COVID-19, Personalmangel, steigende Energiekosten – die Situation in Deutschlands Kliniken wird zunehmend prekärer. In einigen Regionen liegen die Inzidenzen von Corona-Infektionen wieder über der 1.000er-Marke und die Kliniken füllen sich erneut: mit COVID-19-Patienten, aber auch mit Patienten, die an anderen Atemwegsinfektionen leiden.
In vielen Häusern ist auch das medizinische Personal erkrankt, Betten müssen deshalb abgemeldet und Operationen verschoben werden. Die Energiekrise treibt zudem die Preise für Strom und Gas in die Höhe.
Wegen der wirtschaftlichen Schieflage haben Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek und der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Dr. Gerald Gaß eindringlich vor Insolvenzen und Evakuierungen gewarnt.
Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach hat den Kliniken nun eine baldige Entlastung versprochen. Ziel sei u.a., alle geeigneten Therapien als Tagesbehandlung durchführen zu können. Damit entfielen Nachtdienste und Pflegekräfte würden entlastet.
Die Idee zum Ausbau der Tagesbehandlungen stammt von Lauterbachs Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung. Das DRG-System habe die „Ökonomisierung der Krankenhäuser zu weit getrieben“ und müsse jetzt durch ein „moderneres System abgelöst werden“, twittert Lauterbach. An dieser Krankenhausreform werde jetzt intensiv gearbeitet.
Zudem verhandelt Lauterbach mit Finanzminister Christian Lindner über neue Staatshilfen für die Kliniken. Ein Sondervermögen für die Krankenhäuser lehnte Lauterbach allerdings ab.
COVID-19 und Atemwegsinfektionen treiben Zahl der Ausfälle nach oben
Dass Krankheitsausfälle beim Personal den Betrieb „erheblich“ einschränken, bestätigt Dr. Cihan Çelik, Leiter der Sektion Pneumologie am Klinikum Darmstadt, gegenüber dem Science Media Center (SMC). „Sowohl COVID-19 als auch andere Atemwegsinfektionen treiben derzeit die Anzahl der Ausfälle nach oben. Im Falle von COVID fallen die Mitarbeitenden dabei ein paar Tage länger aus als bei der gewöhnlichen Erkältung“, sagt Çelik.
Der mittlere Krankenstand an der Universitätsmedizin Mainz liegt bei rund 17%, berichtet Prof. Dr. Peter Galle, Direktor der I. Medizinischen Klinik und Leiter der COVID-19-Station am Uniklinikum Mainz. Die Mitarbeiter fielen 1 bis 2 Wochen aus. In einer Infektionswelle könnten in einzelnen Bereichen der Universitätsmedizin Mainz möglicherweise bis zu 25% der Belegschaft erkranken, sagt Galle und fügt hinzu: „Wir gehen davon aus, dass unsere Personallage vermutlich noch bis April angespannt bleibt.“
Doch nicht nur das Personal ruft die angespannte Lage hervor, betont Çelik: „Tatsächlich nehmen wir derzeit sehr viele Patienten auf, die ohne COVID-Infektion nicht ins Krankenhaus müssten. Wir sind gerade im steilen Anstieg der Infektionen, irgendwann ist mit einem Rückgang zu rechnen. Ich kann es aber nicht absehen, wie hoch es noch steigen wird. Unser Personal ist davon genauso betroffen wie die Normalbevölkerung.“
Vor 3 Wochen habe man noch 21 COVID-19-Patienten im Haus gehabt, heute seien es 119. „Bei mehr als der Hälfte dieser Aufnahmen ist COVID-19 ein mitverursachender Faktor.“ 90% der Fälle spielten sich auf der Normalstation ab.
Galle berichtet, dass in Mainz aktuell 78 Patienten mit einer SARS-CoV-2-Infektion stationär behandelt werden, davon liegen 9 Patienten auf der Intensivstation (Stand 17.10.2022).
700 Akutkrankenhäuser schließen?
Die wirtschaftliche Lage der Kliniken sei „zugegebenermaßen schlecht“, da Einnahmen und Kosten auseinandergelaufen seien, sagt Prof. Dr. Reinhard Busse, Leiter des Fachgebiets Management im Gesundheitswesen, Technische Universität Berlin, und derzeit Mitglied der Regierungskommission für eine moderne und bedarfsgerechte Krankenhausversorgung.
Laut „Kostennachweis der Krankenhäuser“ des Statistischen Bundesamts betrugen die Kosten für Wasser, Energie und Brennstoffe im Jahr 2020 insgesamt 2,056 Milliarden Euro. Wie Busse erklärt, waren das „weniger als 5% der Sachkosten und etwa 1,7% der Gesamtkosten – oder, pro Bett gerechnet, rund 4.000 Euro im Jahr beziehungsweise 11 Euro am Tag.“
Allerdings seien die Betten nur zu 2 Drittel belegt gewesen, so dass die Kosten pro belegtem Bett pro Tag bei 17 Euro lagen. Die unvollständige Belegung sei das größere Dilemma der Krankenhäuser, sagt Busse.
