Wenig Evidenz, viel Geld: Patienten mit Long-COVID suchen verzweifelt Hilfe – und geraten an Scharlatane

Hallie Levine

Interessenkonflikte

30. September 2022

Die 49-jährige Unternehmerin Maya McNulty war eine der ersten COVID-19-Patientinnen der USA. Die Geschäftsfrau aus dem Ort Schenectady im Bundesstaat New York verbrachte 2 Monate im Krankenhaus, nachdem sie sich im März 2020 infiziert hatte. In diesem September wurde bei ihr jetzt Long-COVID diagnostiziert.

„Selbst eine simple Tätigkeit wie das Ausräumen der Spülmaschine wurde zu einer großen Herausforderung“, sagt sie.

In den folgenden Monaten suchte McNulty eine Reihe von Ärzten aus den Fachgebieten Neurologie, Pulmologie und Kardiologie auf. Sie erhielt monatelang Physiotherapie und Atemtherapie, um ihre Kraft und die Lungenfunktion wiederzuerlangen. Viele der Konsultierten hatten auch Verständnis für das, was sie durchmachte, aber nicht alle.

„Ich war bei einer Neurologin, die mir ins Gesicht sagte, sie glaube nicht an Long-COVID“, erinnert sie sich. „Das war besonders erstaunlich, da die Klinik, in der sie arbeitete, eine Long-COVID-Station hatte.“

 
Ich war bei einer Neurologin, die mir ins Gesicht sagte, sie glaube nicht an Long-COVID. Maya McNulty
 

Austausch mit anderen Betroffenen 

McNulty begann, sich mit anderen Long-COVID-Betroffenen über eine Selbsthilfegruppe, die sie Ende 2020 über die Social-Media-App Clubhouse ins Leben rief, zu vernetzen. Patienten tauschten sich darüber ausgetauscht, was geholfen hatte und was andere ausprobieren wollten. Dies veranlasste McNulty dazu, im Laufe des folgenden Jahres u.a. auf vegetarische Kost umzusteigen, chinesische Medizin zu versuchen und Vitamin-C-Präparate einzunehmen.

Auf Laienseiten fand sie Hinweise, dass manche Asthmapatienten mit chronischem Husten gut auf die Trockensalztherapie (Halotherapie) ansprachen, bei der die Erkrankten mikroskopisch kleine Salzpartikel inhalieren, um Entzündungen zu lindern. Ziel ist, die Atemwege zu erweitern und den Schleim zu lösen. Sie wendet dieses Verfahren seit über einem Jahr in einer wohnortnahen Klinik an und ist überzeugt, dass es gegen ihren chronischen Husten hilft, vor allem, während sie sich von ihrer 2. COVID-19-Infektion erholte.

Viel Geld, wenig Evidenz

Eine solche Behandlung ist nicht billig – pro halbstündige Sitzung können bis zu 50 US-Dollar fällig werden, die nicht von ihrer Versicherung übernommen werden. Laut Cleveland Clinic existieren keine belastbaren Evidenzen, die diese Behandlung gegen Long-COVID rechtfertigen.

McNulty versteht das, sagt aber, dass viele Menschen, die mit Long-COVID leben müssten, diese Behandlungen aus einem Gefühl der Verzweiflung heraus in Anspruch nehmen.

„Wenn es um Long-COVID geht, müssen wir gewissermaßen unsere eigenen Anwälte sein. Die Menschen sind so verzweifelt und fühlen sich von Ärztinnen und Ärzten, die ihren Symptomen keinen Glauben schenken, so sehr im Stich gelassen, dass sie mit ihrem Körper russisches Roulette spielen“, sagt sie. „Die meisten wollen einfach nur Hoffnung haben und suchen nach Möglichkeiten, ihre Beschwerden und Schmerzen zu lindern.“

 
Die Menschen sind so verzweifelt und fühlen sich von Ärztinnen und Ärzten, die ihren Symptomen keinen Glauben schenken, so sehr im Stich gelassen, dass sie mit ihrem Körper russisches Roulette spielen. Maya McNulty
 

Mehr und mehr Betroffene 

Laut Analysen des Census Bureau aus dem Jahr 2022 durch die unabhängige Forschungs- und Bildungsorganisation „Brookings Institution“ leiden USA-weit 16 Millionen Amerikaner unter Long-COVID. In dem Bericht wird auch geschätzt, dass bis zu einem 25% von ihnen so stark beeinträchtigende Symptome haben, dass sie nicht mehr arbeiten können. 

Die Zahl der tatsächlich Betroffenen ist auch in Deutschland aufgrund der diagnostischen Schwierigkeiten nur schwer zu fassen. In einem großen Review schwankt der Anteil der betroffenen Erwachsenen, die einen Verlauf ohne Hospitalisierung hatten, hierzulande zwischen 7,5% und 41%, Nach einer Hospitalisierung erleben offenbar 37,6% gesundheitliche Langzeitfolgen. 

