Lieferengpässe bei fast 300 Arzneimitteln – Skandal oder normal? Dabei gäbe es eine schnelle Lösung

Christian Beneker

Interessenkonflikte

14. September 2022

Aktuell klagen Apotheken und Krankenkassen über Lieferengpässe bei derzeit rund 300 Arzneimitteln. Paracetamol- und Ibuprofen-Säfte für Kinder sind knapp, auch Blutdrucksenker fehlen, Asthmasprays oder Elektrolytlösungen gegen Durchfall. Wirkstoffe wie Tamoxifen, das bei Brustkrebspatientinnen angewandt wird, fehlen ebenfalls. Darauf hat die kaufmännische Krankenkasse (KKH) jetzt hingewiesen.

Betroffen sind häufig Generika. Aktuell mehren sich Forderungen nach einer „nationalen Reserve“ für Arzneimittel, sowie nach einer Meldepflicht für knapp gewordene Arzneimittel. Dabei könnte eine entfristete Verordnung das Problem zunächst lösen.

Das Problem ist kein nationales. Laut EU-Parlament haben sich die Lieferengpässe von Medikamenten zwischen den Jahren 2000 und 2018 verzwanzigfacht. „Bei mehr als der Hälfte der nicht lieferbaren Medikamente handelt es sich um Mittel zur Krebstherapie, Antiinfektiva (Impfstoffe) und Arzneimittel zur Behandlung von Erkrankungen des Nervensystems (Epilepsie, Parkinson)“, so das EU-Parlament.

In Deutschland führt das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) eine Liste der Arzneimittel mit Lieferengpässen, die sich an den Meldungen der Hersteller orientiert und an den Daten aus der Arzneimittel- und Antragsdatenbank (AmAnDa) des Bundes. Danach zählt das Institut zurzeit genau 301 Arzneimittel mit Lieferproblemen (Stand: 13. September 2022).

Die Größe des Problems ist unklar

Die Liste ist allerdings nicht vollständig. Denn die Industrie muss nicht melden, sondern hat sich lediglich selbst verpflichtet, es zu tun. „Außerdem sind nur verschreibungspflichtige Medikamente gelistet, die als besonders versorgungsrelevant gelten“, erklärt Christian Splett, stellvertretender Pressesprecher der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA). „Und die Liste ist nicht gewichtet. Sie kann Arzneimittel umfassen, die 3-mal im Jahr oder 3 Millionen-mal im Jahr verordnet werden.“ Kurz: Die Liste sei nur „ein Indiz für das Problem“, so Splett.

 
Die BfArM-Liste ist nicht gewichtet. Sie kann Arzneimittel umfassen, die 3-mal im Jahr oder 3 Millionen-mal im Jahr verordnet werden. Christian Splett
 

Umstritten und vielfältig sind die Gründe für die Lieferengpässe. Die BfArM-Liste verzeichnet unter „Art des Grundes“ unspezifisch entweder „Produktionsproblem“ oder „Sonstige“. So könnten zum Beispiel Herstellungsumstellungen der Grund sein oder Qualitätsprobleme, die die Freigabe der Arzneimittel verhindern, oder Logistikprobleme, wenn die Wirkstoffe im Fernen Osten hergestellt wurden, erläutert das BfArM.

Das Risiko eines Versorgungsengpasses entstehe oft, wenn für einen Wirkstoff oder ein Zwischenprodukt nur wenige Hersteller vorhanden sind. Fällt einer aus, kann er kaum ersetzt werden. Sven Seißelberg, Apotheker bei der KKH, vermutet: „Im Fall der Ibuprofen- und Paracetamol-haltigen Fiebersäfte könnte eine Ursache die erhöhte Nachfrage aufgrund der Grippe- und Erkältungswelle während der Sommermonate sowie der anhaltenden Corona-Pandemie sein.“

Streitfall Rabattverträge

Der Verband der Generikahersteller (progenerika) macht den Marktdruck für die Lieferengpässe verantwortlich. So machten 2021 die Nachfolgepräparate der ehemals patentgeschützten Arzneimitteln 79,1% aller verordneten Arzneimittel aus, aber der Generikaanteil an den realen Kosten betrug nur 7,2%, erklärt progenerika. Das Hauptsache-billig-Prinzip lasse auch die Generika-Hersteller ihre Produktion vermehrt nach Asien auslagern – mit den bekannten Folgen. „Wie lange geht das gut?“, fragt der Verband.

„Lieferengpässe entstehen nicht durch Rabattverträge“, konstatiert dagegen der GKV-Spitzenverband. Eine Studie des Verbandes aus dem Jahr 2020 zeige: „In Deutschland wurden auch Lieferengpässe bei Arzneimitteln verzeichnet, die keinem Rabattvertrag unterlagen, während einem Rabattvertrag unterliegende Medikamente des gleichen Wirkstoffs lieferbar waren.“ Der Kassenverband fordert deshalb mehr Transparenz und will die Hersteller verpflichten, Lieferengpässe zu melden und im Zweifel den Export von Arzneimitteln, die knapp sind, zu verbieten.

Klaus Reinhardt, Präsident der Bundesärztekammer, schlug bereits 2019 vor, eine Reihe der wichtigsten Arzneimittel in einer „nationalen Reserve zu“ zu bevorraten.

Anders die ABDA: Sind bestimmte Arzneimittel nicht lieferbar, stünden in den Apotheken manchmal alternative Arzneimittel anderer Hersteller zur Verfügung, erklärt Pressesprecher Splett. „Die Apotheken können beim Einlösen des Rezeptes prüfen, ob ein anderes Präparat, das verfügbar ist, für einen Austausch in Frage kommt“, so Splett.

 
Die Apotheken können beim Einlösen des Rezeptes prüfen, ob ein anderes Präparat, das verfügbar ist, für einen Austausch in Frage kommt. Christian Splett
 

Allerdings funktioniert diese Lösung nur so lange, wie die „SARS-CoV-2-Arzneimittelversorgungsverordnung“ gilt. Denn sie gibt den Apotheken mehr Spielraum, wirkstoffgleiche Austauschmedikamente auszugeben. Die aktuelle Verordnung läuft noch bis November dieses Jahres und wurde vom Bundestag kürzlich bis zum 7. April 2023 verlängert.

„Unsere Forderung ist es, sie komplett zu entfristen, damit die Apotheker weiterhin die patientenfreundliche Möglichkeit haben, die Austauschmedikamente abzugeben“, sagt Splett. „Dies wäre ein wichtiger kurzfristiger Schritt, bevor man sich langfristig bemüht, die Wirkstoffherstellung wieder nach Europa zu verlegen.“

Das Bundesgesundheitsministerium (BMG) sieht das anders. Eine Verlängerung der Verordnung sei „nicht vorgesehen“, teilt das BMG auf Anfrage von Medscape mit. Die Frage nach einer Begründung ließ das Ministerium unbeantwortet.

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Kommentar

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