Paris – Luftverschmutzung ist seit fast 2 Jahrzehnten als Risikofaktor für Lungenkrebs anerkannt. Jetzt haben Forscher aus dem Vereinigten Königreich einen potenziellen Mechanismus identifiziert, durch den Luftschadstoffe bereits im normalen Gewebe vorhandene Treibermutationen triggern könnten, die dazu führen, dass Lungenzellen kanzerös werden.
Die Studie liefere schlüssige Evidenz, die erklären könnte, warum viele Nichtraucher dennoch an Lungenkrebs erkrankten, sagte Studienleiter Dr. Charles Swanton vom Francis Crick Institute in London, Vereinigtes Königreich. „Was diese Arbeit zeigt, ist, dass Luftverschmutzung auf direktem Weg Lungenkrebs verursacht, aber auf eine etwas unerwartete Weise“, erklärte er bei einer Pressekonferenz vor seiner Präsentation der Studiendaten im Rahmen eines Präsidentensymposiums beim Kongress der European Society of Medical Oncology (ESMO) 2022 in Paris [1].
Forscher liefern Pathomechanismus – und Behandlungsmöglichkeit gleich dazu
Bedeutsam ist, dass er und sein Team auch eine Methode vorschlagen, um den schädlichen Effekt der Luftverschmutzung zu blockieren – mithilfe von monoklonalen Antikörpern, die gegen das Zytokin Interleukin-1β gerichtet sind.
Lungenkarzinome bei Menschen, die nie geraucht haben, weisen eine geringe Mutationslast auf. Bei Nichtrauchern seien es etwa 5- bis 10-mal weniger Mutationen als bei aktuellen oder früheren Rauchern, so Swanton.
„Das andere Problem bei Menschen, die nie geraucht haben, ist, dass sie keine eindeutige umweltbedingte karzinogene Signatur zeigen. Es ist ein bisschen wie die Quadratur des Kreises: Wir wissen, dass Luftverschmutzung mit Lungenkrebs zusammenhängt – ob die Assoziation kausal ist, wissen wir nicht – aber wir sehen auch, dass wir keine DNA-Mutationen aufgrund von Umweltkarzinogenen haben“, sagte er bei seiner Präsentation.
Traditionelles Modell der Karzinogenese funktioniert oft nicht
Traditionell werde davon ausgegangen, dass Karzinogene Krebs verursachen, indem sie Mutationen in der DNA verursachen, die zur klonalen Vermehrung und zum Tumorwachstum führen. „Aber dieses Modell hat einige große Schwachstellen“, so Swanton.
Normale Haut enthalte zum Beispiel „einen Flickenteppich aus mutierten Klonen“, aber Hautkrebs sei dennoch nicht häufig, sagte er. Und in Tierexperimenten verursachten 17 von 20 Umweltkarzinogenen keine Mutationen in der DNA. Er merkte auch an, dass eine häufige Treibermutation beim Melanom, BRAF V600E, nicht durch UV-Licht induziert werde.
Normales Lungengewebe enthält bereits Treibermutationen
„Jedwede Erklärung für Lungenkrebs bei Menschen, die nie geraucht haben, müsste 3 Kriterien erfüllen: Erstens, es müsste eine Erklärung für geographische Unterschiede geben, zweitens, es müsste einen Beweis für Kausalität geben, und drittens, es müsste sich erklären lassen, wie Krebs ausgelöst werden kann, ohne direkt DNA-Mutationen zu verursachen“, sagte Swanton.
Normales Lungengewebe bei Nichtrauchern könne bereits Mutationen enthalten, wobei die Zahl der Mutationen wahrscheinlich mit dem Alter zunehme. Genau genommen habe sich bei Lungenbiopsien gezeigt, dass mehr als die Hälfte des untersuchten normalen Gewebes Treibermutationen in KRAS und/oder EGFR aufweise, so Swanton.
