Wie sollte eine Therapie des Typ-2-Diabetes aussehen, wenn das First-Line-Medikament Metformin allein nicht mehr ausreicht, um den HbA1c-Wert im Zielbereich zu halten? Eine Antwort auf diese wichtige Frage hatte man sich viele Jahre lang von der GRADE-Studie versprochen. Die wichtigsten Ergebnisse der US-amerikanischen Untersuchung mit mehr als 5.000 Probanden wurden bereits im vergangenen Jahr auf den Kongressen der American Diabetes Association (ADA) und der European Association for the Study of Diabetes (EASD) vorgestellt.
Allerdings war die Auswertung der Daten, insbesondere zu mikro- und kardiovaskulären Ereignissen unter den 4 untersuchten Second-Line-Medikamenten, damals noch nicht abgeschlossen. Im New England Journal of Medicine liefert die GRADE Study Research Group um Prof. Dr. David Nathan die fehlenden Daten jetzt nach [1,2]. Nathan ist Direktor des Clinical Research Center und des Diabetes Center am Massachusetts General Hospital und Professor für Medizin an der Harvard Medical School.
Liraglutid schneidet in dem Vergleich am besten ab
Zusammengefasst lauten die Resultate wie folgt:
Alle 4 untersuchten Medikamente – das Basalinsulin Glargin (100 Einheiten/ml), der GLP-1-Rezeptor-Agonist Liraglutid, der Sulfonylharnstoff Glimepirid und der DPP-4-Inhibitor Sitagliptin – waren in der Lage, den HbA1c-Wert in Kombination mit Metformin zu senken.
Die zu injizierenden Wirkstoffe Glargin und Liraglutid erzielten beim Erreichen und Aufrechterhalten des Wertes jedoch signifikant bessere Ergebnisse als die oralen Arzneien Glimepirid und Sitagliptin.
Keine wesentlichen Unterschiede zwischen den 4 Medikamenten fanden sich bei der Entwicklung von Bluthochdruck oder Dyslipidämie, mikrovaskulären Diabetes-Komplikationen wie Retino-, Nephro- oder Neuropathie oder schweren kardiovaskulären Ereignissen.
Hinweise auf einen leichten Vorteil von Liraglutid gegenüber den 3 anderen Medikamenten waren zu beobachten, wenn die Forscher alle kardiovaskulären Erkrankungen gemeinsam betrachteten.
Eine Schatzkiste voller Daten für weitere Analysen
„Die GRADE-Studie ist eine mit viel Fleiß und großem Aufwand verbundene Untersuchung gewesen, die mit 5 Jahren eine sehr lange Nachbeobachtungszeit hatte und frei von kommerziellen Interessen durchgeführt werden konnte“, kommentiert Prof. Dr. Robert Wagner im Gespräch mit Medscape. Wagner ist Professor für klinisch-diabetologische Stoffwechselforschung an der Medizinischen Fakultät der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf, stellvertretender Leiter der Klinik für Endokrinologie und Diabetologie am Universitätsklinikum Düsseldorf und Leiter des Klinischen Studienzentrums am Deutsches Diabetes Zentrum in Düsseldorf.
„Mit ihrer großen Menge an Daten liefert GRADE eine Schatzkiste für viele weitere wissenschaftliche Analysen, bei der auch die Vor- und Nachteile der 4 Medikamentenklassen für verschiedene Subgruppen von Typ-2-Diabetikern ermittelt werden können“, sagt Wagner.
Zum jetzigen Zeitpunkt sehe es so aus, als seien insbesondere GLP-1-Analoga wie Liraglutid – die unter anderem die Bauchspeicheldrüse anregen, Insulin auszuschütten – für die meisten Typ-2-Diabetiker geeignete und sichere Medikamente, die man mit gutem Gefühl verordnen könne. „Es wurde in der Studie auch einmal mehr gezeigt, dass sich mit diesen Wirkstoffen, die zudem den Appetit und die Magenentleerung hemmen, leichter eine Gewichtsabnahme erzielen lässt, was für viele Patienten einen echten Zusatznutzen darstellt“, sagt Wagner.