Long-COVID-Zentren können zwar symptomatische Therapien anbieten, doch „existiert gegenwärtig keine evidenzbasierte etablierte Behandlung gegen Long-COVID“, sagt Prof. Dr. Andrew Schamess, Professor für Innere Medizin am Ohio State Wexner Medical Center, der das Post-COVID-Recovery-Programm leitet. „Man kann es den Erkrankten nicht verübeln, dass sie nach alternativen Mitteln suchen, die ihnen helfen. Leider gibt es aber auch eine Menge Leute, die mit unbewiesenen oder widerlegten Therapien Geld verdienen wollen.“

 
Gegenwärtig existiert keine evidenzbasierte etablierte Behandlung gegen Long-COVID. Prof. Dr. Andrew Schamess
 

Welche „Therapien“ bieten Quacksalber an?

Da es nur wenige evidenzbasierte Behandlungsansätze gegen Long-COVID gibt, können Betroffene, die keine Hilfe finden, auch versucht sein, sich unbewiesenen Methoden zuzuwenden. Ein Ansatz, der viel Aufmerksamkeit erregt hat, ist die hyperbare Sauerstofftherapie. Diese Methode wird traditionell zur Behandlung von Tauchern eingesetzt, die unter der Dekompressionskrankheit (Caisson-Krankheit) leiden. Manche Kliniken preisen sie auch als wirksame Behandlung bei Long-COVID an.

Eine sehr kleine Studie mit 73 Long-COVID-Kranken wurde im Juli dieses Jahres in Scientific Reports veröffentlicht. Es ging darin um Personen, die über 2 Monate 5-mal wöchentlich in einem Hochdruck-Sauerstoffsystem behandelt wurden. Als Kontrollgruppe dienten vergleichbar betroffene Personen, die eine Scheinbehandlung erhielten. Demnach zeigten sich Verbesserungen beim Brain Fog (Gehirnnebel), bei Schmerzen, beim Antrieb und bei der Energie, beim Schlaf, bei Angst und bei Depressionen. Hier sind für Schamess jedoch größere Studien erforderlich, um diesen Hinweis zu bestätigen.

„Diese Anwendung ist mit etwa 120 US-Dollar pro Sitzung sehr teuer und es gibt einfach nicht genügend Evidenzen, um ihre Anwendung zu unterstützen“, sagt er. In Deutschland liegen die Kosten bei den wenigen Anbietern auch schonmal bei 280 Euro pro „Tauchfahrt“.

Außerdem birgt die Therapie selbst Risiken wie Ohren- und Nasennebenhöhlenschmerzen, Mittelohrverletzungen, vorübergehende Sehstörungen und in sehr seltenen Fällen einen Lungenkollaps, so die FDA.

Eine „besonders beunruhigende“ Behandlung, die angeboten werde, sei die Stammzelltherapie sagt Dr. Kathleen Bell, Leiterin der Abteilung für Physikalische Medizin und Rehabilitation am University of Texas Southwestern Medical Center. Dieser Ansatz steckt noch in den Kinderschuhen, wird aber von einigen Kliniken als Möglichkeit zur Vorbeugung von COVID-19 und zur Behandlung von Long-COVID-Symptomen propagiert.

Die FDA hat darauf hingewiesen, dass es keine zugelassenen Produkte zur Behandlung von Langzeit-COVID gibt. Sie rät von ihrem Einsatz ab, es sei denn, die Anwendung findet im Rahmen einer klinischen Studie statt.

„Es gibt absolut keine Leitlinien oder Standards. Man weiß nicht, was man bekommt, und es gibt keine Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass diese Therapie überhaupt funktioniert“, sagt Bell. Außerdem ist sie unerschwinglich teuer – ein auf den Kaimaninseln ansässiges Unternehmen wirbt für seine Behandlung mit Preisen von bis zu 25.000 US-Dollar.

Long-COVID-Erkrankte reisten auch nach Zypern und in die Schweiz, um sich einer Blutwäsche zu unterziehen, bei der große Nadeln in die Venen eingeführt werden, um das Blut zu filtern und Lipide und Entzündungsproteine zu entfernen, berichtete das BMJ im Juli. Derartige Angebote gibt es auch in Deutschland. Einigen Patienten werden auch Blutverdünner verschrieben, um mikroskopisch kleine Blutgerinnsel zu entfernen, denen eine Rolle bei der Long-COVID-Symptomatik zugeschrieben wird. Aber auch diese Behandlung ist teuer: Viele Patienten zahlten 10.000 bis 15.000 US-Dollar aus eigener Tasche. Es gebe keine veröffentlichten Evidenzen dafür, dass sie funktioniere, so das BMJ.

Die Unterscheidung zwischen Ansätzen, die funktionieren könnten, und unbewiesenen Behauptungen könne sehr schwerfallen, da selbst viele hausärztlich Tätige mit den bisher gängigen Long-COVID-Behandlungen nicht vertraut seien, sagte Bell. Sie empfiehlt Betroffenen, sich folgende Fragen zu stellen:

  • Welche veröffentlichten Studienergebnisse gibt es, die diese Behauptungen stützen?

  • Wie lange sollte ich diese Behandlung durchführen, bevor ich eine Verbesserung erwarte?

  • Was sind die möglichen Nebenwirkungen der Therapie?

