Der Nobelpreis für Physiologie oder Medizin 2022 geht an Prof. Dr. Svante Pääbo für seine Arbeiten zu den Genomen ausgestorbener Homininen und für neue Erkenntnisse zur menschlichen Evolution. Er gilt als Begründer der Paläogenetik [1,2]. Pääbo forscht am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie Leipzig sowie an der Universität Leipzig. Seine Forschungen zeigten u.a. auch, dass archaische Gensequenzen unserer ausgestorbenen Verwandten die Physiologie des heutigen Menschen beeinflussen.

Prof. Dr. Svante Pääbo
© Karsten Möbius / MPI für evolutionäre Anthropologie
Pääbo hat „mit seiner bahnbrechenden Forschung etwas scheinbar Unmögliches geschafft“, heißt es in der online übertragenen Laudatio. Dem Forscher ist die Sequenzierung des Genoms des Neandertalers, eines ausgestorbenen Verwandten des heutigen Menschen, gelungen. Außerdem entdeckte er den zuvor unbekannten Homininen Denisova.
Pääbo fand auch heraus, dass ein Gentransfer von diesen ausgestorbenen Homininen auf Homo sapiens stattgefunden hat, nachdem frühe Menschen vor etwa 70.000 Jahren aus Afrika ausgewandert waren. „Dieser Befund ist bis heute von Bedeutung, weil er zum Beispiel die Reaktion unseres Immunsystems auf Infektionen erklärt“, so die Nobel Foundation.
Pääbos Arbeiten führten zur Entstehung einer völlig neuen wissenschaftlichen Disziplin, der Paläogenomik. „Durch die Aufdeckung genetischer Unterschiede, die Menschen von ausgestorbenen Homininen unterscheiden, bilden seine Entdeckungen die Grundlage für die Erforschung dessen, was uns zu einzigartigen Menschen macht“, heißt es in der Laudatio.
Ein scheinbar unlösbares Rätsel der Evolution
Zum Hintergrund: Frühere Forschungsansätze haben gezeigt, dass der moderne Mensch (Homo sapiens) erstmals vor 300.000 Jahren in Afrika aufgetaucht ist. Unsere nächsten Verwandten, die Neandertaler, haben sich außerhalb Afrikas entwickelt und Europa bzw. Westasien von etwa 400.000 Jahren bis vor 30.000 Jahren bevölkerten. Dann sind sie ausgestorben.
Vor etwa 70.000 Jahren wanderten Gruppen von Homo sapiens von Afrika in den Nahen Osten und verbreiteten sich von dort aus weltweit. Homo sapiens und Neandertaler lebten also in weiten Teilen Eurasiens über Zehntausende von Jahren zeitgleich.
Doch was wissen wir über unsere Beziehung zu den ausgestorbenen Neandertalern? Anhaltspunkte könnten sich aus genomischen Informationen ergeben. Ende der 1990er-Jahre war fast das gesamte menschliche Genom sequenziert worden. „Dies war eine beachtliche Leistung, die spätere Studien über die genetischen Beziehungen zwischen verschiedenen menschlichen Populationen ermöglichte“, schreibt die Nobel Foundation.
Um die Verwandtschaft zwischen dem heutigen Menschen und dem ausgestorbenen Neandertaler zu untersuchen, wäre die Sequenzierung von genomischer DNA aus alten Proben erforderlich gewesen. Doch das ist leichter gesagt als getan.
Mit der Genetik evolutionäre Zusammenhänge erkennen
Schon früh in seiner Karriere war Pääbo von der Möglichkeit fasziniert, DNA der Neandertaler mit modernen genetischen Methoden zu untersuchen. Schon bald stieß der Forscher jedoch auf extreme technische Herausforderungen, denn die DNA verändert sich im Laufe der Jahrtausende chemisch; sie zerfällt in kurze Fragmente. Schließlich sind nur noch Spuren von DNA vorhanden, die womöglich mit der DNA anderer Organismen kontaminiert sind.
Als Postdoktorand bei Allan Wilson (University of California, Berkeley), einem Pionier auf dem Gebiet der Evolutionsbiologie, begann Pääbo mit der Entwicklung von Methoden zur Untersuchung der DNA von Neandertalern: einem Forschungsprojekt, das mehrere Jahrzehnte in Anspruch nahm.
Im Jahr 1990 wurde Pääbo an die Universität München berufen, wo er seine Arbeit an archaischer DNA fortsetzte. Er beschloss, die DNA von Mitochondrien der Neandertaler zu analysieren. Das mitochondriale Genom ist klein und enthält nur einen Bruchteil der genetischen Information einer Zelle, aber es ist in Tausenden Kopien vorhanden, was die Erfolgsaussichten erhöht.
Mit verbesserten Methoden gelang es Pääbo, einen Bereich der mitochondrialen DNA aus einem 40.000 Jahre alten Knochenstück zu sequenzieren. Damit hatten die Forscher erstmals Zugang zu einer Sequenz von einem ausgestorbenen Verwandten. Vergleiche mit heutigen Menschen und Schimpansen zeigten, dass der Neandertaler genetisch anders war.
Die Sequenzierung des Neandertaler-Genoms
Da Analysen des kleinen mitochondrialen Genoms nur begrenzte Informationen lieferten, nahm Pääbo die Herausforderung an, das Kerngenom des Neandertalers zu sequenzieren. Zu dieser Zeit erhielt er das Angebot, ein Max-Planck-Institut in Leipzig zu gründen.
Am Institut verbesserten Pääbo und sein Team kontinuierlich die Methoden zur Isolierung und Analyse von DNA aus archaischen Knochenresten. Das Forschungsteam nutzte neue Technologien, um die Sequenzierung von DNA effizient durchzuführen. Pääbo engagierte auch mehrere Experten aus der Populationsgenetik und der Sequenzanalytik.
