Fall: Ein schwerhöriger Demenz-Patient mit Volksliedern und Kinderreimen im Ohr – was steckt dahinter? 

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

10. Oktober 2022

Halluzinationen sind ein Phänomen, für das es viele Ursache gibt. Bei dem Mann, um dessen Krankengeschichte es hier geht, war die Ursache seiner auditorischen Halluzinationen eine neurodegenerative Hirnerkrankung, und zwar die Lewy-Body-Demenz. Ungewöhnlich an seiner Krankengeschichte waren aber weder die auditorischen Halluzinationen noch deren Ursache, sondern etwas anderes [1].

Der Patient und seine Geschichte

Der 71-jährige Mann klagte seit 2 Jahren über Gedächtnisstörungen und Ruhetremor der rechten oberen Extremität. Anamnestisch litt er an Hypertonie und Diabetes mellitus, Angina pectoris, obstruktiver Schlafapnoe, benigner Prostatahyperplasie und schweren Depressionen. Außerdem hatte er eine Kataraktoperation am linken Auge hinter sich und war schwerhörig. 

Körperliche und apparative Untersuchungen

Die Untersuchung ergaben einen Parkinsonismus, eine Hypoakusie sowie Defizite bei den exekutiven Funktionen (Trail Making Test B) und bei Gedächtnistests, und zwar beim logischen Gedächtnis (Geschichten aus der Wechsler-Gedächtnisskala), beim assoziativen Lernen (Wortpaare) und beim Lernen von Wortlisten (California Verbal Learning Test). Andere kognitive Funktionen blieben erhalten. Der Patient hatte leichte depressive Symptome. 

Computertomographie und Kernspintomographie des Gehirns zeigten eine leichte kortikale und subkortikale Atrophie. Es wurde die klinische Diagnose einer möglichen Demenz mit Lewy-Körperchen (DLB) gestellt. 

Seine Medikation: Propranolol 10 mg 2-mal täglich, Metformin 700 mg 2-mal täglich, Dutasterid 0,5 mg täglich, eine Kombination aus Levodopa 100 mg und Benserazid 25 mg 2-mal täglich, Paroxetin 20 mg 2-mal täglich und Lorazepam 2,5 mg (nachts) sowie Rivastigmin (transdermales Pflaster, 4,6 mg/24 Stunden). 

Verlauf, Diagnose und Therapie

5 Jahre später begann der Patient über auditive Halluzinationen zu klagen; er hörte Volkslieder, Kinderreime, bekannte religiöse Lieder und sogar einen populären Fußball-Fangesang. Diese Lieder waren ständig präsent und wurden nur bis zu einem gewissen Grad durch Umgebungsgeräusche abgeschwächt. 

Der Patient war darüber etwas aufgeregt und wünschte sich Erleichterung, schrieb den Symptomen aber keine beängstigende oder verfolgende Bedeutung zu. Bevor die musikalischen Halluzinationen auftraten, waren weder Levodopa, Rivastigmin, Antidepressiva noch andere Medikamente verändert worden. Wegen der auditiven Symptome suchte der Mann einen Facharzt für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde auf, der einen altersbedingten Hörverlust diagnostizierte und beidseitige Hörgeräte verschrieb. 

Bemerkenswerterweise verschwanden die musikalischen Halluzinationen, als der Mann die beiden Hörgeräte trug; er klagte nur noch über ein pfeifendes Geräusch im Ohr. Selbst als er die Hörgeräte vorübergehend entfernte, blieben die Lieder aus. 

Halluzinationen hatte der Patient jedoch weiterhin, allerdings nicht mehr auditorische, sondern plötzlich erstmals visuelle: Überall sah er kleine Spinnen. 

Es wurde eine Behandlung mit Clozapin (6,25 mg täglich) eingeleitet, die zu einem Rückgang der visuellen Halluzinationen führte. Leider verschlechterte sich der Allgemeinzustand des Patienten, so dass er in ein Pflegeheim kam, wo er 1 Jahr später starb.

Den Angaben der Autoren zufolge ist die unmittelbare Verlagerung von Halluzinationen von einer Sinnesmodalität zu einer anderen Sinnesmodalität bei verbesserter Wahrnehmung bisher noch nicht beschrieben worden.

Wann treten musikalische Halluzinationen auf? 

Musikalische Halluzinationen sind eine besondere Art von auditorischen Halluzinationen, bei denen Patienten Instrumentalmusik, musikalische Klänge oder Lieder wahrnehmen. Die Halluzinationen wurden nach dem britischen Neurologen und Autor des Buches Musicophilia als Oliver-Sacks-Syndrom bezeichnet. Sie können verschiedene Ursachen haben, etwa psychiatrische Störungen, fokale Hirnläsionen, Epilepsie und Intoxikation.

Diese werden auch mit erworbenem Hörverlust in Verbindung gebracht, insbesondere bei älteren Menschen. Unter den Bedingungen eines verminderten auditorischen Inputs werden wahrnehmungstragende Schaltkreise enthemmt und Wahrnehmungsspuren freigesetzt, was auf eine Wechselwirkung zwischen peripheren sensorischen Defiziten und zentralen Faktoren im Zusammenhang mit einer Hirnfunktionsstörung hindeutet. Musikalische Halluzinationen können sich verbessern, wenn ein Hörverlust durch eine Cochlea-Implantation behoben wird. Allerdings kann das Verfahren paradoxerweise diese Halluzinationen auch auslösen oder verschlimmern.

Die Autoren empfehlen, die sensorischen Defizite der Patienten zu verbessern; Patienten und Betreuer sollten jedoch darauf hingewiesen werden, dass die Verbesserung einer sensorischen Modalität zur Reduktion von Halluzinationen zu Halluzinationen in einer anderen sensorischen Modalität führen kann.

Dieser Beitrag ist im Original erschienen bei Univadis.de.

 

Kommentar

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