Litt „King Lear“ von Shakespeare an einer Lewy-Body-Demenz? Neue Hinweise aus der Wissenschaft

Dr. Thomas Kron

Interessenkonflikte

22. September 2022

Der britische Dramatiker, Dichter und Schauspieler William Shakespeare hatte bekanntlich eine gewisse Schwäche für die Mächtigen, für ihre Stärken, Grillen und insbesondere Schwächen. Der US-amerikanische Shakespeare-Forscher Stephen Greenblatt hat sogar ein Buch über Shakespeares Darstellung der Mächtigen und der Macht geschrieben. 

„Wie ist es zum Beispiel möglich, dass ein ganzes Land einem Tyrannen in die Hand fällt?“, fragt sich Greenblatt – mit Blick auf das Zeitgeschehen – zu Beginn seines Buches „Der Tyrann – Shakespeares Machtkunde für das 21. Jahrhundert“. 

Darin erläutert er dann anhand von Historien und Dramen des Dichters die Mechanismen der Entstehung von Macht und ihren Missbrauch. Besonders ausführlich widmet sich Greenblatt dem Bösewicht „Richard III.“.

Lehrreiches auch für Mediziner

Doch nicht allein Historiker, Politiker und Politologen können vielleicht von Shakespeare lernen. Auch Medizinern hat der Dramatiker Lehrreiches zu bieten. 

So attestiert der US-amerikanische Neurologe Prof. Dr. Brandy R. Matthews (Indiana Alzheimer Disease Center, Indianapolis) Shakespeare eine überaus genaue Darstellung medizinischer und psychiatrischer Krankheiten. Matthews: „Auf jeden Fall beschrieb Shakespeare, der keine medizinische Ausbildung hatte, verschiedene neurologische Störungen mit scharfem Blick. Er war sich nicht nur der Anzeichen und Symptome bewusst, sondern auch – was für einen Dramatiker vielleicht noch wichtiger ist – der weitreichenden Folgen für die Betroffenen und die sie betreuenden Personen, einschließlich der Ärzte.“

 
Auf jeden Fall beschrieb Shakespeare, der keine medizinische Ausbildung hatte, verschiedene neurologische Störungen mit scharfem Blick. Prof. Dr. Brandy R. Matthews
 

So tauchen dem Neurologen zufolge in Shakespeares Werken mehrere neurologische Erkrankungen auf, hier ein paar Beispiele:

  • Demenz-Erkrankungen in „Das Wintermärchen“ (Polixenes)

  • Epilepsie in „Othello“ und „Julius Caesar“

  • Parasomnie in „Macbeth“ (Lady Macbeth)

  • Parkinsonismus in „Troilus und Cressida“ (Achilles)

  • Prion-Erkankungen in „Macbeth“ (Macbeth)

  • Schlafapnoe in „Heinrich IV“ (Falstaff)

Ein Blick auf das Drama „King Lear“

Am bekanntesten dürfte die Darstellung des Alterns und des geistigen Verfalls der Hauptfigur des Dramas „King Lear“ sein. Hinweise auf seinen geistigen Verfall finden sich bereits im ersten Akt. So heißt es dort in der 4. Szene:

Lear
Sind Sie Unsre Tochter? 

Goneril

Ich wollt, Sie wollten Ihrn Verstand gebrauchen,
Den Sie, Ich weiß, reich haben; und die Launen
Ablegen, die Sie letzthin ganz abbringen
Von dem, was Sie selbst sind.

Lear
Kennt mich hier irgendwer? Das ist nicht Lear:
Geht Lear so? Spricht so. Wo sind seine Augen?
Entweder wird sein. Kopf schwach, sein Verstand
Sinkt stumpf in Schlaf…Ha!bin ich wach? Was, nein.
Wer hier denn kann mir sagen, wer ich bin?

Was man von Shakespeares „König Lear“ und seiner 400-jährigen Rezeptionsgeschichte über das Altern sowie den Umgang mit Demenz lernen kann, war Thema einer Keynote Lecture der Amerikanistin und Alternswissenschaftlerin Prof. Dr. Ulla Kriebernegg von der Universität Graz beim gemeinsamen Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie (DGG) und der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (12. bis 15. September 2022 in Frankfurt am Main).

Hirnsyndrom, Psychose, bipolare Störung, Lewy-Body-Demenz?

Die kognitiven und emotionalen Symptome, die Lear zeigt, waren bereits Thema mehrerer psychiatrischer Fallbesprechungen. Die gestellten Diagnosen waren vielfältig und reichten vom organischen Hirnsyndrom über Delirium und reaktive Psychose bis hin zur bipolaren Störung. Die diagnostischen Überlegungen haben sich jedoch mit dem aktuellen Verständnis neurodegenerativer Erkrankungen erweitert. Eine verbreitete Auffassung laut heute, dass die Symptome des alten Königs am ehesten den Symptomen einer Demenz mit Lewy-Körpern (DLB) entspricht. 

Zu denen, die überzeugt sind, dass Lear Symptome einer Lewy-Body-Demenz zeigt, zählt unter anderen der renommierte britische Theater-Schauspieler Simon Russel Beale, der sich nach eigenen Angaben in Vorbereitung auf die Rolle des alten Königs eingehend mit der Demenz-Erkrankung befasst hat und dabei zu dem Schluss gekommen ist, dass die Lewy-Körperchen-Demenz, bei der auch Halluzinationen und motorische Störungen auftreten, am besten zu Lears Wahnsinn zu passen scheint.

