Der niedergelassene Anästhesist Dr. Tim Deegener aus Hannover sieht harten Zeiten entgegen. Denn über den Daumen gepeilt muss er für seine Praxis mit 300% Steigerung der Energiekosten rechnen und womöglich mit 50% Erlöseinbuße, wie er Medscape berichtet. Kein Wunder, dass er den Aufruf der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen (KVN) unterstützt.
Mark Barjenbruch, Vorstandsvorsitzender der KVN, hat auf die Energiefresser unter den Praxen hingewiesen und auf ihre derzeit komplizierte Lage: „Die hohen Energiekosten und die Inflation treffen die Ärztinnen und Ärzte in ihren Unternehmungen hart. Ohne finanzielle Unterstützung besteht die Gefahr, dass sie Untersuchungen und Behandlungen zukünftig nicht mehr durchführen können.“
Betroffen sind vor allem Radiologen, Nuklearmediziner und Strahlentherapeuten sowie Dialysepraxen, Operationszentren und Ärzte für Laboratoriumsmedizin. Deegener betreibt in Hannover ein OP-Zentrum. 3 OP-Säle vermietet er an Chirurgen und übernimmt die Anästhesie ihrer Patientinnen und Patienten. „Unsere OP-Säle laufen 10 Stunden am Tag“, sagt er.
Hoch technisierte Praxen haben enormen Energiehunger
Der Energiehunger seiner Praxis ist enorm. Im vergangenen Jahr fielen rund 30.000 Euro allein für Strom an. „Geräte wie die Reinluftanlage oder die Sterilisatoren benötigen große Mengen an Energie“, sagt Deegener, „und hier gibt es auch nichts zu sparen, wir brauchen eben saubere Luft und saubere Geräte.“ Die ganze Erhöhung sei noch nicht bei ihm angekommen. Bisher seien nur höhere Abschlagszahlungen zu leisten gewesen, sie betrugen plus 50% gegenüber 2021.
Dabei drücken den Praxischef nicht nur die Energiekosten. Auch die Preise für Medizinprodukte sind in die Höhe geschossen, berichtet er. OP-Handschuhe kosten inzwischen 300% mehr als im vergangenen Jahr, berichtet Deegener. „Einmalprodukte sind im Schnitt um 20% teurer geworden, Medizinprodukte insgesamt um 8%. Das liegt noch nicht einmal an den Herstellungskosten, sondern am Herstellungsort – Asien. Die Produkte müssen teuer nach Europa transportiert werden. Da ist ein Container mitunter teurer geworden als sein Inhalt.“ Hinzu kommen die gestiegenen Gehälter für medizinische Fachangestellte.
Auch der Braunschweiger Radiologe Dr. Hans-Kristian Klocke aus Hannover wird im kommenden Jahr mit hohen Energiepreisen zu kämpfen haben. Er betreibt mit einem Partner eine überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft für Radiologie und Neuroradiologie mit 2 Praxisstandorten und einer weiteren Zweigstelle. Klocke und sein Partner beschäftigen in ihrem Unternehmen namens „Neuradia“ insgesamt rund 60 Angestellte.
„Wir sind von der Energiepreiserhöhung noch nicht selbst betroffen“, sagt Klocke. „Aber wir haben schon mal ein Angebot für das kommende Jahr eingeholt.“ Und das hat es in sich: Derzeit bezahlt die Praxis noch 19,167 Cent pro Kilowattstunde Strom. Im kommenden Jahr sollen es 59,917 Cent werden. „Das bedeutet eine Steigerung der Energiekosten von 172.500 auf 539.250 Euro– netto pro Jahr“, so Klocke. Das Geld könne man nicht mehr reinholen, sagt er.
Einsparmöglichkeiten sieht der Radiologe ebenfalls nicht. Die steigenden Stromkosten könnten die Praxisbetreiber nicht einfach auf die Patienten abwälzen, weil die Honorarsätze festgelegt sind. Die Versorgung der GKV-Patientinnen und -Patienten gelinge nur noch durch die Querfinanzierung aus den Erlösen durch die Privatpatienten und aus der Kooperation mit dem Wolfenbütteler Krankenhaus, dessen gesamte Radiologie von Neuradia übernommen wird.
Kaum Spielraum für Einsparungen
Einen Kernspintomografen kann ein Radiologe auch nicht einfach abschalten, um Strom zu sparen. Die Kühlung des Geräts muss dauerhaft aufrechterhalten bleiben. Wenn sie ausfällt, bricht das Magnetfeld zusammen. Und es kostet bis zu 40.000 Euro, um es wieder auf die Beine zu bringen. Abschalten könnte unwirtschaftlicher sein, als die Preissteigerungen auszuhalten.
Anästhesist Deegener könnte sich vorstellen, sich mit den Praxisausgaben nach der Decke zu strecken. Aber Umbauten, um die Praxis energieeffizienter zu machen, kann er sich nicht leisten. „Solche Investitionen würden sich nicht lohnen“, sagt Deegeer.
Bleibt der Weg nach Berlin. KV-Chef Barjenbruch hat angemahnt, die betroffenen Praxen nicht zu vergessen. „Die hochtechnisierten Praxen brauchen einen Zuschlag für den hohen Energieverbrauch“, forderte der KVN-Vorstandsvorsitzende.
Wie schon beim Corona-Bonus für das Pflegepersonal sollen die ambulant tätigen Ärztinnen und Ärzte wieder übergangen werden, schimpft die KVN. „Es ist für uns vollkommen inakzeptabel, dass die Politik über eine Unterstützung bei den Energiekosten für Krankenhäuser nachdenkt und die Aufwände der Praxen missachtet“, so Barjenbruch.
Das Bundesgesundheitsministerium verweist auf die Selbstverwaltung. Sie sei für die Vergütung ärztlicher Leistungen zuständig.
„Darüber hinaus ist darauf hinzuweisen, dass die Bundesregierung fortlaufend möglichen Handlungsbedarf zum Schutz von Einrichtungen des Gesundheitswesens, darunter auch Arztpraxen, in der Energiekrise prüft“, teilt das BMG auf Anfrage von Medscape mit. „Wichtig ist, dass diese Einrichtungen auch von den von der Bundesregierung im Koalitionsausschuss am 3. September 2022 beschlossenen Maßnahmen sowie eines Rettungsschirms für kleine und mittlere Unternehmen profitieren. Hierfür wird sich das BMG innerhalb der Bundesregierung einsetzen.“
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Diesen Artikel so zitieren: Energiekrise erreicht Arztpraxen: Nicht nur Radiologen oder Dialysepraxen sehen schwarz. Werden sie Hilfen bekommen? - Medscape - 21. Sep 2022.
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