„In Labormodellen haben wir beobachtet, dass diese Mutationen für sich genommen nur sehr schwach krebsverursachend wirken. Doch wenn die Lungenzellen mit diesen Mutationen Luftverschmutzung ausgesetzt wurden, wurden sie häufiger und schneller kanzerös als ohne diese Exposition“, sagte er und ergänzte: „Das deutet darauf hin, dass Luftverschmutzung Krebsentstehung in Zellen fördert, die Treibermutationen aufweisen. Der nächste Schritt muss sein, herauszufinden, weshalb einige Lungenzellen mit Mutationen kanzerös werden, wenn sie Luftschadstoffen ausgesetzt werden, während dies bei anderen nicht der Fall ist.“
Daten von fast 450.000 Menschen analysiert
Die Forschungsgruppe um Swanton untersuchte Daten von 447.932 Teilnehmern der UK Biobank. Dabei zeigte sich, dass eine zunehmende Exposition gegenüber Feinstaubpartikeln der Größe 2,5 µm (PM2,5) signifikant mit 7 Krebsarten assoziiert war, darunter auch Lungenkrebs. Sie fanden außerdem eine Assoziation zwischen dem Ausmaß der Exposition gegenüber PM2,5 und der Inzidenz von Lungenkarzinomen mit EGFR-Mutation im Vereinigten Königreich, Südkorea und Taiwan.
Im Mausmodell zeigten Swanton und seine Kollegen, dass die Exposition von Lungenzellen mit somatischen EGFR- und KRAS-Mutationen gegenüber PM2,5 zur Rekrutierung von Makrophagen führt. Diese setzen wiederum Interleukin-1β frei, das die Transdifferenzierung EGFR-mutierter Zellen zu Krebsstammzellen und letztlich die Tumorentstehung bewirkt.
Tumorentstehung könnte mit Antikörpern verhindert werden
Die durch die Luftverschmutzung angeregte Tumorentstehung könnte aber durch Antikörper verhindert werden, die gegen Interleukin-1β gerichtet sind, sagte Swanton. Er verwies auf eine 2017 in The Lancet erschienene Studie. Diese zeigte, dass eine Behandlung mit dem Interleukin-1β -Antikörper Canakinumab sowohl das Auftreten von Lungenkarzinomen als auch lungenkrebsbedingte Todesfälle reduzieren konnte.
Die Onkologin Dr. Suzette Delaloge vom Institut Goustave Roussy in Villejuif, Frankreich, die zur Diskussion der Studienergebnisse eingeladen war, lobte Swantons Ausführungen als „sehr elegante Darlegung einer alternativen, nicht mutagenen Hypothese für die Krebsentstehung durch Feinstaub“.
Noch viele offene Fragen
Fragen, die jetzt noch zu beantworten seien, umfassten unter anderem, ob PM2,5 möglicherweise ebenfalls mutagen wirke und ob der karzinogene Pathway überall im Gewebe verbreitet sei. Auch welche Expositionsdauer für einen karzinogenen Effekt erforderlich sei und weshalb und vor allem wie Menschen ohne Krebserkrankung spezifische Treibermutationen wie EGFR entwickelten, müsse noch geklärt werden.
„Diese Forschungsarbeit ist faszinierend und aufregend“, sagte Dr. Tony Mok, Spezialist für Lungenkrebs an der Chinese University of Hong Kong, der selbst nicht an der Studie beteiligt war. Möglicherweise werde es künftig möglich sein, mit Lungen-Scans nach präkanzerösen Läsionen zu fahnden, um dann zu versuchen, diese mit Arzneimitteln wie Interleukin-1β-Inhibitoren ungeschehen zu machen.
„Allerdings wissen noch nicht, ob es möglich sein wird, anhand hochsensitiver EGFR-Profile aus Blut- und anderen Proben diejenigen Nichtraucher zu identifizieren, die eine Prädisposition für Lungenkrebs aufweisen und von einem Lungen-Scan profitieren würden. Deshalb sind solche Überlegungen noch sehr spekulativ“, betonte er in einer Stellungnahme.
Dieser Artikel wurde von Nadine Eckert aus www.medscape.com übersetzt und adaptiert.
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Diesen Artikel so zitieren: Luftverschmutzung kann auf direktem Weg Lungenkrebs verursachen – aber auf eine etwas unerwartete Weise - Medscape - 22. Sep 2022.
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