Hinweise auf eine Lewy-Body-Demenz

In der Tat seien bei Lear mehrere DLB-Kernmerkmale vorhanden, schreibt Matthews. Die Neigung zu kognitiven Fluktuationen werde zum Beispiel in den Reden im vierten Akt deutlich, wenn Lear zunächst unzusammenhängend rede (und dabei auch ein anderes Kernmerkmal beschreibe: visuelle Halluzinationen) und dann seine Situation dem Grafen von Gloster mit großer Klarheit schildere: 

Lear
Natur zählt mehr als Kunst in dieser Hinsicht. Da hast Du Handgeld. Der Kerl hantiert mit seinem Bogen wie ein Weinbergwächter: eine Elle spann mir den, Tuchmacherellenspanne. Schau, schau! eine Maus. Psst, psst! Dies Pitzelchen Käsekruste, damit krieg ich sie. Krieg ich, mein Kriegshandschuh, da, wenn’s mir wer nicht glaubt, und wenn’s eine Riese wär. Ran, ran die Rauhen Reiter. Oh, ritterlich, der Räuber-Bussard! Hussa! Hussa! Ins Schwarze: ftzzzzz! Geht der Bogen! Sag die Losung.

Zudem tauchen in dem Theaterstück Matthews zufolge mögliche Anzeichen von Parkinsonismus auf, etwa eine hypokinetische Dysarthrie. Und als Hinweis auf eine subtile feinmotorische Dysfunktion könne auch durch die Aufforderung des Königs „Bitte, mach diesen Knopf auf" (V. Akt, 3. Szene) interpretiert werden. Zusätzlich zu den oben beschriebenen visuellen Halluzinationen hatte Lear auch Wahnvorstellungen, wie die Vorstellung des Narren, ein edler Philosoph zu sein, im dritten Akt zeigt. Bei der anschließenden Begegnung mit Cordelia (IV. Akt) kann es laut Matthews zu einer wahnhaften Verwechslung gekommen sein: 

Lear
Du bist ein Geist; ich weiß; wo starbst denn du? …
Ich fürchte, ich bin nicht ganz bei Verstand.
Mir ist, ich sollt Sie kennen und den Herrn; 
Doch weiß nicht so recht…
Denn ich, so wahr ich Mensch bin, denk, die Dame,
Die wär mein Kind Cordelia.

Zu den weiteren unterstützenden Merkmalen des Stücks gehörten taktile Halluzinationen (z. B. „...meine eigenen Tränen/verbrühen wie geschmolzenes Blei"; IV. Akt, 7. Szene) und Depressionen, etwa: „Wenn du Gift für mich hast, werde ich es trinken" (IV. Akt, 7. Szene). 

Ob Shakespeare in seinem Königs-Drama tatsächlich eine Lewy-Body-Demenz beschreibt, ist und bleibt eine Spekulation. Auch Untersuchungen zu jener historischen Figur, die Shakespeare als Vorbild für Lear gedient haben soll, helfen nicht weiter. Bekannt ist nur, dass sich Shakespeare an Holinsheds Erzählung von Leir anlehnte, einem legendären König von Britannien, dessen Geschichte etwa im 8. Jahrhundert vor Christus spielte. Das Werk war eine Hauptquelle für viele literarische Autoren der Renaissance, darunter Marlowe und Shakespeare.

Lewy-Körperchen-Demenz: Symptome und Therapie

Fakt ist, dass die DLB eine häufige Demenz-Erkrankung ist. Sie sei die zweihäufigste degenerative Demenzform jenseits des 65. Lebensjahres, schreibt Dr. Robert Haußmann von der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der TU Dresden. Klinisch sei die Erkrankung durch ein demenzielles Syndrom, spontane extrapyramidale motorische Symptome, Halluzinationen und Fluktuationen der Aufmerksamkeit charakterisiert. 

Die postulierten klinischen Diagnosekriterien seien vor allem bei der Abgrenzung zu einer Alzheimer-Demenz sehr hilfreich. Allerdings sei insbesondere bei Synukleinopathien wie der Parkinson- und der Lewy-Körperchen- Demenz die klinische Diagnose aufgrund großer klinischer und pathologischer Überlappungen mit anderen neuro- degenerativen Demenz-Erkrankungen anspruchsvoll.

Nicht allein die Diagnose, auch die Therapie ist bestenfalls mit dem Euphemismus „Herausforderung“ zu bezeichnen. Bei Shakespeare kann ein Arzt Lears Tochter Cordelia nur Trost spenden:

Seien Sie beruhigt, Madam; das große Toben, 
Sehn Sie, ist tot in ihm: und dennoch ist gefährlich,
Die Lücken der verlornen Zeit ihm auszufüllen. 
Bitten Sie ihn zu ruhen; stören Sie ihn nicht
Mehr auf, bis er gefasster ist.

In der modernen Medizin kann zwar mehr als Trost gespendet werden. Aber besonders zahlreich sind die therapeutischen Optionen auch heute noch nicht. So erklären zum Beispiel die Autoren der S3-Leitlinie zu Demenz-Erkrankungen: „Für die antidementive Behandlung der Lewy-Körperchen-Demenz existiert keine zugelassene oder ausreichend belegte Medikation. Es gibt Hinweise für eine Wirksamkeit von Rivastigmin auf Verhaltenssymptome und von Donepezil auf Kognition, den klinischen Gesamteindruck und Verhaltenssymptome. Es gibt ferner Hinweise für die Wirksamkeit von Memantin auf den klinischen Gesamteindruck und Verhaltenssymptome, nicht aber auf Kognition. Entsprechende Behandlungsversuche können erwogen werden…“

Der Artikel ist im Original erschienen auf Univadis.de.

 

Kommentar

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