Ein Post-COVID-Symptom (PCS) liegt laut Weltgesundheitsinformation WHO dann vor, wenn 3 Monate nach einer Infektion mit SARS-CoV-2 Symptome vorliegen, die nicht durch andere Diagnosen erklärbar sind. Nach aktuellen Schätzungen können bis zu 15% der Infizierten ein PCS entwickeln. Allein für Deutschland bedeutet das mehrere Hunderttausende Betroffene. Ein „sehr relevantes Problem“, hob Dr. Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer (BÄK), auf der Pressekonferenz hervor, auf der die BÄK ihre Stellungnahme Post-COVID-Syndrom (PCS) präsentierte [1].
Wobei die Ausprägungen eines PCS sehr unterschiedlich sind: „Sie reichen von sehr leichten über schwere Verläufe bis hin zu Verläufen, die in die Berufsunfähigkeit münden“, erklärte Reinhardt. Bisher ist die Pathogenese der Erkrankung nur unvollständig verstanden, und es gibt keine ursächlichen Therapien.
Mit der Stellungnahme will die BÄK dazu beitragen „die Versorgung der Betroffenen zu verbessern, die Prävention zu stärken und die Forschung zu den Langzeitfolgen einer Corona-Infektion zu intensivieren. Denn wir möchten erreichen, dass politische Entscheidungen auf der Basis der bestmöglichen verfügbaren Evidenz gefällt werden“, sagte Reinhardt.
Arbeit fasst bestehendes Wissen zum Post-COVID-Syndrom zusammen
Ein interdisziplinär besetzter Arbeitskreis des Wissenschaftlichen Beirats der BÄK unter der Federführung von Prof. Dr. Michael Hallek hatte dazu die wissenschaftliche Literatur zum PCS in einem strukturierten, methodischen Review-Prozess gesichtet. „In der Arbeit haben wir das bestehende Wissen zusammengefasst“, sagte Hallek, Direktor Klinik I der Uniklinik Köln.
Dabei war der Arbeitskreis mit einer großen Fülle an wissenschaftlichen Arbeiten konfrontiert, allein im Jahr „2022 wurden 6.330 Beobachtungsstudien dazu publiziert“, berichtete Hallek. Letztlich flossen in die Analyse mehrere Hundert Veröffentlichungen zum Thema PCS ein.
In ihrer Stellungnahme gibt die BÄK aber nicht nur einen Überblick über den aktuellen medizinischen Kenntnisstand, sie weist auch auf notwendige Veränderungen in den Versorgungsstrukturen hin und darauf, was in der Forschung notwendig ist. „Mit der Stellungnahme legen wir ein Kompendium der aktuell verfügbaren Datenlage vor, welches in dieser Form einzigartig sein dürfte“, erklärte Hallek. Dabei handelt es sich allerdings nur um eine Momentaufnahme: „Die dynamische Pandemieentwicklung und auch die Mutationstendenz von SARS-CoV-2 führen dazu, dass sich wissenschaftliche Erkenntnisse schnell weiterentwickeln oder überholt sind.“
Ausführlich werden in der Stellungnahme Erkenntnisse zu Ursachen und Pathogenese dargestellt. Dazu zählt:
dass SARS-CoV-2 die Fähigkeit besitzt, verschiedenste Zellen zu infizieren,
dass das Virus endotheliale Dysfunktion verursacht,
dass Proteine und RNA des Virus über Monate persistieren,
dass Autoantikörper und anhaltende Entzündungsprozesse ausgelöst werden.
Hinzu kommen psychosoziale Faktoren: „Das ist der schwierigste Bereich, weil psychosoziale Folgen differenzialdiagnostisch abgegrenzt werden müssen. Viele Menschen sind durch die Pandemie, durch den Lockdown, durch Berufsverlust etc. schwer beeinträchtigt. Dies dann konkret auf die virale Erkrankung oder auf die Umgebung zurückzuführen, ist im Einzelfall sehr schwer“, betonte Hallek.
Prädisponierende Risikofaktoren für das Entstehen eines PCS sind:
zunehmendes Alter,
weibliches Geschlecht,
weiße ethnische Zugehörigkeit,
Asthma,
schlechte psychische Gesundheit,
Diabetes,
Bluthochdruck und
Adipositas.
Möglicherweise ist das PCS auch mit niedrigeren Serum-Immunglobulin G-Titern zu Beginn der Erkrankung assoziiert. Das Risiko für PCS ist auch erhöht, wenn initial bei Infektion sehr viele Symptome vorliegen.
Impfung scheint das Risiko für PCS zu verringern
Eine vollständige Grundimmunisierung kann offenbar das Risiko reduzieren, eine PCS zu entwickeln. Daten der UK „COVID Surveillance-Studie“ zeigen bei 3-fach geimpften, erwachsenen Studienteilnehmern 12 bis 16 Wochen nach einer ersten, laborbestätigten SARS-CoV-2-Infektion mit den Varianten Omikron BA.1, Omikron BA.2 oder Delta eine unbereinigte Prävalenz der selbstberichteten PCS-Symptome jeglichen Schweregrads von 4,5%, 4,2% bzw. 5%. Bei doppelt geimpften Erwachsenen betrug die unbereinigte Prävalenz 4% für Infektionen mit der Omikron BA.1-Variante und 9,2% mit der Delta-Variante.
