Schon Kinder und Jugendliche auf Typ-2-Diabetes screenen? Der USPSTF fehlt Evidenz – aber bei hohem Risiko spricht vieles dafür

Nadine Eckert

Interessenkonflikte

11. Oktober 2022

Diabetes mellitus Typ 2 nimmt auch bei Kindern und Jugendlichen stetig zu – und ist aufgrund der frühen Erkrankung, insbesondere wenn sie lange unerkannt bleibt, oft mit dramatischen Folgen assoziiert. Aber sollten deshalb auch asymptomatische Kinder und Jugendliche auf Typ-2-Diabetes gescreent werden? Die US Preventive Services Task Force (USPSTF) wollte dazu eine neue Empfehlung herausgeben, kommt aber im JAMA zu dem Fazit, dass „die derzeit verfügbare Evidenz nicht ausreicht, um die Vor- und Nachteile eines Screenings auf Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen beurteilen zu können“ [1].

Eigentlich spricht vieles für ein frühzeitiges Screening: Viele der diabetesbedingten Komplikationen, unter denen erwachsene Patienten leiden – Nierenversagen, Amputationen an den Extremitäten und Erblindung – beginnen in der Kindheit. 

Typ-2-Diabetes verrät sich nicht mit offensichtlichen Symptomen

„Der Typ-2-Diabetes ist nicht wie der Typ-1-Diabetes, bei dem der schlagartig auftretende Insulinmangel gut erkennbare Symptome verursacht“, sagt PD Dr. Thomas Kapellen, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft pädiatrische. Diabetologie der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG). 

Im Gespräch mit Medscape erklärt der Chefarzt der Pädiatrie an der MEDIAN Kinderklinik „Am Nicolausholz“ Bad Kösen: „Der Typ-2-Diabetes verläuft schleichend. Wenn man abwartet, bis jemand Symptome zeigt, kann man davon ausgehen, dass oft bereits lange hohe Blutzucker und im schlimmsten Fall deshalb schon Folgeschäden bestehen.“

 
Typ-2-Diabetes verläuft schleichend. Wenn man abwartet, bis jemand Symptome zeigt, kann man davon ausgehen, dass oft bereits lange hohe Blutzucker und im schlimmsten Fall deshalb schon Folgeschäden bestehen. PD Dr. Thomas Kapellen
 

Zunahme von Adipositas und Typ-2-Diabetes auch im Jugendalter

Und die Zeiten, in denen Typ-2-Diabetes noch ein reiner „Altersdiabetes“ war, sind lange vorbei. Heute ist er auch in jüngeren Jahren auf dem Vormarsch. In den USA zeigen Studiendaten eine Zunahme der Inzidenz an Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen von 9 Fällen pro 100.000 in 2002/2003 auf 13,8 Fälle pro 100.000 in 2014/2015. Der Großteil des Anstiegs ist bei amerikanischen Ureinwohnern, Schwarzen sowie Kindern und Jugendlichen mit hispanischen Wurzeln zu beobachten.

Noch ist in Deutschland Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen seltener als in den USA. „Momentan erkranken in Deutschland jedes Jahr etwa 170 Jugendliche neu an Typ-2-Diabetes“, sagt Kapellen. „Aber die Tendenz ist steigend, und es gibt vermutlich eine hohe Dunkelziffer.“

Dürftige Evidenz: Nur 8 geeignete Publikationen

Um herauszufinden, ob ein Screening auf Prädiabetes und Typ-2-Diabetes in jungen Jahren sinnvoll wäre, gab die USPSTF einen systematischen Review der Evidenz in Auftrag [2]. Doch Dr. Daniel E. Jonas vom RTI International-University of North Carolina at Chapel Hill Evidence-based Practice Center und seine Kollegen fanden bei einer Literatursuche gerade einmal 8 geeignete Publikationen zu dem Thema. Sie umfassten 856 Teilnehmer im Alter von 10 bis 17 Jahren. Und 6 der Publikationen basierten auf einer einzigen Studie, der Treatment Options for Type 2 Diabetes in Adolescents and Youth (TODAY)-Studie. 

„Keine der Studien untersuchte direkt den möglichen Nutzen oder Schaden eines Screenings auf Typ-2-Diabetes und Prädiabetes auf den gesundheitlichen Outcome von asymptomatischen Kindern und Jugendlichen“, schreibt die USPSTF.

Potenzieller Nutzen eines Screenings wurde nie direkt untersucht

Es gab 2 randomisiert-kontrollierte Studien, aus denen sich Schlüsse zu einem möglichen Nutzen einer frühzeitigen Behandlung eines Typ-2-Diabetes bei Kindern ziehen ließen.