SGLT2-Hemmer fehlten in dem Vergleich
Eine der größten Schwächen der GRADE-Studie konnten aber auch die aktualisierten Daten natürlich nicht beseitigen: die Tatsache, dass eine der inzwischen wichtigsten Gruppen von Second-Line-Medikamenten, die SGLT2-Hemmer, nicht mit den anderen Wirkstoffklassen verglichen wurde. Die Resultate von GRADE werden daher von vielen Experten schon jetzt als veraltet bezeichnet.
Auf dem ADA-Kongress im Juli 2021 hatte Nathan erklärt, dass SGLT2-Hemmer beim Typ-2-Diabetes noch nicht voll etabliert gewesen seien, als man 2013 mit der Rekrutierung der Probanden begonnen habe, und man aus Gründen der Patientensicherheit daher zurückhaltend gewesen sei.
Zudem hätte ein 5. Studienarm eine Verdoppelung der Teilnehmerzahl erfordert, was die bereits bestehenden Finanzierungspläne der Studie untergraben hätte, hatte Nathan hinzugefügt. Die datenreiche GRADE-Studie wurde maßgeblich von den US-Gesundheitsbehörden, den National Institutes of Health, finanziert. Die Hersteller der Medikamente hatten lediglich ihre Arzneien den Studienteilnehmern kostenlos zur Verfügung gestellt.
„Natürlich ist es aus heutiger Sicht schade, dass SGLT2-Hemmer, die ja unter anderem einen bewiesenen Zusatznutzen fürs Herz haben, in dem Vergleich fehlen“, sagt Wagner. „Ich hätte sehr gerne gewusst, wo sie in der Reihe der untersuchten Medikamente einzuordnen sind.“
Gleichzeitig könne er die Beweggründe der Forscher, die damals noch recht neuen Wirkstoffe – die eine vermehrte Ausscheidung von Glukose mit dem Urin bewirken – nicht in letzter Minute dazuzunehmen, aber gut nachvollziehen. „Und auch ohne die SGLT2-Hemmer halte ich GRADE – vor allem aufgrund des objektiven Vergleichs und der langen Beobachtungszeit – für eine sehr wertvolle Studie“, betont Wagner.
Auch das Basalinsulin erzielte gute Ergebnisse
Nathan und seine Kollegen hatten für ihre Untersuchung 5.047 Teilnehmer rekrutiert, die seit weniger als 10 Jahren an Typ-2-Diabetes litten, Metformin erhielten und vor Studienbeginn HbA1c-Werte zwischen 6,8% und 8,5% aufwiesen.
Primärer metabolischer Endpunkt war – nach einer erzielten Senkung auf weniger als 7% – ein bestätigter Wiederanstieg des vierteljährlich gemessenen Werts auf 7% oder mehr. Als sekundären metabolischen Endpunkt legten die Forscher einen bestätigten HbA1c-Wert von mehr als 7,5% fest.
Wie sie berichten, unterschied sich die kumulative Inzidenz eines HbA1c-Werts von 7% oder mehr zwischen den 4 Gruppen deutlich:
In der Liraglutid-Gruppe lag die Rate bei 26,1 pro 100 Teilnehmerjahren,
in der Glargin-Gruppe betrug sie 26,5,
in der Glimepirid-Gruppe 30,4 und
in der Sitagliptin-Gruppe 38,1.
Die Differenzen beim Erreichen des sekundären Endpunktes sahen ähnlich aus. Keine wesentlichen Unterschiede fanden sich, wenn die Forscher das Alter, Geschlecht oder die ethnische Zugehörigkeit der einzelnen Gruppen betrachteten.
Unterzuckerungen waren unter Glimepirid am häufigsten
Bei Probanden mit höheren Ausgangswerten schien der Nutzen von Glargin, Liraglutid und Glimepirid größer zu sein als der von Sitagliptin. Schwere Hypoglykämien traten selten auf, waren aber signifikant häufiger unter Glimepirid (bei 2,2% der Teilnehmer) als unter Glargin (1,3%), Liraglutid (1,0%) oder Sitagliptin (0,7%). Patienten, die Liraglutid erhielten, berichteten häufiger über gastrointestinale Nebenwirkungen und verloren mehr Gewicht als die Teilnehmer der anderen Gruppen.