„Die Impfung scheint die Häufigkeit und die Schwere von Post-COVID zu reduzieren – ob das für die Omikron-Variante gilt, ist für die jetzigen Impfstoffe aber noch offen“, so Hallek.
Hallek riet davon ab, sich während einer laufenden Infektion impfen zu lassen: „Wir haben keine Hinweise gefunden, dass sich dadurch Post-COVID verringern lässt. Es gibt auch keine Evidenz dafür, dass das PCS durch eine Impfung verbessert werden kann“, betonte er.
Mit 2 bis 4% ist Post-COVID bei Kindern und Jugendlichen, auch wenn sie nicht geimpft sind, deutlich seltener als unter Erwachsenen. Für Kinder gilt: Je älter sie sind, desto eher neigen sie dazu, ein PCS zu entwickeln. Risikofaktoren bei Kindern und Jugendlichen sind:
schwere initiale Infektion,
weibliches Geschlecht und
chronische Vorerkrankung.
Hausärzte für die Diagnose des PCS enorm wichtig
Ausführlich widmet sich die Stellungnahme dem breiten Spektrum des PCS: Neben krankhafter Erschöpfung (Fatigue) und Dyspnoe können sich Symptome zeigen wie:
Kopf-, Brust- und Gelenkschmerzen,
Husten,
Haarausfall,
gastrointestinale und neurologische Symptome,
Kreislaufprobleme,
Riech- und Geschmacksstörungen,
Depressionen,
Belastungsintoleranz und
Aktivitätseinschränkungen.
Studien legen eine Assoziation dieser unter PCS subsumierten Symptome mit längerfristigen Gewebeschädigungen und strukturellen sowie funktionellen Schädigungen der betroffenen Organe nahe.
Hallek betonte, dass gerade Hausärzte für die Diagnose eines PCS „enorm wichtig sind, denn sie kennen ihre Patienten.“ Weil es bis dato keine kausale Therapie gibt und vor allem symptomorientiert behandelt wird, ist eine Zusammenarbeit unterschiedlicher Fachrichtung sehr wichtig.
Rehabilitationsmaßnahmen zeigten einen „gewissen Benefit“, so Hallek. Aber: Patienten mit Fatigue müssen ganz anders rehabilitiert werden (Pacing, reduzierte Trainingsintensität) als beispielsweise Patienten mit schweren kardiovaskulären Symptomen, die von leichtem Training profitieren.
„Hier müssen die medizinische Versorgungsebene und die Forschung eng zusammenarbeiten und auch eine rasche Translation von Forschungsergebnissen in die medizinische Versorgung sicherstellen“, forderte Reinhardt.
Sozialmedizinische und wirtschaftliche Folgen von „erheblichem Ausmaß“
Verbesserungsbedarf sieht Hallek auch im Hinblick auf die interdisziplinäre und sektorenverbindende Betreuung der Betroffenen: „Angesichts der hohen Zahl von PCS-Patienten und der Vielfältigkeit des Krankheitsbildes sollten differenzierte, regional vernetzte Behandlungskapazitäten aufgebaut werden.“
Hallek schlug vor, bestehende Strukturen zu nutzen, gestuft auszubauen und zu qualifizieren. Dazu gehört, dass die Rehabilitation Teil der Versorgungslandschaft sein sollte. Post-COVID-Ambulanzen hätten sich an vielen Orten bewährt, sagte Hallek. Reinhardt regte an, Post-COVID-Ambulanzen auszubauen.
Die Stellungnahme widmet sich auch dem Aspekt, dass PCS nicht nur die Betroffenen selbst belastet. Die Autoren weisen darauf hin, dass die sozialmedizinischen und wirtschaftlichen Folgen noch gar nicht zu überblicken sind. Sie vermuten, dass diese von „erheblichem Ausmaß“ sind. Dazu tragen z.B. Arbeitsunfähigkeit, Ausfälle oder Fehlzeiten in Schule und Ausbildung bei – ebenso wie Berufsunfähigkeit, Produktivitäts- und Arbeitsplatzverlust.
Mit ihrer Stellungnahme richtet sich die BÄK an Ärzte, Patienten, die interessierte Öffentlichkeit und nicht zuletzt die Politik. „Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, politisch aktiv zu werden und die Weichen für den weiteren Umgang mit PCS zu stellen“, unterstreicht Reinhardt. Darauf hätten insbesondere die Betroffenen einen Anspruch, aber auch alle anderen.
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Credits:
Photographer: © Ymgerman
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Post-COVID: Ärztekammer legt „Kompendium der aktuellen Datenlage“ vor und fordert Veränderungen in der Versorgung - Medscape - 13. Okt 2022.
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