In der TODAY-Studie wurde bei 699 adipösen Jugendlichen (im Schnitt 14 Jahre alt), bei denen kürzlich Typ-2-Diabetes diagnostiziert worden war, eine Behandlung mit Metformin, Metformin plus Rosiglitazon oder Metformin plus Lebensstilintervention untersucht. Es gab keine Unterschiede hinsichtlich des Auftretens von diabetischer Ketoazidose und Nierenschädigung – die insgesamt sehr selten waren.

In einer anderen randomisiert-kontrollierten Studie mit 75 Jugendlichen (im Schnitt 13 Jahre alt) mit Adipositas und Prädiabetes wurde eine intensive Lebensstilintervention mit der Standardtherapie verglichen. Sie berichtete, dass in keiner der beiden Gruppen ein Teilnehmer Diabetes entwickelte – wobei die Nachbeobachtung nur über 6 Monate lief.

Grundsätzlich könnte ein Screening auch Nachteile haben. Die Task Force nennt hier zum Beispiel eine potenzielle Übertherapie, speziell da „22 bis 52% der Kinder und Jugendlichen ohne Intervention über 6 bis 24 Monate wieder zu normaler Glykämie oder normaler Glukosetoleranz zurückkehren“.

Magere Evidenz deutet auf wenig negative Konsequenzen hin

Auch hinsichtlich potenzieller negativer Auswirkungen von Interventionen gab es nur 2 randomisiert-kontrollierte Studien, die Jugendliche mit kürzlich diagnostiziertem Diabetes untersuchten. In der TODAY-Studie hatten weniger als 1% der Teilnehmer eine schwere Hypoglykämie. Leichte Hypoglykämien waren häufiger bei Jugendlichen, die mit Metformin plus Rosiglitazon behandelt wurden, als bei denjenigen, die Metformin oder Metformin plus Lebensstilintervention erhielten. In einer 16-wöchigen Studie, die Metformin gegen Placebo verglich, wurden überhaupt keine Hypoglykämien, die Fremdhilfe erforderten, berichtet.

In beiden Studien waren gastrointestinale Beschwerden häufig, wobei Metformin plus Rosiglitazon mit mehr Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen assoziiert war als die Metformin-Monotherapie und Metformin mehr solche Beschwerden verursachte als Placebo.

USPSTF sieht sich nicht imstande, eine Empfehlung abzugeben

Basierend auf der mageren Evidenz kommt die USPSTF zu dem Schluss, dass der Effekt von Screening, Früherkennung und Behandlung von Typ-2-Diabetes auf die gesundheitlichen Outcomes von Kindern und Jugendlichen zum aktuellen Zeitpunkt nicht ermittelt werden kann, weshalb auch keine Empfehlung möglich sei.

Dies gilt der USPSTF zufolge auch für Kinder und Jugendliche mit Risikofaktoren wie zum Beispiel Adipositas. Stattdessen „fordert sie mehr Studien zum Nutzen und Schaden eines Screenings auf Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen, inklusive derer, die ein erhöhtes Risiko haben könnten.“

Das Erkrankungsrisiko des Patienten muss eine Rolle spielen

In einem Editorial bezeichnen Dr. Amy S. Shah und ihre Koautoren die Position der USPSTF, eine Empfehlung weder für noch gegen ein Screening auf Prädiabetes bei asymptomatischen Kindern und Jugendlichen abzugeben, als „stichhaltig“ [3]. Die Frage nach dem Wert eines Screenings auf Typ-2-Diabetes bei Jugendlichen mit hohem Risiko sei aber „eine etwas größere Herausforderung“.

Zwar zeigen Studien, dass ein Screening auf Typ-2-Diabetes auch bei Jugendlichem mit hohem Risiko nur eine geringe Ausbeute erzielt: In den USA identifizierte ein Screening auf Typ-2-Diabetes – basierend auf Nüchternglukose und oralem Glukosetoleranztest – bei Jugendlichen mit hohem Risiko bei weniger von 1% von ihnen einen Typ-2-Diabetes.

„Doch wenn bei Jugendlichen ein Typ-2-Diabetes identifiziert wird, dann ist er mit einem schnelleren Rückgang der Betazellen sowie einem früheren Auftreten von Komorbiditäten und Komplikationen verbunden als bei Erwachsenen“, ergänzt Shah. In der TODAY-Studie hatten 60% der untersuchten Jugendlichen bis zum 26. Lebensjahr mindestens eine mikrovaskuläre Folgeerkrankung entwickelt. 

 
Wenn bei Jugendlichen ein Typ-2-Diabetes identifiziert wird, dann ist er mit einem schnelleren Rückgang der Betazellen sowie einem früheren Auftreten von Komorbiditäten und Komplikationen verbunden als bei Erwachsenen. Dr. Amy S. Shah
 

Potenzieller Schaden durch nicht erkannten Typ-2-Diabetes spricht für Screening

„Es gibt zwar kaum Evidenz dafür, dass eine frühe Diagnose von Prädiabetes bei Jugendlichen einen Nutzen hat, aber eine präsymptomatische Identifikation und Behandlung von Typ-2-Diabetes in dieser Altersgruppe könnte einen Nutzen haben“, so Shah. 