„GRADE hat somit gezeigt, dass sich mit allen 4 Medikamenten der Blutzucker senken lässt, wobei insbesondere Glargin und Liraglutid sehr gut abgeschnitten haben“, fasst Wagner zusammen. „Es hat sich aber auch herausgestellt, dass vor allem die längerfristige glykämische Kontrolle selbst unter strengen Studienbedingungen eine Herausforderung bleibt.“
Ein relativ großer Teil der Probanden – nämlich 60% – habe den angestrebten Zielbereich von weniger als 7%, der allerdings sehr ehrgeizig gewesen sei, in der 5-jährigen Beobachtungszeit nicht halten können. Erfreulich sei jedoch zu sehen, dass sich die Probanden während der langen Studie im Durchschnitt glykämisch nicht verschlechtert hätten, ergänzt Wagner.
Kaum Unterschiede bei vaskulären Komplikationen
Gespannt hatten viele Mediziner auf die erst jetzt vollständig vorgestellten mikro- und kardiovaskulären Ergebnisse der GRADE-Studie gewartet. Das Ergebnis allerdings war für manche wohl eher etwas enttäuschend. „Leider haben sich zwischen den untersuchten Medikamenten kaum Unterschiede herausgestellt“, sagt Wagner.
Der Diabetologe sieht dafür vor allem 2 mögliche Gründe: „Zum einen war der Blutzucker aller Teilnehmer offenbar schon vor und auch während der Studie ziemlich gut eingestellt“, sagt Wagner. Probanden mit einem HbA1c-Wert von mehr als 8,5% seien erst gar nicht rekrutiert worden. „Zum anderen ist für die Entwicklung solcher Komplikationen des Typ-2-Diabetes eine 5-jährige Beobachtungszeit vielleicht immer noch zu kurz“, vermutet Wagner.
Mikro- und kardiovaskuläre Endpunkte der GRADE-Studie waren Bluthochdruck, Dyslipidämie, Albuminurie, eine geschätzte glomeruläre Filtrationsrate (eGFR) von weniger als 60 ml/min, diabetische periphere Neuropathie (bewertet mit dem Michigan Neuropathy Screening Instrument), kardiovaskuläre Ereignisse, MACE (Major adverse cardiac events), Krankenhausaufenthalt wegen Herzinsuffizienz und Tod.
Klare Handlungsempfehlungen stehen noch aus
Wie Nathan und sein Team schreiben, gab es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Interventionen bezüglich der Entwicklung von Hypertonie, Dyslipidämie oder mikrovaskulären Ereignissen. Die mittlere Gesamtrate (Ereignisse pro 100 Teilnehmerjahre) von mäßig erhöhten Albuminurie-Werten betrug 2,6, von stark erhöhten Albuminurie-Werten 1,1, von Nierenfunktionsstörungen 2,9 und von diabetischer peripherer Neuropathie 16,7.
Die Behandlungsgruppen unterschieden sich auch nicht in Bezug auf MACE (major adverse cardiovascular events – schwere kardiale Komplikationen; Gesamtrate 1,0), Krankenhausaufenthalte wegen Herzinsuffizienz (0,4), Tod durch kardiovaskuläre Ursachen (0,3) oder alle Todesfälle (0,6).
Geringe Unterschiede gab es nur bei den Raten sämtlicher kardiovaskulärer Erkrankungen mit 1,4 in der Liraglutid-Gruppe, jeweils 1,9 in der Glargin- und Glimepirid-Gruppe sowie 2 in der Sitagliptin-Gruppe.
„Größere Unterschiede werden sich aber vielleicht noch finden, wenn verschiedene Subgruppen der GRADE-Probanden nun in Folgestudien getrennt voneinander betrachtet werden“, sagt Wagner. Er sei jedenfalls überzeugt, dass GRADE in Zukunft noch eine Vielzahl relevanter Informationen für Ärzte und Patienten bereithalte. „Momentan lassen sich noch keine klaren Handlungsempfehlungen aus der Studie ableiten“, sagt er. Das werde sich aber wahrscheinlich in nicht allzu ferner Zeit ändern.
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Credits:
Photographer: © Natal'ya Buzuevskaya
Lead image: Dreamstime.com
Medscape Nachrichten © 2022
Diesen Artikel so zitieren: Vierfachvergleich der GRADE-Studie: Glargin und Liraglutid behaupten sich als Zweitlinien-Medikamente für Typ-2-Diabetes - Medscape - 4. Okt 2022.
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