„Meine Pillen ess‘ ich nicht“: Bis zu einem Drittel der Patienten nimmt Medikamente nicht wie verordnet

Richard Mark Kirkner

Interessenkonflikte

28. September 2022

Bis zu einem Drittel der Patienten nimmt Medikamente nicht wie vorgeschrieben ein. In einer Studie, die Daten von über 200.000 Patienten und 91.000 Einzelverordnungen umfasste, reichte der Anteil der Nichteinhaltung einer Medikamentenverordnung von 13,7% bei Patienten, die Antidepressiva einnahmen, bis zu 30,3% bei Patienten, denen Blutdrucksenker verordnet worden waren. Die Studienergebnisse wurden in Canadian Family Physician veröffentlicht [1].

 
Diese hohen Zahlen waren für mich und das Team ein echtes Aha-Erlebnis. Dr. Alexander G. Singer
 

„Diese hohen Zahlen waren für mich und das Team ein echtes Aha-Erlebnis“, sagte der Hauptautor der Studie Dr. Alexander G. Singer, Familienmediziner an der University of Manitoba im kanadischen Winnipeg, gegenüber Medscape. „Als Ärzte und Ärztinnen gehen wir automatisch davon aus, dass die Menschen die Anweisungen befolgen, die wir ihnen geben. Jetzt konnten wir belegen, dass sie das oft nicht tun, und zwar in einem Viertel bis zu einem Drittel aller Fälle.“

Keine Prädiktoren identifiziert

Um die primäre Non-Compliance zu untersuchen, ermittelten die Forschenden retrospektiv die Verordnungen von Hausärzten, die mit Apotheken-basierten Abgabedaten verknüpft waren. Dabei bezogen sie 91.660 Verordnungen, die zwischen dem 1. April 2012 und dem 31. Dezember 2014 ausgestellt worden waren, in ihre Analyse ein. Die Rezepte wurden an eine Kohorte von über 200.000 Patient*innen ausgegeben. Die Forschenden fragten dann dazu Daten des Manitoba Population Research Data Repository des Manitoba Center for Health Policy ab, um festzustellen, ob die Rezepte auch eingelöst worden waren.

Die Forschenden fanden dabei heraus, dass bei zumeist symptomatischen Erkrankungen wie Infektionen, Depressionen und Angstzuständen die Nichteinhaltung bei 13,7% bis 17,5% lag. Bei asymptomatischen Erkrankungen wie Bluthochdruck, Osteoporose und Diabetes hingegen lag die Non-Compliance bei 21,2% bis 30,3%.

Eine Ausnahme von diesem allgemeinen Trend bildeten Lipidsenker bei der asymptomatischen Hyperlipidämie und bei kardiovaskulären Erkrankungen. Die primäre Non-Compliance-Rate für diese Wirkstoffe lag bei 15,2%.

 
Wir stellen oft ein zweites oder drittes Rezept aus, ohne überhaupt überprüft zu haben, ob das erste auch eingelöst und das Medikament eingenommen wurde. Dr. Alexander G. Singer
 

Ein bemerkenswertes Ergebnis der Untersuchung bestand für Singer darin, dass keine demografischen oder klinischen Faktoren identifiziert werden konnten, die eine primäre Non-Compliance bei der Medikamenteneinnahme vorhersagten. „Nach diesen Daten gibt es scheinbar bislang keine Merkmale, die den Ärztinnen und Ärzten eine Prognose darüber erlaubt, welche Patienten ein neues Rezept wohl einlösen werden und welche nicht.“

Der Preis der Medikamente hat eher keinen Einfluss auf die Non-Compliance. Geringverdiener bei der Manitoba haben Anspruch auf das regionale Pharmacare-Programm, das die Kosten für verschreibungspflichtige Medikamente auf Basis einer Formelberechnung des jeweiligen Familieneinkommens übernimmt. „Unser Pharmacare-Programm hat wahrscheinlich die Spitzen eines Kosteneffekts abgeschwächt. In anderen Studien hat sich der Medikamentenpreis jedoch als Indikator erwiesen“, so Singer.

Bestimmte Patienten- und Anbietermerkmale könnten bei der Non-Compliance eine Rolle spielen, aber der von den Forschenden verwendete Datensatz aus administrativen und elektronischen medizinischen Aufzeichnungen berücksichtige nicht all diese Variablen, so Singer. „Es gibt keine von den Leistungserbringern gemeldeten Ergebnisse, und es kann sein, dass bestimmte Punkte aus der Patientenerfahrung nicht berücksichtigt wurden“, fügte er hinzu.

Das wichtigste Studienergebnis ist für Singer die Häufigkeit der Non-Compliance „und wie selten wir danach fragen. Wir gehen davon aus, dass die Erkrankten unsere Anweisungen befolgen. Und wir stellen dann oft ein zweites oder drittes Rezept aus, ohne überhaupt überprüft zu haben, ob das erste auch eingelöst und das Medikament eingenommen wurde.“

Ein wichtiger Beitrag

Der Präsident des College of Family Physicians of Canada und Hausarzt Dr. Brady Bouchard aus Saskatchewan wertete gegenüber Medscape die Studie aufgrund der großen Stichprobe als wichtigen Beitrag zur Literatur. „Wenn kein ganz großes Forschungssetting zur Verfügung steht, was selbst auch zu Verzerrungen führen kann, ist das Erfassen von Daten zur Rezeptausstellung vermutlich die praktikabelste Methode, um Aussagen zur Therapietreue treffen zu können“, sagte er.

 
Es liegt in der Natur des Menschen, dass eine verzerrte Erinnerung bei den meisten Patienten letztlich dazu führen wird, die Adhärenz zu überschätzen. Dr. Brady Bouchard
 

Die Studie bestätigt auch, wie groß das Thema der medikamentösen Non-Compliance ist und wie oft diese Frage übersehen wird. „Die Patientinnen und Patienten einfach nur nach ihrer Therapietreue zu fragen, ist wahrscheinlich zu ungenau“, sagte Bouchard. „Es liegt in der Natur des Menschen, dass eine verzerrte Erinnerung bei den meisten Patienten letztlich dazu führen wird, die Adhärenz zu überschätzen.“

 
Wenn mit einer neuen Medikation gegen eine asymptomatische Erkrankung wie Bluthochdruck begonnen wird, ist es sicherlich sehr hilfreich, die Gründe für die Behandlung sorgsam zu erläutern. Dr. Brady Bouchard
 

Die Studie unterstreiche, dass die Frage der Therapietreue bei asymptomatischen Erkrankungen eine echte Herausforderung sei. „Wenn mit einer neuen Medikation gegen eine asymptomatische Erkrankung wie Bluthochdruck begonnen wird, ist es sicherlich sehr hilfreich, die Gründe für die Behandlung sorgsam zu erläutern und insbesondere das Vermeiden von langfristigen Komplikationen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall zu betonen“, sagte Bouchard. „Visuelle Hilfsmittel zur Berechnung des kardiovaskulären Risikos können dabei hilfreich sein.“

Dieser Artikel wurde von Markus Vieten aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.

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