 
Eine präsymptomatische Identifikation und Behandlung von Typ-2-Diabetes in dieser Altersgruppe [bei Jugendlichen] könnte einen Nutzen haben. Dr. Amy S. Shah
 

Auch Fachgesellschaften machen hier einen klaren Unterschied: Anders als die USPSTF gibt es sowohl von der American Diabetes Association als auch der Deutschen Diabetes Gesellschaft sehr wohl Empfehlungen zum Screening auf Typ-2-Diabetes bei Kindern und Jugendlichen mit hohem Risiko.

Fachgesellschaft empfiehlt Screening bei Vorliegen von Risikofaktoren

„Die Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft für Kinder und Jugendliche empfiehlt, bei Risikopatienten ein Screening durchzuführen“, sagt Kapellen. 

 
Die Leitlinie der Deutschen Diabetes Gesellschaft für Kinder und Jugendliche empfiehlt, bei Risiko-patienten ein Screening durchzuführen. PD Dr. Thomas Kapellen
 

In Deutschland sei man Risikopatient, wenn man 2 Risikofaktoren aufweise, zum Beispiel: 

  • einen Body-Mass-Index (BMI) über der 99,5. Perzentile, sprich extreme Adipositas, 

  • Typ-2-Diabetes bei Verwandten 1. bis 2. Grades, 

  • klinische Zeichen einer Insulinresistenz wie Acanthosis nigricans oder 

  • Zugehörigkeit zu einer Gruppe mit erhöhtem Risiko (z.B. Ostasiaten, Afroamerikaner, Hispanier).

„Diese Risikofaktoren stammen aus epidemiologischen Studien“, so Kapellen. Ebenso wie die Daten, die zeigten, dass man als Jugendlicher mit Typ-2-Diabetes viel schneller mikrovaskuläre Folgeerkrankungen entwickelt als ein Gleichaltriger mit Typ-1-Diabetes.

Früh auftretender Typ-2-Diabetes muss früh behandelt werden

Wozu es aber sehr wohl Daten aus randomisiert-kontrollierten Studien gebe – allen voran TODAY – sei dies: „Wenn ein Jugendlicher Typ-2-Diabetes hat, muss er wirklich frühzeitig behandelt werden“, so Kapellen. Die TODAY-Studie zeigte unter anderem, dass Jugendliche mit Typ-2-Diabetes, die gut behandelt wurden und am Anfang ihrer Erkrankung einen guten HbA1c aufwiesen, später ein deutlich geringeres Risiko für eine schlechte Stoffwechseleinstellung und mikrovaskuläre Folgeerkrankungen hatten.

„Das spricht dafür, dass wir frühzeitig wissen müssen, ob jemand Typ-2-Diabetes hat, da es nur selten offensichtliche Symptome gibt“, so Kapellen. Dennoch komme die USPSTF zu dem Schluss, dass es nicht genug Evidenz gebe, um eine Empfehlung bei höherem Risiko auszusprechen. 

 
Wenn ein Jugendlicher Typ-2-Diabetes hat, muss er wirklich frühzeitig behandelt werden. PD Dr. Thomas Kapellen
 

Neue Therapieoptionen könnten Risiko-Nutzen-Abwägung künftig verändern

„Meiner Meinung nach sollte man bei Kindern und Jugendlichen mit hohem Risiko screenen, wie es auch die Leitlinien der Fachgesellschaften empfehlen, auch wenn dann nur 1% der Gescreenten einen Typ-2-Diabetes haben“, betonte Kapellen. 

 
Meiner Meinung nach sollte man bei Kindern und Jugendlichen mit hohem Risiko screenen, … auch wenn dann nur 1% der Gescreenten einen Typ-2-Diabetes haben. PD Dr. Thomas Kapellen
 

Dies gelte insbesondere heute, wo es GLP-1-Agonisten wie Liraglutid gebe, die auch bei Jugendlichen zugelassen seien, und mit denen sich – bisher bei Erwachsenen – beeindruckende Erfolge bei der Gewichtsreduktion und der Prävention kardiovaskulärer und renaler Komplikationen erzielen ließen.

Fanden Sie diesen Artikel interessant? Hier ist der  Link  zu unseren kostenlosen Newsletter-Angeboten – damit Sie keine Nachrichten aus der Medizin verpassen.

 

Kommentar

3090D553-9492-4563-8681-AD288FA52ACE
Wir bitten darum, Diskussionen höflich und sachlich zu halten. Beiträge werden vor der Veröffentlichung nicht überprüft, jedoch werden Kommentare, die unsere Community-Regeln verletzen, gelöscht.

wird bearbeitet....