Busse betont, dass der Rückgang der Patientenfälle und der Bettentage so groß sei, dass 700 Akutkrankenhäuser (alle Kliniken bis maximal 200 Betten) geschlossen werden müssten, damit die anderen 700 wieder so voll wären wie 2019. „Das zeigt die Größenordnung der Misere auf. Die Auswirkungen des Fallzahlrückgangs um 13% sind für die Krankenhäuser fast 8-fach so groß wie eine Verdoppelung der Energiekosten mit 1,7%.“
Als die Betten noch voll waren, seien die DRGs aus Sicht der Kliniken eine adäquate Einnahmequelle gewesen, seit 2020 seien aber andere Einnahmen wichtiger geworden, sagt Busse. „So hat das Bundesamt für Soziale Sicherung für den Zeitraum März 2020 bis Juni 2022 den Krankenhäusern insgesamt 22,16 Milliarden Euro als ,Freihaltepauschalen‘, Versorgungsaufschlag und für zusätzliche Intensivbetten zukommen lassen, ohne dass eine dringend notwendige Krankenhausstrukturreform auch nur einen Meter vorangekommen ist“, kritisiert Busse.
„Das waren rund 44.000 Euro pro Bett über den Gesamtzeitraum oder umgerechnet über 50 Euro pro Bett und Tag.“ Das habe „Begehrlichkeiten geschaffen, die sich jetzt in entsprechenden Forderungen niederschlagen“, so Busse.
Aus Busses Sicht muss jede weitere finanzielle Unterstützung „auf jeden Fall an die Umsetzung von Reformen gekoppelt werden, etwa indem über alle Krankenhäuser hinweg je x Euro Unterstützung y Betten dauerhaft abgebaut werden müssen.“ Viele Betten existierten schon gar nicht mehr bzw. seien nicht mit Personal ausgestattet.
Weniger Kliniken, Tagesbehandlung – was bringt schnell Entlastung?
„Jedes Krankenhaus sollte nur die Leistungen erbringen dürfen, für die es personell und technisch adäquat ausgestattet ist“, betont Busse. Für Kliniken, die finanzielle Unterstützung erhalten, könne aber ab sofort gelten: „Keine Abrechnung von Herzinfarktpatienten ohne Linksherzkathetermessplatz, von Schlaganfallbehandlungen ohne Stroke Unit und von Krebsfällen, wenn es im Haus kein zertifiziertes Zentrum für die jeweilige Krebsart gibt.“
Den Ausbau der Tagesbehandlungen bewertet Galle zurückhaltend. Seiner Einschätzung nach würde dies an der Universitätsmedizin Mainz keine Entlastung bringen, da die Herausforderung bei der Behandlung von stationären Patienten liege, insbesondere von hochbetagten und schwer pflegebedürftigen Personen. „Eine kurzfristige Entlastung der Klinik könnte erreicht werden, wenn COVID-19-Tests nur noch anlassbezogen durchgeführt würden“, meint Galle.
Und Çelik sagt: „Das sind strukturelle Änderungen, deren Wirkung uns in einer akuten Welle nicht helfen werden, aber für die Zukunft sicher wichtig werden.“
Um kurzfristig Entlastung zu schaffen, müsse im Klinikum Darmstadt nun jede Abteilung bei der Betreuung von COVID-Patienten mehr als bisher mithelfen. „Die schiere Zahl der Fälle bringt uns dazu, dass auch chirurgische Abteilungen COVID-Patienten mit Symptomatik behandeln müssen. Wir als Internisten helfen bei der Therapieentscheidung“, berichtet Çelik. Planbare Untersuchungen seien abgesagt, Operationssäle müssten geschlossen werden, die Versorgungsqualität im Nicht-COVID-Bereich werde enorm leiden.
„Wir gehen mit den sehr knappen Ressourcen in der Pflege nicht effektiv um“, sagt Çelik. Ist die Schließung kleinerer Kliniken die Lösung? Einerseits würde die Schließung von nicht-spezialisierten kleineren Kliniken dazu führen, dass mehr Pflege für die Maximalversorger und Zentren zur Verfügung stehe, die Garant für medizinische Versorgungsqualität sind. Es sei aber oft nicht der Wunsch der Bevölkerung, dass Krankenhäuser außerhalb der Ballungsgebiete schließen und die Wege länger werden.
„Außerdem hat sich unser System auch während der Pandemie bewährt. Wir haben als koordinierendes Krankenhaus leichtere COVID-Fälle zuverlässig in kleinere Kliniken verlegt. In der Hochphase der Pandemie wäre ohne die Hilfe und den Zugriff auf diese zusätzlichen Betten keine Versorgung mehr möglich gewesen“, erinnert Çelik.
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Credits:
Photographer: © Viktor Levi
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Diesen Artikel so zitieren: Deutschlands Kliniken vor dem Winter – wie dramatisch ist die Lage wirklich und welche Sofortmaßnahmen sind geplant? - Medscape - 19. Okt 2022.
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