Als Dr. Howard Tucker 1947 begann, als Neurologe zu praktizieren, leckte Deutschland noch seine Nachkriegswunden, US-Außenminister Marshall stellte seinen berühmt gewordenen Wiederaufbauplan für Europa vor, der zum Glück auch Deutschland einbezog, der Spiegel erschien mit seiner ersten Ausgabe, und in den USA kostete ein Laib Brot 13 Cent.

Dr. Howard Tucker
Seitdem hat Tucker große Veränderungen im Gesundheitswesen miterlebt – von Präsident Trumans nationalen Gesundheitsplan bis heute, wo die Menschen ihre Krankenunterlagen in digitaler Form mit sich herumtragen können.
Tucker lebt seit seiner Geburt 1922 im sog. Mittleren Westen in Cleveland Heights, Ohio – das eigentlich recht weit im Osten der USA liegt. Er ist jetzt in seinem 75. Jahr als Neurologe tätig, unterrichtet immer noch Assistenzärzte und praktiziert am St. Vincent Charity Medical Center in Cleveland.
Nach seinem Highschool-Abschluss 1940 schrieb er sich zum Medizinstudium an der Ohio State University ein, das er dort auch abschloss. Während des Koreakriegs diente er als leitender Neurologe für die Atlantikflotte in einem US-Marinekrankenhaus in Philadelphia. Nach dem Krieg absolvierte er seine Facharztausbildung an der Cleveland Clinic und arbeitete am Neurologischen Institut in New York.
Er entschied sich dann für eine Rückkehr nach Cleveland, wo er mehrere Jahrzehnte am University Hospitals Cleveland Medical Center und am Hillcrest Hospital praktizierte.
Im Alter von 67 Jahren genügte ihm sein medizinischer Abschluss nicht mehr, und so schrieb er sich am Cleveland State University Cleveland Marshall College of Law ein, wo er 1989 zum „Dr. jur.“ promovierte. Die Anwaltsprüfung legte er in Ohio ab.
Und als ob das noch nicht genug wäre, wird er im „Guinness Buch der Rekorde“ mit 98 Jahren und 231 Tagen zum ältesten praktizierenden Arzt der Welt geführt. In diesem Juli beging er seinen 100. Geburtstag, aber Tucker praktiziert immer noch.
Aufgrund seiner beeindruckenden und inspirierenden Biografie entsteht aktuell ein Dokumentarfilm über Tucker mit dem Titel „What's next?“. Der Film wird von seinem Enkel Austin Tucker produziert und von Taylor Taglianetti gedreht.
Medscape sprach kürzlich mit Tucker über sein Leben in der Medizin.
Medscape: Warum sind Sie eigentlich Neurologe geworden?
Tucker: Ich war wohl schon im 7. oder 8. Schuljahr von der Medizin fasziniert. Ich habe mich für die Neurologie entschieden, weil sie damals eine intellektuelle Herausforderung darstellte. Es gab noch keine Computertomografie, und das Stellen einer korrekten Diagnose war harte Arbeit. Man brauchte den Liquor, versuchte aus dem EEG schlau zu werden und erhob sehr detaillierte Anamnesen.
Medscape: Wie hat sich denn die Neurologie verändert, seit Sie als Arzt begonnen haben?
Tucker: Es gibt jetzt die Magnetresonanztomografie, sodass wir viel seltener Lumbalpunktionen durchführen müssen. Und auch das EEG ist nicht mehr so häufig erforderlich, am ehesten noch bei Anfallsleiden, aber eigentlich nicht mehr bei Verdacht auf einen Tumor, was früher eine wichtige Indikation war. Als ich Medizin studierte, hieß es außerdem noch, man solle Dilaudid® – Hydromorphon, ein halbsynthetisches Opioid – und kein Morphium verwenden. Und jetzt findet man Dilaudin® nicht mal mehr in der Notaufnahme.
Medscape: Und wie hat sich aus Ihrer Sicht die Medizin insgesamt während Ihrer Laufbahn verändert?
Tucker: Der Computer hat alles beeinflusst. Früher sahen wir einen Patienten, riefen den überweisenden Arzt an und besprachen den Fall in einem freundlichen und konstruktiven Gespräch. Ruft man heute einen Kollegen an, heißt es nur: „Mailen Sie mir Ihren Bericht“, und das war's dann. Man spricht kaum noch miteinander. Die Medizin hat sich dramatisch gewandelt. Früher gab es auch sehr herzliche Beziehungen zwischen Arzt und Patient. Man hat den Patienten angeschaut und seinen Gesichtsausdruck studiert und gedeutet. Jetzt schaut man nur noch auf den Bildschirm und kaum noch auf den Patienten.
Medscape: Warum macht es Ihnen immer noch Spaß, als Arzt zu arbeiten?
Tucker: Es ist die Herausforderung und die Anspannung rund um die Patienten, die mich reizen, und jetzt unterrichte ich auch viel, was ich ebenfalls liebe, und zwar Neurologie sowohl für Assistenzärzte als auch für Medizinstudenten, die ihre Neurologie-Zeit absolvieren. Als ich an der Cleveland Clinic war und in den Ruhestand ging, hatte ich nach 2 Monaten genug. Also kehrte ich zum St. Vincent zurück. Es ist ein kleineres Krankenhaus, hat aber trotzdem gute Assistenzärzte und gute Lehrbedingungen.
Medscape: Welche Lektionen bringen Sie Ihren Assistenzärzten bei?
Tucker: Ich sage ihnen, dass sie ein Problem erst durchdenken sollen, bevor sie sich das CT oder andere Untersuchungsaufnahmen ansehen. Sie sollen über das nachdenken, was der Patient ihnen sagt. Daraus ergibt sich dann auch, welche Fragen sie stellen sollten, noch bevor sie den Patienten untersuchen. Und dann wissen sie oft schon genau, was sie dabei finden werden.
Eine vollständige neurologische Untersuchung dauert, abgesehen von der Anamnese und dem psychischen Befund, 5 Minuten. Man lässt den Patienten gehen, macht den Finger-Tapping-Test, lässt ihn mit geschlossenen Augen die Nase berühren, prüft die Reflexe, die Kraft – und das war's. Das dauert nicht lange, wenn man weiß, wonach man suchen muss.
Die Assistenzärzte sagen mir immer wieder: „55-jähriger Mann, im CT sieht man dies und das“. Ich erwidere dann stets: „Langsam. Lassen Sie uns doch erst darüber reden.“
Medscape: Welchen Rat möchten Sie jüngeren Ärzten und Medizinstudenten mitgeben?
Tucker: Führen Sie eine sehr sorgfältige Anamnese durch und ermitteln Sie den Krankheitsverlauf. Versuchen Sie immer, eine Diagnose im Kopf zu haben, und –das richtet sich besonders an Assistenzärzte –stellen Sie Fragen! Man muss schlauer sein als die Patienten, man muss wissen, welche Fragen zu stellen sind.
Wenn jemand mit dem Kopf ans Lenkrad geprallt ist, weiß er vielleicht noch gar nicht, dass er seinen Geruchssinn verloren hat. Das muss man gezielt erfragen, und deshalb muss man schlauer sein als der Patient. Führen Sie eine sorgfältige Anamnese durch, bevor Sie sich den bildgebenden Untersuchungen zuwenden.
Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Credits:
Photographer: © Andrei Malov
LEad image: Dreamstime.com
Medscape © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Dieser 100-Jährige arbeite noch immer als Arzt – Erfahrungen eines Neurologen, der seit 1947 den Reflexhammer schwingt - Medscape - 17. Okt 2022.
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