Potsdam – „Entscheidend is´ auf´m Platz.“ Diese alte Fußballerweisheit kann man auch auf die medizinische Versorgung anwenden. Denn was nützt es den Patientinnen und Patienten, wenn die Ergebnisse klinischer Forschung nicht unter realen Bedingungen verifiziert werden, also auf dem Wege der Versorgungsforschung?
„Real-World-Evidence, also das Wissen darüber, wie eine medizinische Innovation im Versorgungsalltag, zum Beispiel bei komorbiden Patientinnen und Patienten, älteren oder ganz jungen Menschen wirkt, steht meist noch nicht zur Verfügung“, bedauerte der Münchner Psychiater Prof. Dr. Peter Falkai, Präsident des Deutschen Kongresses für Versorgungsforschung, vor dem diesjährigen Kongress in Potsdam [1].
Nicht alle Innovationen kommen in der Versorgung an
Das verfügbare medizinische Wissen über Innovationen stehe oft nur aus Zulassungsstudien zur Verfügung. Das heißt: Nicht alle Innovationen kommen auch in der Versorgung an, erklärte Falkai und illustrierte seine Analyse an folgenden Zahlen der Behandlung von Patienten von Depressionen: 50% der Patientinnen und Patienten seien gut behandelbar, bei der anderen Hälfte gebe es aber Abstriche. „Das bedeutet, die Patienten können die Lebensziele, die sie sich vorgenommen haben, nicht erfüllen. Einer von zweien – das ist ein Wort!“
Ein Drittel der Patienten komme mit der Erkrankung überhaupt nicht zurecht. 10% entwickeln sogar eine chronische Form der Depression. „Warum stecken wir mit unseren Behandlungsoptionen fest?“, fragte Falkai.
Man müsse mehr nach der Relevanz der Erkrankungen für die einzelnen Patienten fragen, forderte der Psychiater. Was bedeutet eine Depression für den Betroffenen? „Die Versorgungsforschung kann ermitteln, was getan werden muss, um die Lebenssituation der Patienten zu verbessern“, sagte Falkai. Versorgungsforschung habe die Methoden, um den klinischen Forscher etwas besser zu lenken.
Versorgungsforschung ohne Ausschluss von Patienten
Um zu ermitteln, wie wirksam eine Behandlung ist, greift die Medizin zu Metaanalysen, die die Ergebnisse mehrerer randomisiert-kontrollierter klinischer Studien (RCT) zusammenfassen. Darauf wies Prof. Dr. Christoph Corell hin, Psychiater an der Berliner Charité.
Eine eigene Studie ergab, dass sich zum Beispiel beim Vergleich mehrerer Metaanalysen der Zusatzbehandlung von Schizophrenie herausstellte, dass 14 verschiedene Therapien wirksamer als die Placebos waren. „Aber keine dieser Therapien wurde auch eingesetzt, obwohl man doch (…) annehmen sollte, dass der Beweis für deren Wirksamkeit erbracht war“, so Corell. So bleibt medizinisches Wissen auf der Strecke.
Bei den klinischen randomisierten Studien versucht man aus den Studien alles rauszuhalten, was die Vergleichbarkeit trüben könnte: Bestimmte Altersgruppen und Komorbiditäten werden ausgeschlossen, ebenso Patienten mit Komedikation oder physischen Erkrankungen. Da brauche man die Versorgungsforschung, die all diese Patienten einschließt, um tragfähige Ergebnisse aus der Forschung zu erhalten.
Versorgungsforschung und klinische Studien müssten Hand in Hand gehen, so Corell. „Um Therapieeffekte auch in diesen häufigen und klinisch hoch relevanten Patientengruppen untersuchen zu können, ist die Versorgungsforschung ein zentrales Instrument, deren Ergebnisse den randomisiert generierten Daten komplementär zur Seite gestellt werden sollten.“
Die Patientinnen und Patienten einbeziehen
Versorgungsforschung sei auch in der Onkologie dringend nötig. „Denn es darf doch nicht sein, dass 80% der Patienten für eine bestimmte Fragestellung ausgeschlossen werden“, sagte Prof. Dr. Monika Klinkhammer-Schalke, Vorstandsvorsitzende des Deutschen Netzwerks Versorgungsforschung. „Wir haben in der Onkologie zum Teil randomisierte Studien, die alte oder multimorbide Patienten ausschließen. „Da müssen wir eine gute Evidenzgrundlage bekommen, so dass wir auch außerhalb randomisierter Studien – sei es in Kohorten oder in anderen versorgungsnahen Studien – Evidenz generieren können“, sagte die Onkologin.
Zwar solle bei der Forschung auch die Patientenperspektive mit eingeschlossen werden, schließlich wolle die Versorgungsforschung medizinische Behandlung unter Alltagsbedingungen untersuchen. Aber diese Perspektive sei „immer noch nicht selbstverständlich“, sagte Dr. Anna-Levke Brütt, Versorgungsforscherin an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg.
Leider gehe die Forschung oft an den Interessen der Patienten vorbei. Patienten wünschen sich zum Beispiel oft, dass die Forschung auch psychosoziale Interventionen untersucht werden, die aber selten Gegenstand der Forschung sein. Interessant sei, welche Outcomes die Patientinnen und Patienten für eine Behandlung sehen. „Wir haben in einer Studie festgestellt, dass zum Beispiel Autonomie oder die Integration eine Behandlung in den Alltag den Patienten besonders wichtig sind“, sagte Brütt. Aber wie man z.B. Autonomie messen kann, sei noch völlig unklar.
Förderanträge würden inzwischen auch dahingehend geprüft, ob die Patientenperspektive berücksichtigt wird. Entsprechend habe sich in Deutschland die partizipative Versorgungsforschung weiterentwickelt, sagt Brütt.
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Credits:
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Diesen Artikel so zitieren: Grau ist alle Theorie: Wenn Ergebnisse klinischer Studien nicht in der Praxis ankommen – oder sich dort nicht bewähren - Medscape - 5. Okt 2022.
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