  • Wird die behandelnde Person, welche die Behandlung empfiehlt, mit dem aktuellen medizinischen Team zusammenarbeiten, um die Fortschritte zu überwachen?

„Wenn man auf diese Fragen keine Antworten hat, sollte man eher innehalten und einen Schritt zurücktreten.“

Nahrungsergänzungsmittel aussortieren

Dr. Yufang Lin, Fachärztin für integrative Medizin an der Cleveland Clinic, schreibt, dass viele Long-COVID-Betroffene mit einem ganzen Arsenal von Nahrungsergänzungsmitteln in ihrer Praxis erscheinen würden. 

„Es gibt keine Daten über ihre Wirksamkeit und in größeren Mengen können sie auch schädlich sein“, sagt sie.

Stattdessen arbeite sie eng mit dem Long-COVID-Zentrum der Cleveland Clinic zusammen, um jeden Erkrankten gründlich zu untersuchen, wozu oft auch das Screening auf bestimmte Ernährungsmängel gehöre.

Wir sehen immer wieder Long-COVID-Betroffene mit dem einen oder anderen Vitamin- und Mineralstoffmangel“, sagt Lin. „Wenn wir einen solchen Mangel beobachten, schlagen wir ein entsprechendes Präparat vor. Ansonsten arbeiten wir mit den Betroffenen zusammen, damit sie den Mangel über ihre Ernährung ausgleichen können.“

Dazu gehöre in der Regel eine pflanzliche, entzündungshemmende Kost wie die Mittelmeerdiät, die reich an Obst, Gemüse, Vollkornprodukten, Nüssen, fettem Fisch und gesunden Fetten wie Olivenöl und Avocados ist.

Andere Nahrungsergänzungsmittel, die manche Ärzte Personen mit Long-COVID empfehlen, sollen laut Bell gegen die Entzündungen wirken, obwohl es keine befriedigenden Evidenzen für derartige Effekte gibt. Eines der häufig verordneten Mittel ist das Antioxidans Coenzym Q10.

Im Vorabdruck einer kleinen Studie im August dieses Jahres in The Lancet geht es um 121 Patienten mit Long-COVID, die über 6 Wochen täglich 500 mg Coenzym Q10 einnahmen. Dabei wurden keinerlei Unterschiede im Verlauf gegenüber denjenigen festgestellt, die ein Placebo einnahmen. Allerdings handelt es sich um eine Preprint-Studie, bei der aktuell das Peer Review noch nicht abgeschlossen ist.

Ein anderes Beispiel sind Probiotika. Eine kleine Studie aus dem Jahr 2021, die in der Fachzeitschrift Infectious Diseases Diagnosis & Treatment veröffentlicht wurde, meldete Erfolge bei der 30-tägigen Einnahme einer Mischung aus 5 Lactobacillus-Probiotika zusammen mit dem Präbiotikum Inulin gegen Long-COVID-Symptome wie Husten und Müdigkeit. Es müssen jedoch auch hier erst noch umfangreichere Studien die positiven Effekte belegen.

Ein vielversprechenderes Mittel sind Omega-3-Fettsäuren. Wie viele andere Nahrungsergänzungsmittel könnten auch diese bei Long-COVID helfen, indem sie Entzündungen lindern, sagt Dr. Steven Flanagan, Rehabilitationsmediziner an der NYU Langone in New York, der mit Long-COVID-Betroffenen arbeitet. Forschende der Mount Sinai School of Medicine in New York untersuchen, ob ein Nahrungsergänzungsmittel nach dem postinfektiösen Verlust des Geschmacks- oder Geruchssinns helfen kann, doch liegen dazu noch keine Ergebnisse vor.

Lohnen sich Achtsamkeit, Meditation oder Entspannung? 

Zu den wenigen Alternativen mit nachweislich positiven Effekten gehören achtsamkeitsbasierte Therapien, vor allem Übungsformen wie Tai-Chi und Qi Gong, da sie ein sanftes Training mit Stressabbau verbinden.

„Beide Formen beinhalten die Meditation, die nicht nur dazu beiträgt, die mit Long-COVID verbundenen Ängste zu lindern, sondern es den Patienten auch ermöglicht, die Gedanken neu auszurichten, sodass die Symptome besser bewältigt werden können“, sagt Flanagan.

Eine 2022 in BMJ Open veröffentlichte Studie ergab, dass diese beiden Aktivitäten bei Personen, die sich von einer COVID-Infektion erholten, Entzündungsmarker reduzierten und die Kraft und Funktion der Atemmuskulatur verbesserten.

„Ich empfehle diese Methoden allen meinen Long-COVID-Betroffenen, da sie kostengünstig sind und sich meist leicht Kurse für zuhause oder in der näheren Umgebung finden lassen“, sagt er. „Selbst wenn sich dadurch die Long-COVID-Symptome selbst nicht bessern, haben sie doch andere positive Effekte, wie z.B. ein Mehr an Kraft und Flexibilität, welche die allgemeine Gesundheit und das Wohlbefinden fördern können.“ 

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus https://www.medscape.com  übersetzt und adaptiert.

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