Dem Wissenschaftler gelang das scheinbar Unmögliche: Er konnte 2010 die erste Genomsequenz des Neandertalers veröffentlichen. Vergleichende Analysen zeigten, dass der jüngste gemeinsame Vorfahre von Neandertaler und Homo sapiens vor etwa 800.000 Jahren lebte.
Jetzt konnten die Forscher Beziehung zwischen Neandertalern und modernen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt untersuchen. Vergleichende Analysen zeigten, dass die DNA-Sequenzen von Neandertalern den Sequenzen von heutigen Menschen aus Europa oder Asien ähnlicher waren als denen von heutigen Menschen aus Afrika. Dies bedeutet, dass sich Neandertaler und Homo sapiens während ihrer Jahrtausende langen Koexistenz gekreuzt haben. Beim heutigen Menschen europäischer oder asiatischer Abstammung stammen etwa 1 bis 4% des Genoms von den Neandertalern.
Denisova – eine sensationelle Entdeckung
Im Jahr 2008 folgte die nächste bahnbrechende Entdeckung. Wissenschaftler fanden in der Denisova-Höhle im Süden Sibiriens ein 40.000 Jahre altes Fragment eines Fingerknochens. Die DNA war außergewöhnlich gut erhalten, was eine Sequenzierung möglich gemacht hat.
Die DNA-Sequenz war im Vergleich zu allen bekannten Sequenzen von Neandertalern und heutigen Menschen einzigartig. Pääbo hatte einen bisher unbekannten Homininen entdeckt, der den Namen Denisova erhielt. Vergleiche mit Sequenzen von heutigen Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt zeigten, dass es auch zwischen Denisova und Homo sapiens einen Genfluss gegeben hatte. Diese Verwandtschaft wurde erstmals in Populationen in Melanesien und anderen Teilen Südostasiens festgestellt, wo Individuen noch heute bis zu 6% Denisova-DNA tragen.
„Die Entdeckungen von Pääbo haben zu einem neuen Verständnis unserer Evolutionsgeschichte geführt“, heißt es in der Laudatio. Als der Homo sapiens aus Afrika ausgewandert war, existierten mindestens 2 mittlerweile ausgestorbene Homininen-Populationen in Eurasien. Die Neandertaler lebten im Westen Eurasiens, während die Denisovaner die östlichen Teile des Kontinents bevölkerten. Während der Expansion des Homo sapiens außerhalb Afrikas und seiner Wanderung nach Osten traf er nicht nur auf Neandertaler, sondern auch auf Denisovaner und kreuzte sich mit ihnen.
Die Bedeutung der Paläogenomik
„Durch seine bahnbrechenden Forschungen begründete Svante Pääbo eine völlig neue wissenschaftliche Disziplin, die Paläogenomik“, schreibt die Nobel Foundation. Nach den ersten Entdeckungen hat seine Gruppe die Analyse mehrerer weiterer Genomsequenzen von ausgestorbenen Homininen abgeschlossen. „Pääbos Entdeckungen haben eine einzigartige Ressource geschaffen, die von Wissenschaftlern ausgiebig genutzt wird, um die menschliche Evolution und Migration besser zu verstehen.“
Neue, leistungsfähige Methoden zur Sequenzanalyse deuten darauf hin, dass sich auch archaische Homininen in Afrika mit Homo sapiens gekreuzt haben könnten. Bisher wurden jedoch noch keine Genome von ausgestorbenen Homininen in Afrika sequenziert, da sich der Abbau archaischer DNA in tropischem Klima beschleunigt.
In der Laudatio heißt es: „Dank der Entdeckungen von Svante Pääbo wissen wir jetzt, dass archaische Gensequenzen unserer ausgestorbenen Verwandten die Physiologie des heutigen Menschen beeinflussen.“Ein Beispiel dafür sei die denisovanische Version des Gens EPAS1, die einen Vorteil für das Überleben in großen Höhen biete und bei den heutigen Tibetern verbreitet sei. Das Gen EPAS1 wird unter hypoxischen Bedingungen aktiv; es codiert für den Hypoxie-induzierbarer Faktor-2alpha (HIF-2α).
Andere Beispiele seien „Neandertaler-Gene, die unsere Immunreaktion auf verschiedene Arten von Infektionen beeinflussen“, so die Stiftung.
Was macht uns evolutionär so besonders?
Bleibt als Fazit: Der Homo sapiens zeichnet sich durch seine einzigartige Fähigkeit aus, komplexe Kulturen, fortschrittliche Innovationen und figurative Kunst zu schaffen, sowie durch die Fähigkeit, offene Gewässer zu überqueren und sich in alle Teile unseres Planeten auszubreiten.
Neandertaler lebten ebenfalls in Gruppen und hatten große Gehirne. Sie benutzten auch Werkzeuge, die sich jedoch im Laufe von Hunderttausenden von Jahren nur wenig weiterentwickelten. Die genetischen Unterschiede zwischen dem Homo sapiens und unseren nächsten ausgestorbenen Verwandten waren unbekannt, bis sie durch Pääbos Arbeit identifiziert wurden. Seine laufende intensive Forschung konzentriert sich auf die Analyse der funktionellen Auswirkungen dieser Unterschiede mit dem Ziel, zu erklären, was Menschen so einzigartig macht.
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Diesen Artikel so zitieren: Begründer der Paläogenomik erhält Medizin-Nobelpreis 2022: Richtungsweisende Arbeiten zur menschlichen Evolution - Medscape - 4. Okt 2022.
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