterlagen keine Auskunft darüber geben, ob die Patientinnen die verschriebenen Antidepressiva tatsächlich regelmäßig eingenommen haben.

Deutliche Risikoerhöhung in den nicht adjustierten Daten zu beobachten

Suarez und ihre Kollegen berichten, dass die nicht adjustierten Ergebnisse der Analyse auf eine signifikante Risikoerhöhung bei den Kindern hindeuteten, deren Mütter in der Schwangerschaft Antidepressiva verschrieben bekommen hatten.

Im Alter von 12 Jahren hatten in der MAX-Kohorte 46,8% der Kinder mit mütterlicher Antidepressiva-Einnahme in der Schwangerschaft eine neurologische Entwicklungsstörung, während es bei den nicht exponierten Kindern 31,4% waren. In der MarketScan-Kohorte waren es 24,9% bei den exponierten Kindern und 15,1% bei den nicht exponierten Kindern.

Teilweise verdoppelt sich das Risiko

Für einen Teil der Diagnosen war das Risiko sogar verdoppelt. So hatten in den beiden Kohorten gegenüber Antidepressiva exponierte Kinder ein Risiko für ein Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Syndrom (ADHS) von 33,3% bzw. 20,3%, während es bei den nicht exponierten Kindern bei 17,6% bzw. 9,6% lag.

„Die nicht adjustierten Hazard Ratios für alle neurologischen Entwicklungsstörungen deuteten auf eine Risikoerhöhung bei In-utero-Exposition gegenüber Antidepressiva hin, mit HRs, die von 1,32 für spezifische Lernstörungen bis hin zu 2,02 für ADHS reichten“, schreiben Suarez und ihre Kollegen.

Andere Einflussfaktoren fallen viel stärker ins Gewicht als Antidepressiva

Aber die vollständige Adjustierung der Ergebnisse um andere mögliche Einflussfaktoren – wie demografische Faktoren, Indikation für die Antidepressiva, Lebensstilfaktoren wie Rauchen, Alkohol- und Drogenkonsum sowie Begleiterkrankungen und sozioökonomische Faktoren – habe diese Assoziationen so gut wie aufgelöst. Sie reichten noch von einer aHR 1,01 für Lernstörungen bis zu einer aHR 1,20 für ADHS.

Auch Geschwisteranalysen deuteten darauf hin, dass es keine Risikoerhöhung durch die Einnahme von Antidepressiva in der Schwangerschaft gibt. Wurden gegenüber Antidepressiva exponierte und nicht exponierte Geschwister verglichen, waren die HRs vergleichbar mit denen in den adjustierten Analysen oder gar noch stärker abgemildert:

  • 0,97 für jegliche neurologische Entwicklungsstörung,

  • 0,86 für Autismus-Spektrum-Störungen,

  • 0,94 für ADHS,

  • 0,77 für spezifische Lernstörungen,

  • 1,01 für entwicklungsbedingte Sprach- und Sprechstörungen,

  • 0,79 für entwicklungsbedingte Koordinationsstörungen,

  • 1,00 für intellektuelle Behinderungen und

  • 0,95 für Verhaltensstörungen.

Welche Klasse von Antidepressivum verschrieben worden sei oder in welchem Zeitfenster, habe keinen nennenswerten Einfluss auf die Ergebnisse gehabt, ergänzen die Autoren.

Auf betroffene Kinder besonders aufpassen

„Für die Patientinnen ist das eine gute Nachricht, da sie oft Angst haben, mit dem Antidepressivum dem Kind Schaden zuzufügen“, sagte Paulus. Eine für die Praxis ebenfalls bedeutsame Erkenntnis aus dieser Studie sei aber, dass man auf Kinder von Müttern, die in der Schwangerschaft Antidepressiva genommen haben, nachher besonders aufpassen müsse, ergänzte er: „Nicht primär wegen der mütterlichen Medikation, sondern weil sie unter gewissen Entwicklungsstörungen bis zu doppelt so häufig leiden.“ Und der Grund hierfür sind offenbar Einflussgrößen wie die mütterliche Grunderkrankung, Umgebungsbedingungen familiärer Art bis hin zu sozioökonomischen Faktoren.

 
Für die Patientinnen ist das eine gute Nachricht, da sie oft Angst haben, mit dem Antidepressivum dem Kind Schaden zuzufügen. Dr. Wolfgang E. Paulus
 

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