Boston - In der perioperativen Schmerztherapie eingesetzt ist Gabapentin bei älteren Patienten mit einem erhöhten Risiko für Delir, Verordnung von Antipsychotika und Lungenentzündungen verbunden, dies zeigt eine Studie aus den USA. Sie mehrt einmal mehr die Evidenz dafür, dass Gabapentinoide in der perioperativen Schmerztherapie keinen wirklichen Vorteil bieten, dafür aber das Potenzial haben zu schaden.
Die Autoren um Dr. Chan Mi Park von der Harvard T. H. Chan School of Public Health in Boston, USA, raten deshalb zu „einer sorgfältigen Risiko-Nutzen-Abschätzung vor der Verordnung von Gabapentin für das perioperative Schmerzmanagement“. Gabapentin werde [in den USA] im Rahmen einer multimodalen Analgesie immer häufiger für die perioperative Schmerztherapie eingesetzt, um die Verwendung von Opioiden zu verringern, ergänzen die Forscher.
Ältere grundsätzlich stärker gefährdet
Aber ob das zur Gruppe der Antikonvulsiva zählende Gabapentin für ältere Patienten sicher ist, wird kritisch diskutiert. „Ältere Patienten sind aufgrund von Faktoren wie Komorbiditäten, Polymedikation und eingeschränkter Nierenfunktion und zusätzlich perioperativ durch Opioidgaben zur Anästhesie und Anlagesie besonders gefährdet für Nebenwirkungen“, sagt Prof. Dr. Ulrike Stamer von der Universitätsklinik für Anästhesiologie und Schmerztherapie, Inselspital der Universität Bern, Bern, Schweiz, auf Nachfrage von Medscape.
Der routinemäßige Einsatz von Gabapentin in der perioperativen Schmerztherapie ist in den letzten beiden Jahrzehnten zunehmend in die Kritik geraten: „Während die Evidenz für einen Nutzen abnahm, nahm die Evidenz für Nebenwirkungen zu“, hieß es bereits 2020 in den treffend titulierten Editorial „Perioperative Gabapentinoids: Deflating the Bubble“ im Fachblatt Anesthesiology. Die aktuelle Studie trage zu Letzterem bei, so Stamer, die auch Sprecherin des Arbeitskreises Akutschmerz der Deutschen Schmerzgesellschaft ist.
Vergleich von mehr als 200.000 Patienten
Park und ihre Kollegen analysierten in einer retrospektiven Kohortenstudie Daten von Patienten ab 65 Jahren, die sich an einem US-Krankenhaus einer größeren Operation unterzogen. Von insgesamt knapp 1 Million Patienten hatten 12% perioperativ Gabapentin erhalten.
Mittels eines Propensity Scores verglichen sie 118.936 Patienten, die innerhalb von 2 Tagen nach dem Eingriff Gabapentin erhalten hatten, mit 118.936 Patienten, die ausschließlich mit anderen Schmerzmitteln behandelt worden waren.
Sie berichten, dass Patienten, die Gabapentin erhalten hatten, ein erhöhtes Risiko für Delir (3,4% vs. 2,6%), Neuverordnung von Antipsychotika (0,8% vs. 0,7%) und Lungenentzündungen (1,3% vs. 1,2%) aufwiesen. Keinen Unterschied gab es dagegen bei der ebenfalls untersuchten Krankenhaussterblichkeit (0,3% vs. 0,2%).
Vorerkrankungen und reduzierte Nierenfunktion begünstigen Nebenwirkungen
Innerhalb der Gruppe der Gabapentin-Anwender hatten Vorerkrankungen und eine eingeschränkte Nierenfunktion Einfluss auf das Delirrisiko: Patienten mit 4 oder mehr Komorbiditäten hatten ein höheres Risiko für ein Delir nach Gabapentinbehandlung als Patienten mit weniger als 4 Komorbiditäten. Patienten mit chronischer Nierenerkrankung (CKD) hatten ebenfalls ein höheres Risiko als diejenigen ohne CKD.
In Deutschland wird Gabapentin von aktuellen Leitlinien nicht für die perioperative Schmerztherapie empfohlen. Im Wortlaut heißt es in der aktuellen S3-Leitlinie zur Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen: „Gabapentinoide (Gabapentin, Pregabalin) bringen perioperativ keine klinisch relevanten Vorteile und sollten deshalb sowie aufgrund von Nebenwirkungen nicht routinemäßig eingesetzt werden.“ Auch in den evidenzbasierten Empfehlungen Australiens und Neuseelands werde ausdrücklich auf die Nebenwirkungen hingewiesen, so Stamer.
US-Chirurgen suchen nach Alternativen zu Opioiden
In den von der Opioidkrise besonders stark betroffenen USA versuchen Chirurgen den Einsatz von Opioiden zu reduzieren, indem sie für die Behandlung perioperativer Schmerzen auf multimodale Therapieschemata setzen. Dort empfahlen die US-Fachgesellschaften 2016 in ihrer Praxisleitlinie zum postoperativen Schmerzmanagement die Gabe von Gabapentin bzw. Pregabalin im Rahmen eines multimodalen Analgesiekonzepts zu erwägen.
„Gabapentinoide wie Gabapentin und Pregabalin werden mittlerweile in der perioperativen Phase häufig verabreicht“, schreiben Dr. Tasce Bongiovanni vom Department of Surgery der University of California San Francisco School of Medicine, San Francisco, USA, und seine Koautoren in einem Editorial[2]. „Die Verwendung von Gabapentin hat sich in den USA in den letzten 10 Jahren verdreifacht.“
USA: Multimodale Schmerztherapie bei Älteren muss überdacht werden
Angesichts des zunehmenden Einsatzes von Gabapentin sei es von entscheidender Bedeutung, dass sich Ärzte der Risiken bewusst seien, insbesondere bei älteren Menschen, betonen Bongiovanni und Kollegen. „Diese Ergebnisse sollten Ärzte dazu bringen, inne zu halten, bevor sie in Hochrisikopopulationen, wie älteren Patienten, Gabapentin verordnen.“
Auf globalerer Ebene sollte diese klinische Evidenz dazu beitragen, das multimodale Schmerzmanagement von älteren Patienten zu überdenken, ergänzen die Autoren des Editorials um Bongiovanni. Dafür seien allerdings Strategien für ein Schmerzmanagement ohne Opioide erforderlich, die sich auf Studiendaten stützen und in die routinemäßige klinische Praxis übertragbar seien.
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Credits:
Photographer: © Robert Kneschke
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Besser nicht: Gabapentin in der perioperativen Schmerztherapie führt bei Älteren zu Delir, Psychose und Pneumonie - Medscape - 18. Okt 2022.
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